1.3 (feh1p): Zusammensetzung des Kabinetts und Charakteristik der Minister

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[XXI] Zusammensetzung des Kabinetts und Charakteristik der Minister

Die personelle Zusammensetzung des Kabinetts Fehrenbach war in mehrfacher Hinsicht sehr heterogen; in ihr spiegelte sich die ganze Vielfalt der politischen Anschauungen und der sozialen Herkunft der Minister vom linken Flügel des Zentrums bis zum rechten Flügel der DVP wider. Angehörige der christlichen Gewerkschaftsbewegung, die schwierigen, ärmlichen Verhältnissen entstammten (Giesberts), waren in dieser Regierung ebenso vertreten wie die Repräsentanten großindustrieller Interessenverbände, deren Familien zu den führenden gesellschaftlichen Schichten gehörten (v. Raumer). Dazu kamen als eine weitere Gruppe die Fachminister, die parteilos waren und von denen man offenbar eine interessenunabhängige, allein sachbezogene Führung ihrer Geschäfte erwartete. Die Frage war, ob es Fehrenbach gelingen würde, aus diesen so verschiedenen Gruppen ein arbeitsfähiges homogenes Kabinett mit einheitlichem Willen zu schaffen66 .

66

Die folgenden Charakteristiken des Reichskanzlers und der Reichsminister sind nicht als vollständige Biographien angelegt. Es sind vielmehr nur biographische Skizzen, die auf Grund ihres Verhaltens und ihrer Tätigkeit im engen Rahmen des Kabinetts erarbeitet wurden.

Der Reichskanzler Konstantin Fehrenbach war ursprünglich Rechtsanwalt gewesen und konnte bei seinem Amtsantritt bereits auf eine lange parlamentarische Laufbahn zurückblicken. Seit 1884 war er in seiner Vaterstadt Freiburg/Br. und später auch in der Zweiten Badischen Ständekammer politisch tätig, bis ihm 1903 der Sprung in den Reichstag gelang. Hier zeichnete er sich bald aus und wurde zunächst zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses und dann, im Juni 1918, zum Präsidenten des Reichstages gewählt. Das gleiche Amt bekleidete er auch in der Nationalversammlung, deren Sitzungen er mit Würde, Geschick und fester Hand leitete67.

67

Zur politisch-parlamentarischen Laufbahn Fehrenbachs siehe Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 210.

Fehrenbach war bei der Übernahme der Kanzlerschaft 68 Jahre alt. Er hatte sich nach diesem Amte nicht gedrängt, sondern betrachtete es vielmehr als „Bürde“68 und als „Opfer“, das er erst brachte, als sich kein anderer im Zentrum für diese Aufgabe fand69. Er hatte sich durch seine Amtsführung in der Nationalversammlung Respekt und menschliches Vertrauen bei allen Parteien erworben und schien in seinem stetigen Bemühen um Mäßigung und Vermittlung der gegebene Mann zu sein, um eine Minderheitskoalition von dieser Zusammensetzung zu führen. Seine Stärke lag mehr im rhetorisch Repräsentativen als im Politischen, und es war von Anfang an deutlich, daß er als Kanzler weniger eine Führungs- als vielmehr eine Mittlerfunktion übernehmen würde. Sein oberstes Ziel war der Ausgleich der Gegensätze und der politische Kompromiß, den er selbst unter Zurücksetzung der eigenen Ansichten[XXII] immer wieder anstrebte70. Menschliche Wärme und Vertrauen gingen von ihm aus, und allen Beobachtern machte er den Eindruck eines absolut redlichen väterlich wirkenden Mannes71.

68

Fehrenbach auf der Fraktionssitzung des Zentrums am 16.6.1920, Nachlaß ten Hompel , Nr. 2.

69

ten Hompel am 12. 7. in einer Rede vor den Handels- und Industriebeiräten des Zentrums, Nachlaß ten Hompel , Nr. 45.

70

So Arnold Brecht, Aus nächster Nähe, Lebenserinnerungen 1884–1927, Stuttgart 1966, S. 320.

71

Siehe dazu A. Brecht, Aus nächster Nähe, S. 320; Otto Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, S. 376; D’Abernon, Memoiren, Bd. 1, S. 96; siehe dazu auch den Nachruf des Reichspräsidenten Löbe auf Fehrenbach vom 26.3.1926, RT-Bd. 390, S. 6750 .

Andererseits waren es aber gerade diese Eigenschaften, die zugleich die besonderen Schwächen des Kanzlers Fehrenbach ausmachten. Seine Kompromißbereitschaft und sein Streben nach Ausgleich waren nur die andere Seite fehlender Führungsqualitäten und eines mangelnden festen politischen Willens. Seine Fähigkeit zur Vermittlung reichte zwar aus, die individuell persönlichen Differenzen zwischen den Mitgliedern des Kabinetts auszuräumen72, sie versagte jedoch bei prinzipiellen politischen Gegensätzen, die, aus den Parteien kommend, im Kabinett aufeinanderprallten. Von ihm ging keine politische Initiative aus, und nur zu bereitwillig unterwarf er sich dem Gang der Ereignisse, wie er sich ihm selbst stellte. Hinzu traten gewisse altersbedingte Schwächen wie mangelnde Konzentrationsfähigkeit und schnelle Ermüdung, die die Zusammenarbeit mit ihm im Kabinett zeitweilig recht mühevoll machten73. Als Gesamteindruck bot Fehrenbach das Bild eines liebenswürdigen alten Mannes, der aber weder nach eigener Ansicht noch nach dem Urteil anderer dem Amte des Reichskanzlers gewachsen war.

72

Vgl. dazu den Bericht Geßlers über den Zusammenstoß zwischen Staatssekretär Albert und einem Reichsminister. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 371.

73

Vgl. dazu die folgenden Schilderungen, die Koch von der Kabinettsarbeit mit Fehrenbach gibt: „Fehrenbach will nicht auf Details eingehen und redet mit seinem eindringlichen oder aufdringlichen Pathos über Finanznot, Autorität der Regierung und die Notlage“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 359). „Fehrenbach sitzt vor, ohne sich zu rühren, geht auch mal eine halbe Stunde hinaus. Keine Konzentrierung und Reden über alles und nichts. Die heutige Sitzung ist der beste Beweis dafür, daß das Kabinett zu vielköpfig ist“ (Nachlaß Koch-Weser 27, Bl. 369).

„Sitzungen des interfraktionellen Ausschusses verlaufen unter völliger Passivität Fehrenbachs. Es geht und geht nicht“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 391).

