2.131.1 (ma11p): 1. Reichstagsfrage.

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1. Reichstagsfrage.

Der Reichskanzler berichtete über die Verhandlungen mit den Regierungsparteien1 sowie über seine Besprechung mit dem Herrn Reichspräsidenten. Der Herr Reichspräsident stimme grundsätzlich der Auffassung der Regierung zu und wünsche, daß alles geschehe, um die Währung zu halten. Es müsse jedoch ein einwandfreier Grund zur Auflösung des Reichstages vorliegen. Hinsichtlich der Modalitäten dieser Begründung wolle der Herr Reichspräsident mit den Parteien Fühlung nehmen und alsdann mit dem Reichskanzler die Angelegenheit weiter erörtern.

1

S. Dok. Nr. 130.

Der Reichskanzler machte alsdann Mitteilungen aus dem Bericht des aus Paris zurückgekehrten Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht. Die Goldkreditbank sei gesichert, und der Reichsbankpräsident werde an dem darauffolgenden Tage bereits einen Gesetzentwurf darüber vorlegen2.

2

Vgl. dazu Dok. Nr. 133.

Der Reichsbankpräsident habe ferner aus Paris den Eindruck mitgebracht, daß die Wahlen zum Reichstag unter keinen Umständen vor den französischen Wahlen stattfinden dürften. Letztere fänden bestimmt am 11. oder 18. Mai statt; eine Verschiebung komme nicht in Frage, da nach der französischen Verfassung die Kammer am 1. Juni zusammentreten müsse.

Bei dieser Sachlage frage es sich, wie der Reichstag zu beschäftigen sei, um die Zeit bis zu einem entsprechenden späteren Wahltermin auszufüllen.

Der Reichsminister des Auswärtigen teilte mit, daß nach Maßgabe eines vertraulichen Berichts des deutschen Gesandten in Bern3 auch nach Auffassung[434] der schweizerischen Regierung eine etwaige Abhaltung der deutschen Wahlen vor den französischen Wahlen die politische Lage in bedenklicher Weise gefährden könne, indem die nationalistische Stimmung in Frankreich durch den Hinweis auf das Ergebnis der deutschen Wahlen angeschürt würde. Es unterliege, so führte der Reichsminister des Auswärtigen aus, keinem Zweifel, daß die Wahlkampagne der deutschnationalen Partei sich fast ausschließlich auf außenpolitischem Gebiete abspielen werde. Hierdurch würden die äußerst subtilen schwebenden Fragen der Militärkontrolle und der Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich in bedenklicher Weise belastet.

3

Adolf Müller.

Hinsichtlich der Kontrollfrage sei mit dem Eintreffen einer Note der Botschafterkonferenz zu rechnen4, welche Forderungen enthalte, denen das Reich nicht nachkommen könne. Daher müsse diese Angelegenheit dilatorisch behandelt werden, was auch nach seiner, des Reichsministers des Auswärtigen, Auffassung wohl möglich sei. Die Auseinandersetzung zwischen Frankreich und England scheine nicht ungünstig zu verlaufen5; bei einer kürzlichen Unterredung zwischen dem französischen Minister Loucheur und dem englischen Ministerpräsidenten MacDonald habe letzterer die völlige Räumung des Einbruchsgebiets verlangt. Auch habe der englische Ministerpräsident ihm, dem Reichsminister des Auswärtigen, mitteilen lassen, daß er hinsichtlich der Lage der besetzten Gebiete keine interne Regelung zwischen Deutschland und Frankreich zulassen werde, sondern eine „universelle“ Regelung anstrebe.

4

S. Dok. Nr. 158, P. 2.

5

Vgl. den Briefwechsel zwischen MacDonald und Poincaré vom 21./25. 2.; Zusammenfassung in Schultheß 1924, S. 167 ff.

Unter Berücksichtigung dieses Sachverhaltes warne er dringend vor einer frühzeitigen Abhaltung der deutschen Wahlen oder auch vor einer Verlängerung der 60tägigen Frist nach Auflösung des Reichstages6, da Frankreich evtl. den gleichen Weg beschreiten könne. Am zweckmäßigsten würde es zweifellos sein, die beiden Wahlen gleichzeitig stattfinden zu lassen.

6

S. Art. 25 Abs. 2 der RV.

Herr Silverberg habe ihm dieser Tage mitgeteilt, daß die Industrie die Absicht habe, die Micumverträge unter Berufung auf die noch schwebenden Erwägungen des Sachverständigenausschusses bis zum 15. Mai zu verlängern7.