„Fehrenbach ist ganz ohne Festigkeit“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 465).

Reichsjustizminister und Vizekanzler im Kabinett Fehrenbach wurde der der DVP angehörende Richard Heinze. Heinze, ein gebürtiger Oldenburger, kam aus dem sächsischen Justizdienst und war 1918 sächsischer Justizminister gewesen. Seine politische Laufbahn hatte ihn von 1907–1911 als Abgeordneten der Nationalliberalen Partei in den Reichstag geführt, und von 1915–1916 war er Mitglied des sächsischen Landtages gewesen74. Nach 1918 hatte er zu den Mitbegründern der DVP gehört, deren Fraktionsvorsitzender er in der Nationalversammlung gewesen war.

74

Zur parlamentarischen Laufbahn Heinzes siehe Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 232–233.

Heinzes Haltung gegenüber dem neuen Staat war zwiespältig. Einerseits war er Monarchist mit ausgesprochenen konservativen Zügen, der sich gegen die Annahme der neuen Reichsverfassung ausgesprochen hatte, andererseits aber hatte er eben diese Verfassung im März 1920 gegen den Umsturz von[XXIII] rechts verteidigt. Auf der gleichen Linie lag es, daß Heinze während der anfänglichen Auseinandersetzungen innerhalb der DVP über die Frage der Mitarbeit oder der Obstruktion gegenüber dem neuen Staat stets das Prinzip der sachlichen Mitarbeit vertreten hatte, in deren Rahmen man der Regierung kritisch, aber verantwortungsbewußt gegenübertreten wollte75. Man stößt hier auf eine tiefer liegende Geisteshaltung, die über jede ideologische Ausrichtung hinaus die Anschauungen Heinzes bestimmte. Geprägt von langjährigem Beamtentum war Heinze der Vertreter einer grundsätzlichen Loyalität gegenüber dem Staat und staatlichen Entscheidungen, selbst wenn er diesem Staat weltanschaulich ablehnend gegenüberstand76. Fern lagen ihm politische Winkelzüge und jenes sprunghafte Lavieren, mit dem die DVP zu dieser Zeit teilweise politische Zugeständnisse zu erzwingen suchte. So bezeichnete Trimborn die Gruppe um Heinze und von Kardorff im Rahmen der Verhandlungen zur Regierungsbildung als „ehrlich und ernst zu nehmen“ und setzte sie in Gegensatz zu dem industriellen Flügel um Stinnes, der als zu extrem angesehen wurde77.

75

W. Hartenstein, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei, 1918–1920, Düsseldorf 1962, S. 83 f. und S. 269 f.

76

So schrieb der volksparteiliche Abgeordnete Hugo am 8.6.1919 an Stresemann, Heinze sei ein „Gouvernementaler“, was diesen Sachverhalt etwa kennzeichnet. Zitiert bei Hartenstein, S. 271.

Geßler schreibt über Heinze: „Hochgebildet, ein Muster gesellschaftlicher und politischer Form, verkörperte er beste Traditionen des alten Nationalliberalismus in der neuen Zeit.“ Geßler, Reichswehrpolitik, S. 393.

Koch notiert über ihn: „Heinze ist ein anständiger, wohlmeinender Mann, aber langsam und ohne politischen Blick. Dabei unentschlossen.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 329).

77

Offenbar auf Betreiben des industriellen Flügels um Stinnes hatte die DVP kurz zuvor die fast fertige Ministerliste zurückgewiesen und eine andere Besetzung der Wirtschaftsressorts verlangt. Trimborn machte daraufhin auf einer Fraktionssitzung des Zentrums am 23. 6. diese Äußerungen (Nachlaß ten Hompel  Nr. 2). Siehe dazu auch oben S. XIX.

Es wurde bald offenbar, daß diese Haltung Heinzes in der Partei und der Fraktion keine Zustimmung finden konnte. Ihm wurde mangelnde Förderung der Parteiinteressen und fehlendes taktisches Geschick vorgeworfen, und innerhalb seiner eigenen Partei sah er sich zunehmend isoliert78. Starke Kräfte innerhalb der Partei verfolgten einen anderen Kurs, der auf eine schärfere politische Profilierung abzielte, den Heinze aber nicht zu billigen vermochte. An der Person Heinzes wurden die Spannungen deutlich, die die DVP in dieser frühen Phase zwischen Opposition und Mitarbeit in sich selbst auszutragen hatte.

78

Koch berichtet eine Äußerung Stresemanns aus dem Mai 1921: „Heinze, der bei allen Fragen sage, das müsse der zuständige Ressortminister wissen, sei furchtbar unten durch bei der Partei. Er sei ein guter Justizminister, aber kein Vizekanzler.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 489).

Außenminister im Kabinett Fehrenbach wurde der parteilose Walter Simons. Simons gehörte zu den sogenannten „Fachleuten“ im Kabinett, die insbesondere von der DDP und der DVP gefordert worden waren. Seine Ernennung stand schon frühzeitig fest und wurde von keiner Seite mißbilligt. Simons, 1861 geboren, hatte die übliche Justizlaufbahn bis zum Oberlandesgerichtsrat durchlaufen und war dann in den Dienst des Reiches getreten. Hier[XXIV] war er zunächst im Reichsjustizamt tätig gewesen, um dann 1911 in das Auswärtige Amt überzuwechseln. Simons war als ein verhandlungsgewandter, erfahrener Jurist bekannt, der das Reich auf mehreren internationalen Konferenzen an führender Stelle vertreten hatte. Zuletzt war er Generalkommissar der deutschen Friedensdelegation bei der Pariser Friedenskonferenz gewesen und hatte hier die Bedingungen der Alliierten mit all ihrer Härte und ihren Zwängen kennengelernt. Da er die Annahme dieser Bedingungen nicht verantworten zu können glaubte, schied er im Juni 1919 aus dem Reichsdienst aus und wurde geschäftsführendes Präsidialmitglied des RdI. Von dieser Stelle aus erfolgte seine Berufung zum Reichsaußenminister.

Simons sah die Außenpolitik wesentlich als ein Rechtsverfahren an79, das durch Verträge und Vereinbarungen geregelt war. Hier war für ihn eine feste Grundlage gegeben, auf der die internationalen Beziehungen nach dem Kriege wiederaufgebaut werden konnten. Bestimmend für die deutsche Außenpolitik war in erster Linie der Versailler Vertrag, der auf bestimmten Gebieten zwar als Rahmenabkommen bestand, dessen Einzelheiten aber noch festgelegt werden mußten. Für diese Aufgabe war Simons der gegebene Mann. Auf den großen internationalen Konferenzen der Jahre 1920 und 1921 vertrat er die deutsche Sache maßvoll, aber nachdrücklich und suchte die zukünftige Friedensregelung aus dem Bereich der Emotion in den Bereich der praktikablen Lösung zu überführen. Daß er dabei scheiterte, hatte seinen Grund zum einen darin, daß die Handelnden unter dem Druck der Öffentlichkeit ihrer Länder standen, zum anderen, daß die Alliierten für den Friedensvertrag rechtsetzende, rechtinterpretierende und rechtempfangende Instanz zugleich waren. Persönlich war Simons von großer Ausstrahlungskraft und bestach vor allem durch seine Sachbezogenheit, seine Klarheit und seine Eindringlichkeit80. Bei den Alliierten erfuhr er Anerkennung, und mehrfach gelang es ihm, festgefahrene Verhandlungen durch die persönliche Begegnung mit den alliierten Staatsmännern wieder in Gang zu setzen81. Innerhalb des Kabinetts war er persönlich und fachlich einer der stärksten Minister, und auch bei den Parteien besaß er große Autorität. Wenn der Begriff eines „Fachministers“ überhaupt eine Berechtigung hatte, für Simons traf er zu.

79

So Geßler, Reichswehrpolitik, S. 395.

80

Siehe dazu die Schilderung, die Brecht von Simons gibt. Brecht, Aus nächster Nähe, S. 201 f.

Koch schreibt über Simons: „Alles ist fast zu schlicht und wirkt mitunter fast naiv. Aber es wirkt so männlich, daß man ihn nicht giftig kommen kann.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 261). Und an anderer Stelle: „Simons hat Autorität.“ (Nachlaß Koch-Weser 27, Bl. 263).

81

Siehe dazu Dok. Nr. 24, Anm. 2; 25, Anm. 3; 205.

Andererseits verstellte ihm seine strenge Rechtlichkeit zuweilen den Blick für das politisch Taktische und dessen Wirkung auf die Öffentlichkeit. So waren seine Ausführungen vom 26. Juli 1920 im Reichstag über die Hoheitsverhältnisse im besetzten Gebiet völkerrechtlich zwar richtig, innenpolitisch jedoch höchst ungeschickt82. Auch die Äußerungen, die er am 31. Januar 1921 im Reichstag über das Pariser Ultimatum machte, entsprachen zwar korrekt[XXV] dem Stand der Dinge, ließen aber jedes Gefühl für die notwendige politische Atmosphäre vermissen83. Simons Stärke war die Sachverständigenkonferenz, in der Fachleute streng sachbezogene Argumente austauschten, nicht aber die öffentliche Versammlung, in der auf politische Stimmungen Rücksicht genommen werden mußte.

82

Siehe dazu Dok. Nr. 33, bes. Anm. 4 u. 5.

83

Siehe Dok. Nr. 165, Anm. 8. Koch notiert dazu in seinen „Aufzeichnungen“: „Simons redet. Klar wie gewöhnlich. Er sieht offenbar wieder, wie er mir einmal sagte, nicht den Reichstag, sondern das Ausland vor sich.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 433–435).

Das Reichsinnenministerium wurde wiederum von dem der DDP angehörenden Erich Koch übernommen, der dieses Amt schon in den Kabinetten Bauer und Müller I innegehabt hatte84. Koch kam aus der Kommunalpolitik und war nacheinander Bürgermeister von Delmenhorst, Stadtdirektor von Bremerhaven und von 1913–1919 Oberbürgermeister von Kassel gewesen. Hier hatte er gründliche Verwaltungserfahrungen sammeln können, die ihm in seinem Ressort sehr zustatten kamen. Politisch gehörte er dem rechten Flügel seiner Partei an und war ein scharfer Gegner der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften85.

84

Koch legte sich später den Namenszusatz „Weser“ zu. Zur Charakteristik siehe auch den Band „Das Kabinett Müller I“ dieser Edition, Einleitung, S. XV f.

85

Zur beruflichen und politischen Laufbahn Kochs siehe Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 260–261.

Koch hatte sich in seiner bisherigen Ministertätigkeit als ein Mann von weitausgreifender Aktivität erwiesen, für den die Zuständigkeiten des Reiches innerhalb seines Ressorts, wie sie durch die Verfassung festgelegt waren, zu eng begrenzt schienen. Zwar waren nach der Verfassung wichtige Zuständigkeiten der Grundsatzgesetzgebung dem Reiche zugesprochen worden, doch lag deren Ausgestaltung wesentlich bei den Ländern. Hinzu kam, daß Reich und Länder über den Bereich der Grundsatzgesetzgebung verschiedener Ansicht waren und die Länder jeglicher Ausdehnung der Reichskompetenzen scharfen Widerstand entgegensetzten (Reichsschulgesetz, Reichskriminalpolizeigesetz). Hier vertrat Koch nachdrücklich die Interessen des Reiches, für das er einen weitgesteckten Gesetzgebungsbereich sichern wollte. In Verhandlungen zeigte sich Koch betriebsam und wendig und galt politisch als ausgesprochen begabt. Er hatte ein Gefühl für politische Stimmungen in der Öffentlichkeit und verstand es, diese Stimmungen zu artikulieren. Dazu gehörte es auch, daß er die Selbstdarstellung und Formgebung des Reiches für notwendig hielt und durch die Ernennung eines Reichskunstwartes (E. Redslob) zu fördern suchte. Innerhalb des Kabinetts hatte Koch eine starke Stellung, und manche Entscheidung ging auf seine Initiative zurück.

Schwierigkeiten bereitete Koch vor allem seine impulsive und teilweise überhebliche Art, mit der er sich in der eigenen Partei, im Kabinett, bei den Parteien des Reichstages und vor allem im Reichsrat viele Gegner schuf86. Schnell und entschlußfreudig wie er sich gab, waren schwerer angelegte, zögernde Naturen das bevorzugte Ziel seiner Kritik und seines Spottes87. Im[XXVI] Reichsrat stieß er vor allem mit den Vertretern Preußens zusammen, die sich durch sein Verhalten in Haushalts- und Beamtenfragen brüskiert fühlten und die dahinter einen prinzipiellen Widerstand gegen Preußen vermuteten88. Insgesamt war Koch eine farbige Persönlichkeit: sehr anziehend in seiner Lebhaftigkeit reizte er in seiner Überheblichkeit und Selbstbezogenheit aber auch zum Widerspruch.