7

Auf eine diesbezügliche Anfrage MinR Kieps (Rkei) teilte StS Müller (RMinWiederaufbau) mit Schreiben vom 10. 3. mit: „Ich habe den Generaldirektor Silverberg gelegentlich eines Besuches darüber gefragt, ob es richtig wäre, daß die Industrie sich veranlaßt sehen würde, die Micum-Verträge bis zum 15. Mai zu verlängern. Herr Dr. Silverberg hat mir darauf folgendermaßen geantwortet: ‚Weder von französischer, interalliierter oder deutscher Seite ist die Frage der Verlängerung der Micumverträge meines Wissens irgendwie erörtert noch erwogen worden. Es handelt sich bei meinen Äußerungen um folgendes: Der Herr RM Stresemann sagte mir in einer flüchtigen Unterredung, daß er die Gutachten der Sachverständigen erst etwa um den 20. März erwarte. Ich sagte ihm daraufhin, daß die Verhandlungsfrist bis zum 15. April [Ende der Laufzeit des Micum-Vertrages vom 23.11.23 mit dem Kohlenbergbau] sehr kurz sei, da doch vorher eine gründliche Durcharbeitung dieser Gutachten stattfinden müsse, und dann wäre es notwendig, irgendeine Prolongation vom 15. April bis 15. Mai zu schaffen, währenddessen eine endgültige Regelung der Sachleistungen in Verbindung mit einem Moratorium erwogen oder unter Umständen vereinbart werden könnte. Es handelt sich hierbei lediglich um meine private Meinung, die ich dem RAM mitgeteilt habe und die sich vor allen Dingen auf die Erwägung gründet, daß eine zweite Betriebseinstellung im westlichen Kohlenbergbau und in der westlichen Eisenindustrie von der Bevölkerung nicht mehr getragen wird. Es liegt aber nicht der geringste Anlaß vor, meine Äußerung irgendwie auszuwerten, weder nach interalliierter noch nach deutscher Seite‘“ (R 43 I /454 , Bl. 57 f.).

[435] Der Vizekanzler wies darauf hin, daß eine Wahl am 6. April im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Genehmigung der Rheinlandkommission für das besetzte Gebiet einzuholen, kaum noch möglich sei.

Der Reichswirtschaftsminister bezweifelte die Richtigkeit der Auffassung des Reichsministers des Auswärtigen: es erscheine ihm auch außenpolitisch durchaus nicht klargestellt, ob eine frühzeitige deutsche Wahl so wirken werde, wie vom Reichsminister des Auswärtigen angenommen.

Der Reichsarbeitsminister stimmte dem Vorredner zu, wies jedoch insbesondere auf die innerpolitischen Gefahren einer Fortsetzung der gegenwärtigen Reichstagsdebatte hin. Der Reichstag müsse unter allen Umständen mit möglichster Beschleunigung aufgelöst werden. Sei alsdann eine Hinausschiebung der Wahlen erforderlich, so möge dies durch ein verfassungsänderndes Gesetz des Reichstages erfolgen, oder gegebenenfalls auf Grund des Artikel 48 durch eine Verordnung des Herrn Reichspräsidenten.

Staatssekretär Meissner führte auf Anfrage hierzu aus, daß verfassungsrechtliche Bedenken nicht gegen das erste Verfahren bestünden, wohl aber gegen die Anwendung des Artikel 48.

Der Reichskanzler äußerte die Auffassung, daß den Darlegungen des Reichsbankpräsidenten ernste Beachtung gewidmet werden müsse. Gegen eine sofortige Auflösung des Reichstages spräche überdies die Notwendigkeit, das Gesetz über die Goldnotenbank noch von dem Reichstag erledigen zu lassen. Allerdings bedeute dies unter Umständen eine Abschwenkung von der bisher durch das Kabinett angenommenen Richtlinie; dies müsse jedoch mit in Kauf genommen werden, umso mehr, als auch der Herr Reichspräsident auf die außenpolitische Seite der Frage großes Gewicht lege. Die Angelegenheit müsse vom Kabinett weiter erwogen und auch mit den Parteiführern erneut besprochen werden8. Auch die Modalitäten einer etwaigen Auflösung unter besonderer Berücksichtigung des vom Herrn Reichspräsidenten in den Vordergrund gestellten Gesichtspunktes eines geeigneten Auflösungsgrundes müssen weiter erwogen werden.

8

S. Dok. Nr. 132.

Der Reichskanzler berichtete alsdann über das Ergebnis der Besprechung mit den Abgeordneten des besetzten Gebiets9 und stellte unter Zustimmung des Kabinetts fest, daß auch im besetzten Gebiet gewählt werden müsse.

9

S. Dok. Nr. 129.

Der Reichsminister des Innern teilte auf Anfrage mit, daß eine etwaige Sistierung der Wahlen im besetzten Gebiet, wenn sie einmal angesetzt seien, nicht in Frage kommen könne. Lägen unzulässige Beeinflussungen vor, so sei es Sache der Wahlprüfung, evtl. nachträglich einzelne Wahlergebnisse für ungültig zu erklären.

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