86

Siehe dazu die Charakterisierungen bei Geßler, Reichswehrpolitik, S. 388 und Brecht, Aus nächster Nähe, S. 322.

87

So sind etwa Kochs „Aufzeichnungen“ voll von solch spöttischen Bemerkungen, vor allem gegenüber dem Reichsfinanzminister Wirth (Nachlaß Koch-Weser  27).

88

Siehe dazu Dok. Nr. 26.

Otto Geßler, der Reichswehrminister, gehörte ebenfalls der DDP an und hatte dieses Ressort bereits im Kabinett Müller I innegehabt. 1875 in Ludwigsburg geboren hatte er zunächst die Justizlaufbahn eingeschlagen und war dann in die Kommunalpolitik übergewechselt. Seit 1911 in Regensburg und dann in Nürnberg hatte er den Posten eines Oberbürgermeisters bekleidet und war 1919 in die Nationalversammlung gewählt worden. Hier tat sich Geßler bald hervor. Unter Bauer war er mit der Führung des Reichsministeriums für Wiederaufbau betraut worden, und nach dem Kapp-Putsch hatte er den undankbaren Posten des Reichswehrministers übernommen. Er wurde nun in seinem Amt bestätigt89.

89

Zur beruflichen und politischen Laufbahn Geßlers s. Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 219–220.

Geßler war eine liebenswürdige weiche Natur, die in ihrer ganz unsoldatischen Art an der Spitze des Reichswehrministeriums zunächst überraschte90. Er hatte sein Amt im März 1920 zu einem schwierigen Zeitpunkt übernommen, als es galt, nach dem Kapp-Putsch die Disziplin im Heer wiederherzustellen und die Einheitlichkeit und Schlagkraft der Truppe zu sichern. Bereits bei seinem Amtsantritt glaubte Geßler erkannt zu haben, daß der politische Einfluß im militärischen Bereich gegen das Offizierkorps nicht durchzusetzen war und daß ein Bestehen darauf zu fortwährenden Krisen innerhalb des Heeres geführt hätte. Da er jedoch andererseits den raschen und unauffälligen Aufbau der Reichswehr für unbedingt notwendig hielt und dieser ohne das Offizierkorps nicht möglich schien, sah er seine Aufgabe in einer Mittler- und Ausgleichsfunktion zwischen der Reichswehr und der politischen Öffentlichkeit91. Er enthielt sich jedes Eingriffs in den militärischen Bereich und überließ Planung und Aufbau der Truppe allein dem Chef der Heeresleitung, General von Seeckt. Geßler seinerseits schirmte die Reichswehr im Parlament ab und schuf ihr den seiner Ansicht nach notwendigen freien Raum für das Militärische. Dabei war Geßler Mittler- und Ausgleichsfunktion durchaus ungleichgewichtig. Wohl vertrat er nachdrücklich die Belange der Reichswehr gegenüber der Öffentlichkeit, nicht aber in dem gleichen Maße die Belange der Öffentlichkeit gegenüber der Reichswehr. Hinzu kam, daß der neue Reichswehrminister – erst kurzfristig im Amt – sich offenbar gegenüber der beherrschenden Persönlichkeit des Chefs der Heeresleitung nicht immer durchzusetzen vermochte92. Geßler[XXVII] hat die bedenklichen politischen und persönlichen Folgen seiner Haltung sehr wohl erkannt, doch glaubte er sie nun des Zieles willen in Kauf nehmen zu sollen93. Damit begann jene Entwicklung, die im weiteren Verlauf Reichswehr und Republik immer weiter auseinanderführte und für die Geßler durch seinen bewußten Verzicht auf die Durchsetzung des politischen Prinzips auch im militärischen Bereich mitverantwortlich zu machen war.

90

Siehe dazu Johannes Fischart (i. e. Erich Dombrowski), Neue Köpfe, Das alte und das neue System, 4. Folge, Berlin 1925, S. 95. Vgl. auch Brecht, Aus nächster Nähe, S. 320 f.

91

Siehe dazu Geßler, Reichswehrpolitik, S. 136–137.

92

Vgl. dazu die Schilderung, die Geßler von seiner Reise nach Spa gibt. Hier wird das Verhältnis Geßlers zu v. Seeckt besonders augenfällig. Offenbar wollte v. Seeckt seinem Vorgesetzten, der zudem parlamentarisch verantwortlich war, nicht seine Auffassung über die von ihm gewünschte Reichswehrstärke und die in Spa einzuschlagende Taktik mitteilen, und Geßler ließ dies ungerügt durchgehen. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 158–159.

93

Geßler, Reichswehrpolitik, S. 137.

Das Reichsfinanzministerium wurde, wie bereits im Kabinett Müller I, wiederum von dem Zentrumspolitiker Joseph Wirth übernommen. Wirth, 1879 in Freiburg/B. geboren, war nach einem Studium der Naturwissenschaften und der Mathematik in den höheren Schuldienst gegangen. Politisch war er zunächst in der Kommunalpolitik aktiv gewesen und war dann in den Landtag und 1914 auch in den Reichstag gewählt worden. Seit 1919 war er Mitglied der badischen Landesversammlung und der Nationalversammlung und rechnete hier zum linken Flügel des Zentrums94. Qualifiziert hatte er sich für das ihm übertragene Ressort durch seine Tätigkeit als badischer Finanzminister seit 1918 und durch die erfolgreiche Führung des Finanzministeriums im Kabinett Müller I seit März 192095.

94

Zur Laufbahn Wirths siehe Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 356.

95

Siehe dazu den Band „Das Kabinett Müller I“ dieser Edition.

Wirth zeigte sich den ungeheuren Schwierigkeiten seines Amtes voll gewachsen. Hier galt es zunächst, die finanzielle Basis für die Kriegsfolgelasten zu schaffen, die bei der noch ausstehenden endgültigen Reparationslösung gleichsam ins Dunkle hinein geplant werden mußte. Hinzu kam die beginnende Inflation, die jeder geordneten Finanzwirtschaft zunehmend den Boden zu entziehen drohte. Mit Nüchternheit, Energie und Durchsetzungsvermögen suchte Wirth dieser Schwierigkeiten Herr zu werden und durch Erschließung neuer Steuern und Ausgabensenkung einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen. Sehr bald erkannte er dabei, daß die ihm als Minister verfassungsrechtlich zustehenden Befugnisse nicht ausreichten, um sich gegen die Ausgabenflut und den Ressortegoismus durchzusetzen. Wirth brachte diese Dinge vor das Kabinett, und es gelang ihm im weiteren Verlauf, bestimmte Verfahrensregeln für die Haushaltsführung festzulegen und die institutionelle Stellung des Reichsfinanzministers gegenüber den anderen Ministern zu stärken96. Wirth scheiterte dagegen mit seinem Versuch, einer weiteren Ausdehnung der wuchernden Reichsverwaltung durch die Ernennung eines besonderen Reichskommissars Einhalt zu gebieten. Die Gründe dafür lagen einmal in der fachlichen Unzulänglichkeit des Reichskommissars selbst, zum anderen aber auch an dem hinhaltenden Widerstand des Reichsinnenministers, der die Reichsverwaltung allein als zu seinem Ressort gehörig betrachtete97.

96

Siehe Dok. Nr. 71; 73, P. 2; 85, P. 1.

97

Siehe Dok. Nr. 85, Anm. 3; 141, P. 2; 163, P. 3.

Politisch stand Wirth auf dem linken Flügel seiner Partei und neigte mehr der SPD als der DVP zu. Offenkundig wurde dies, als er eine ausgesprochen[XXVIII] „politische“ Steuer wie das Reichsnotopfer durchzusetzen suchte und damit Beifall von der SPD, schärfsten Widerstand aber von seiten der DVP erfuhr98. Innerhalb der Koalition kam es deswegen mehrfach zu Auseinandersetzungen, die Wirth nur durch wiederholte Rücktrittsdrohungen für sich zu entscheiden vermochte. Wirths Gegner innerhalb der DVP waren vor allem auf dem industriellen Flügel der Partei um Stinnes zu finden. Bereits bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung hatten die volksparteilichen Unterhändler gegen die Ernennung Wirths zum Reichsfinanzminister hartnäckig Widerstand geleistet und hatten sich erst einer ultimativen Rücktrittsdrohung Fehrenbachs gebeugt99. Auch im weiteren Verlauf gabe diese Kreise der DVP ihren Widerstand gegen Wirth nicht auf und führten in der von ihnen kontrollierten Presse mehrfach scharfe Angriffe gegen ihn100. Wirth gelang es jedoch stets, diese Angriffe abzuwehren und das Kabinett auf die Durchführung seines finanzpolitischen Programms festzulegen.

98

Siehe Dok. Nr. 103; 125, Anm. 2; 130, P. 9.

99

Siehe dazu oben S. XIX und ferner Dok. Nr. 2.

100

Vgl. dazu Dok. Nr. 141, P. 1.

Dabei war Wirth sicherlich keine bequeme Persönlichkeit. Er war spröde, fast eigenbrötlerisch und zeigte sich in den politischen Auseinandersetzungen im Kabinett und im Parlament wenig wendig. Gegensätze zu anderen Kabinettsmitgliedern wurden von ihm offen und schroff ausgetragen, so daß er sich teilweise im Kabinett isoliert sah. Dennoch scheint er im Zentrum genügend Rückhalt gehabt zu haben, um ihm seine Stellung im Kabinett immer wieder zu sichern.

Der neue Wirtschaftsminister Ernst Scholz gehörte der DVP an. Er war 1874 in Wiesbaden geboren und hatte nach einem juristischen Studium die kommunale Verwaltungslaufbahn eingeschlagen. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Positionen in Frankfurt, seiner Heimatstadt Wiesbaden und in Düsseldorf war er 1912 Oberbürgermeister von Kassel und im Jahr darauf Oberbürgermeister von Charlottenburg geworden. Scholz war ein angesehener Verwaltungsfachmann101, doch politisch bisher noch nicht hervorgetreten.

101

Geßler, Reichswehrpolitik, S. 388.

Scholz’ Ernennung zum Reichswirtschaftsminister war eine reine Verlegenheitslösung. Sie war erst erfolgt, nachdem Wiedfeldt und Becker dieses Ressort ausgeschlagen hatten und zwei andere volksparteiliche Kandidaten nun ihrerseits vom Zentrum zurückgewiesen worden waren102. Scholz war zunächst nicht einmal Mitglied des Reichstages, sondern konnte erst bei den Nachwahlen in Ostpreußen im Februar 1921 ein Mandat gewinnen. Auch ein „Fachmann“ in dem von der DVP verlangten Sinne war er nicht, da seine Tätigkeit bisher vorwiegend auf dem Gebiet der Kommunalpolitik und des Genossenschaftswesens gelegen hatte. Seine Stellung innerhalb der DVP war daher sehr schwierig, da er weder politisch noch beruflich den notwendigen Rückhalt in der Partei besaß. Scholz vermied aus diesem Grunde jeden Konflikt mit der Partei und schloß sich in allen Fragen jeweils eng an den herrschenden Parteistandpunkt[XXIX] an103. Gegen Ende des Kabinetts Fehrenbach verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Scholz und der Partei. Er war seines Ministeramts überdrüssig, und auch die Partei rückte von ihm ab104. In der Endphase des Kabinetts spielte Scholz keine Rolle mehr.

102

Siehe Dok. Nr. 2.

103

Besonders deutlich wurde diese Abhängigkeit an seinem Verhalten während der Londoner Konferenz im März 1921. Hier kam es zu der seltsamen Situation, daß Scholz vor der Abstimmung im Kabinett über die deutschen Gegenvorschläge die Kabinettssitzung verließ und damit der Verantwortung einer persönlichen Stimmabgabe entging, daß er Simons dann aber nach der Konferenz eben wegen dieser Vorschläge heftig angriff, da sich inzwischen herausgestellt hatte, daß diese Vorschläge auch innerhalb der DVP, vor allem auf dem großindustriellen Flügel um Stinnes, als unhaltbar angesehen wurden. Eine Krise wurde nur dadurch vermieden, daß auch die Alliierten diese Vorschläge ablehnten und daß damit die Londoner Konferenz scheiterte. Siehe dazu Dok. Nr. 181, bes. Anm. 11 und Dok. Nr. 201, bes. Anm. 23.

104

Koch schreibt dazu in seinen „Aufzeichnungen“: „Der arme Kerl [Scholz] ist seiner Ministerschaft schon herzlich müde und seine Freunde sind es seiner auch.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 323–325).

Das Reichsschatzministerium übernahm der ebenfalls der DVP angehörende Hans v. Raumer. v. Raumer war 1870 in Dessau geboren und hatte Rechts- und Staatswissenschaften studiert. Nach seinem Studium war er zunächst Landrat in Wittlage gewesen, war aber bereits 1911 aus dem Staatsdienst ausgeschieden und hatte die Leitung einer Landbaugesellschaft übernommen. Gleichzeitig war er führend in der Elektrizitätswirtschaft tätig und 1915 als Direktor des Bundes der Elektrizitätsversorgungsunternehmen Deutschlands nach Berlin berufen worden. Während des Krieges war er zugleich Kriegsreferent im Reichsschatzamt gewesen und hatte dann im März 1918 die Stellung des geschäftsführenden Vorstandsmitgliedes des Zentralverbandes der deutschen elektrotechnischen Industrie übernommen. v. Raumer war Anreger und Mitbegründer der Zentralarbeitsgemeinschaft und Mitglied ihres Zentralvorstandes. Mit ihm hielt die deutsche Großindustrie ihren Einzug ins Kabinett105.

105

Zur Laufbahn v. Raumers s. Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 304.

Die Berufung v. Raumers zum Reichsschatzminister war zunächst umstritten. Vor allem im Zentrum hatte man Bedenken gegen ihn, da er führend im Kampf gegen das Elektrizitätsgesetz tätig gewesen war106, die Durchführung eben dieses Gesetzes aber gerade zum Aufgabenbereich des Reichsschatzministeriums gehörte. Man fürchtete im Zentrum offensichtlich einen Interessenkonflikt zwischen dem Industriesyndikus und dem Minister v. Raumer, der – einmal offenbar geworden – die politische Stellung der Koalition schwer belastet hätte. v. Raumer wies die Bedenken jedoch zurück und sagte eine loyale Erfüllung des Elektrizitätsgesetzes zu107.

106

„Gesetz, betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft“, RGBl. 1920, S. 19  f.

107

Siehe dazu die Verhandlungen mit v. Raumer am 24. Juni 1920, Dok. Nr. 2.

v. Raumer galt auf allen Seiten als ein außerordentlich kluger und energischer Mann, der die Gebiete der Wirtschaft und der Politik gleichermaßen beherrschte108. Von Geburt an etwas verwachsen hatte er sich – wohl als[XXX] Schutzhaltung – eine kurze sarkastische Art angewöhnt, die ihm vor allem innerhalb seiner Partei manche Schwierigkeiten bereitete109. Innenpolitisch vertrat er eine Politik der Stärke und des energischen Durchgreifens und gab der Überzeugung Ausdruck, daß dies im Volk breite Zustimmung finden würde110. Im Kabinett vertrat er geschickt den Standpunkt der Wirtschaft und verstand es insbesondere, die endgültige Entscheidung über die Sozialisierung des Kohlenbergbaues immer wieder hinauszuschieben111. Unter den DVP-Vertretern im Kabinett war v. Raumer sicher die stärkste Persönlichkeit.

108

Koch notierte über v. Raumer: „Sitzung des neuen Kabinetts, kluge Köpfe darunter, Raumer gefällt mir nach seinen geistigen Gaben.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 155).

In einer ungezeichneten, undatierten Aufzeichnung der Reichskanzlei über v. Raumer hieß es u. a.: „Soll sehr intelligent sein, dafür aber etwas verwachsen.“ (R 43 I /1304 , Bl. 76).

Siehe auch Geßler, Reichswehrpolitik, S. 393.

109

Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 489.

110

Siehe Dok. Nr. 67.

111

Siehe dazu Dok. Nr. 65; 67 und bes. Dok. Nr. 82.

Das Reichsernährungsministerium, das erst im März 1920 aus dem Wirtschaftsressort herausgelöst worden war, übernahm wiederum der dem Zentrum angehörende Andreas Hermes. Hermes war 1878 in Köln geboren und hatte Landwirtschaft studiert. Nach dem Studium hatte er einige Jahre praktisch in der Landwirtschaft gearbeitet und war dann Mitarbeiter verschiedener nationaler und internationaler Landwirtschaftsorganisationen geworden. Der Krieg hatte dieser Tätigkeit ein Ende gesetzt. Während der Kriegszeit war Hermes zunächst Leiter einer Zeitungsstelle im stellvertretenden Generalstab gewesen und hatte später die Organisation des Ölfruchtanbaues in Bulgarien und der Dobrudscha übernommen. Nach seiner Rückkehr war er in die land- und forstwirtschaftliche Abteilung des Reichswirtschaftsministeriums eingetreten, die dann im März 1920 in ein selbständiges Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft umgebildet worden war. Zum Leiter dieses neuen Ministeriums hatte man Andreas Hermes berufen112.

112

Zur Laufbahn Hermes’ siehe F. Reichardt, Andreas Hermes, Neuwied 1953. Siehe dazu auch den Band „Das Kabinett Müller I“ dieser Edition, S. XXI.

Hermes stand vor der außerordentlich schwierigen Aufgabe, die seit dem Kriege herrschende Zwangsbewirtschaftung der Nahrungsmittel abzubauen und die Leistungsfähigkeit der deutschen Ernährungswirtschaft wiederherzustellen. Möglich war dies nach seiner Auffassung nur durch eine schrittweise Liberalisierung, in deren Rahmen der Landwirtschaft der freie Anbau bei freier Preisgestaltung ermöglicht wurde. Zugleich durfte jedoch das inländische Preisniveau nicht so ansteigen, daß der Bezug der allgemeinen Nahrungsmittel für breite Bevölkerungsschichten unerschwinglich wurde. Hermes beabsichtigte daher nicht eine generelle Aufhebung der Zwangswirtschaft, sondern wollte sie nur dort zugestehen, wo eine ausreichende Versorgung bei niedriger Preisgestaltung möglich war. Es stellte sich bald heraus, daß bei dieser Politik Preiserhöhungen und Versorgungsengpässe nicht auszuschalten waren113, doch glaubte Hermes, dies im Rahmen der erwarteten Gesamtentspannung des Nahrungsmittelmarktes in Kauf nehmen zu können114. Nachdrücklich wies er immer wieder auf die zentrale Bedeutung der Ernährungswirtschaft hin und betonte, daß der Wiederaufstieg der Wirtschaft und die Lösung der Reparationsfrage[XXXI] ohne die ausreichende Ernährung der Arbeiterschaft nicht möglich sei115. Diese Politik der Liberalisierung fand bei allen bürgerlichen Parteien breite Zustimmung, stieß jedoch bei den sozialistischen Parteien vor allem wegen der unausbleiblichen Preissteigerungen auf heftige Kritik. Scharfe Auseinandersetzungen führte Hermes mit dem Preußischen Landwirtschaftsminister Braun über die Freigabe der Düngemittelwirtschaft, die jedoch bald auf das Gebiet des rein Persönlichen abglitten116. In einzelnen Fällen warfen ihm seine Kritiker sogar Unkorrektheiten im Amte vor, und zweimal war seine Geschäftsführung Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses117. Bei den Beratungen im Kabinett hielt er sich zurück und äußerte sich nur dann, wenn sein Ministerium unmittelbar betroffen war. Fachlich war Hermes für sein Ressort der gegebene Mann, innerhalb der Gesamtpolitik des Kabinetts spielte er aber nur eine untergeordnete Rolle.

113

So vor allem bei Kartoffeln; siehe dazu Dok. Nr. 75.

114

Siehe dazu die große Rede von Hermes am 2.7.1920 im Reichstag, RT-Bd. 344, S. 120  f.

115

Siehe dazu Dok. Nr. 4; 53; 177.

116

Siehe dazu Dok. Nr. 130, P. 8.

117

Siehe Dok. Nr. 88, P. 6; 130, P. 8.

Neuer Reichsarbeitsminister wurde der dem Zentrum angehörende Heinrich Brauns. Brauns, 1868 in Köln geboren, hatte Theologie studiert und war dann in die Seelsorge gegangen. Von 1890–1900 war er zunächst Kaplan in Krefeld und dann Vikar in Essen-Borbeck gewesen. Im Jahre 1900 wurde Brauns wissenschaftlicher Mitarbeiter der Zentralstelle des Volksvereins für das katholische Deutschland in Mönchen-Gladbach und übernahm hier die Organisationsabteilung und die volkswirtschaftlichen Kurse des Volksvereins. Im Rahmen dieser Tätigkeit stand er mitten in der sozialpolitischen Auseinandersetzung der Vorkriegszeit. In dem sogenannten „Gewerkschaftsstreit“ zwischen den christlichen Gewerkschaften und dem Verband katholischer Arbeitervereine ergriff er die Partei der Gewerkschaften und vertrat deren Standpunkt publizistisch an führender Stelle118. 1919 wurde er für das Zentrum in die Nationalversammlung gewählt und gehörte hier bald zu den ersten seiner Fraktion. Vor der Ernennung von Brauns zum Reichsarbeitsminister waren noch einige Widerstände des deutschen Episkopats zu überwinden, die vor allem aus prinzipiellen Bedenken der kirchlichen Stellen gegen die Vereinbarkeit von Ministeramt und priesterlicher Existenz herrührten. Nach einem Telegrammwechsel zwischen Fehrenbach und dem kirchlichen Vorgesetzten von Brauns gab Adolf Kardinal Bertram als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz schließlich seine Zustimmung, und am 27. 6. wurde Brauns zum Reichsarbeitsminister ernannt119.

118

Siehe dazu E. Deuerlein, Heinrich Brauns – Schattenriß eines Sozialpolitikers, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. v. F. A. Hermes und Th. Schieder, Berlin 1967, bes. S. 75 ff.

119

Der Telegrammwechsel zwischen der Reichskanzlei und dem Erzbischof von Köln und dem Fürstbischof von Breslau findet sich in R 43 I /1304 , Bl. 106, 116–119 und 130–132. Siehe auch R. Morsey, Dt. Zentrumspartei, S. 333 f.

Als Brauns das ihm übertragene Amt übernahm, war der Rahmen der künftigen Sozialpolitik bereits abgesteckt. Die Zielvorstellung war klar, und es galt nun, die Ausarbeitung der einzelnen Vorlagen voranzutreiben und sie in der Öffentlichkeit und in den parlamentarischen Körperschaften durchzusetzen.[XXXII] Dieser Aufgabe widmete sich Brauns mit aller Energie. Während des ersten Jahres seiner Ministertätigkeit legte er die Grundlagen zu so wichtigen sozialpolitischen Materien wie der Schlichtungsordnung120, dem Arbeitsnachweisgesetz121 und der Arbeitslosenversicherung122, die teils als Denkschriften, teils bereits als fertige Entwürfe dem Kabinett zugeleitet wurden. Grundsätzlich vertrat Brauns in all diesen Vorlagen das Prinzip des kollektiven Arbeitsrechts, das eine gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer und ihrer Verbände vorsah. Sozialpolitik in diesem Sinne war für Brauns ein Mittel, um die Klassengegensätze auszugleichen und die unvermeidlichen wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen bestimmten rechtlichen Regeln zu unterwerfen123. Sehr bald stellte sich jedoch heraus, daß neben der Schaffung neuer Grundlagen in der Sozialpolitik auch dringende sozialpolitische Tagesfragen zu lösen waren. Hier ging es um die unmittelbaren Kriegsfolgen und die Wiedereingliederung der entlassenen Heeresangehörigen in den Arbeitsprozeß. Einen großen Raum nahm daher in den Beratungen des Kabinetts die Frage der Arbeitsbeschaffung ein, die sich jedoch angesichts der schlechten Währungs- und Finanzlage des Reiches als sehr schwierig erwies124.

120

Siehe Dok. Nr. 187, P. 2; 209, P. 2.

121

Siehe Dok. Nr. 236, P. 2.

122

Siehe Dok. Nr. 173, P. 10.

123

L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, S. 254.

124

Siehe dazu Dok. Nr. 80; 84; 164.

In all diesen Fragen entfaltete Brauns eine weitausgreifende Aktivität. Er erkannte bald, daß Sozialpolitik nicht in einem abgeschlossenen Bereich geführt werden konnte, sondern daß sie integrierter Bestandteil der Gesamtpolitik war. Er sah seine Aufgabe daher nicht in der Zurückhaltung gegenüber ressortfremden Fragen, sondern in der ausführlichen und nachdrücklichen Stellungnahme auch auf anderen Gebieten125. Geschickt vertrat er seine sozialpolitischen Vorstellungen bei den Parteien und Verbänden und fand damit sowohl bei der SPD wie auch bei der DVP Zustimmung. Seine bis 1928 durchgehende Ministertätigkeit in den verschiedensten Kabinetten waren ein Zeichen für seine Qualifikation und seinen Rang als Sozialpolitiker.

125

Deuerlein, Brauns - Schattenriß eines Sozialpolitikers, S. 46.

Der dem Zentrum angehörende Johann Giesberts übernahm wieder das Reichspostministerium, das er bereits unter Scheidemann, Bauer und Müller innegehabt hatte. Giesberts, 1865 im Kreis Geldern geboren, hatte sich nach einer schweren Jugend den christlichen Gewerkschaften angeschlossen und war Redakteur der „Westdeutschen Arbeiterzeitung“ geworden. Anfang 1918 hatte Reichskanzler Graf Hertling ihn in den sozialpolitischen Beirat des Reichswirtschaftsamtes berufen, und im November 1918 war er Unterstaatssekretär im Reichsarbeitsamt geworden. Giesberts entfaltete schon früh eine breite politische Aktivität. Von 1892–1918 war er Stadtverordneter in Mönchen-Gladbach und war 1905 als erster Arbeitnehmervertreter seiner Partei in den Reichstag eingezogen. Von 1919–1920 hatte er auch der Nationalversammlung angehört126.

126

Zum beruflichen und politischen Werdegang von Giesberts s. Reichstagshandbuch, 1. Wahlperiode 1920, Berlin 1920, S. 221.

[XXXIII] Giesberts Aufgabe als Reichspostminister war fest umrissen und bot wenig Gelegenheit zu programmatischen Entscheidungen. Seine Tätigkeit lag mehr im Technisch-Administrativen als im Politischen. Lediglich in der Besoldungsfrage der Beamten geriet er mit dem Reichsfinanzminister in einen schärferen Konflikt127. Im Kabinett trat er wenig hervor, versäumte es jedoch nicht, sich in allen das Kabinett beschäftigenden Fragen zustimmend oder ergänzend zu äußern. Giesberts gehörte sowohl vom Ressort als auch von der Persönlichkeit her zu den eher farblosen Mitgliedern des Kabinetts.

127

Siehe Dok. Nr. 71, bes. Anm. 4.

Das Reichsverkehrsministerium wurde von dem parteilosen Wilhelm Groener übernommen. Groener war 1867 in Ludwigsburg/Württ. geboren und hatte die militärische Laufbahn eingeschlagen. Nach seiner Ernennung zum Offizier war er in verschiedenen Stabs- und Truppenstellen tätig gewesen und hatte sich hier bald ausgezeichnet. 1897 war er auf Grund seiner militärischen Fähigkeiten und seiner operativen Begabung in den Großen Generalstab kommandiert worden und hatte anschließend wieder in verschiedenen Stellungen Stabs- und Truppendienst verrichtet. Während des Krieges war er zunächst zwei Jahre im Großen Hauptquartier gewesen und hatte dann im Jahre 1916 eine leitende Stellung im Kriegsernährungsamt eingenommen. 1917 wechselte er wieder in den Truppendienst über und befehligte Einheiten in Frankreich und in der Ukraine. Ende Oktober 1918 wurde er zum I. Generalquartiermeister ernannt. Wenig später kam der Zusammenbruch, und in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1918 schloß Groener mit Ebert jenen historisch gewordenen Pakt, mit dem er sich und das Heer der Regierung der Volksbeauftragten zur Verfügung stellte. Aufgabe sollte es sein, das Heer geordnet in die Heimat zurückzuführen und Sicherheit und Ordnung im Reich aufrechtzuerhalten. Groener blieb jedoch nur knapp ein Jahr in seinem Amt. Bereits im September 1919 nahm er wegen der Auseinandersetzungen in der militärischen Führung über den Aufbau und die Befehlsstruktur der neuen Reichswehr seinen Abschied128.

128

Zum Lebenslauf Groeners siehe D. Groener – Geyer, General Groener, Soldat und Staatsmann, Frankfurt 1954.

Groener war für das Amt des Reichsverkehrsministers fachlich hoch qualifiziert. Neben praktischen Tätigkeiten bei der Eisenbahn hatte er eine gründliche Ausbildung in der Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabes erhalten und war 1914 Chef des Feldeisenbahnwesens geworden. Bereits bei seinem Ausscheiden aus der Reichswehr hatte Schleicher Groener geraten, in die Regierung einzutreten129, doch hatte offenbar die fehlende parteipolitische Bindung Groeners eine solche Berufung bisher verhindert. Groener lehnte jede ideologisch bestimmte Politik ab und vertrat demgegenüber das Prinzip der Fachlichkeit und der Persönlichkeit. Dieses erfüllte er in hohem Maße. Seine Hauptaufgabe war es, den durch die Verfassung vorgesehenen Übergang der Eisenbahn- und Wasserstraßenverwaltung von den Ländern auf das Reich zu vollenden. Groener ging dabei sehr vorsichtig vor und bemühte sich, die Eigenart[XXXIV] der historischen Entwicklung der Ländereinrichtungen so weitgehend wie möglich zu schonen. Für die Eisenbahnen setzte er sich zum Ziel, die finanzielle Gesundung und die Funktionsfähigkeit des technischen Apparates herbeizuführen sowie die volle Leistungsfähigkeit des Bahnwesens wiederherzustellen. Insbesondere sollte dabei in der Reichseisenbahnverwaltung das fiskalische Prinzip durch das wirtschaftliche Prinzip ersetzt werden130. Groener war ein Organisationsfachmann von hohem Rang131, dessen Arbeitsweise und Argumentation im Kabinett stark vom Militärischen her bestimmt waren. Aus diesem Bereich rührte auch sein starkes Ordnungs- und Autoritätsdenken, das ihn auf ungesetzliche Aktionen der Beamten- und Arbeiterschaft besonders heftig reagieren ließ132. In den Kabinettssitzungen war Groener sehr zurückhaltend und äußerte sich nur, wenn Angelegenheiten seines eigenen Ressorts behandelt wurden, manchmal jedoch auch zu militärischen und grundsätzlichen Fragen133. Innerhalb des Kabinetts war er ein Einzelgänger. Maßgeblicher Einfluß auf die allgemeine Politik des Kabinetts ging von ihm nicht aus, doch scheint dies bewußte Zurückhaltung im Sinne des Fachministeriums gewesen zu sein.

129

Nachlaß Groener ; zitiert von F. L. Carsten, Reichswehr und Politik, Köln – Berlin 1964, S. 67.

130

Groener am 17.3.1921 im Reichstag anläßlich der Beratungen des Haushalts 1921 des RVMin., RT-Bd. 348, S. 3121  f. Siehe auch D. Groener – Geyer, General Groener, S. 212.

131

O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 398.

132

So erklärte Groener am 17.3.1921 im Reichstag: „In dieser Beziehung kann ich nach pflichtmäßiger und ehrlicher Überzeugung sagen, daß in den deutschen Eisenbahnern bereits wieder der alte Sinn für Autorität und Ordnung im Wachsen begriffen ist.“ (RT-Bd. 348, S. 3122 ). Siehe dazu auch Brecht, Aus nächster Nähe, S. 198 und Dok. Nr. 67.

133

O. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 398. Siehe dazu auch Dok. Nr. 21; 67.

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