2.198.1 (ma11p): [Arbeitskonflikt im Ruhrbergbau.]

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[Arbeitskonflikt im Ruhrbergbau2.]

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Zur Vorgeschichte vgl. Dok. Nr. 193, P. 6 und Dok. Nr. 197, P. 5.

Der Reichskanzler begrüßte die Erschienenen und führte aus, daß die außerordentliche Rückwirkung des gegenwärtigen Streiks auf die deutsche Wirtschaft sowie auf die außen- und innerpolitische Lage es für die Reichsregierung zu einer selbstverständlichen Pflicht mache, dem Rufe der Parteien zu entsprechen und Vermittlungsverhandlungen anzubahnen.

Als Einleitung zu diesen Verhandlungen, deren weitere technische Durchführung dem Herrn Reichsarbeitsminister obliegen werde, wünsche er nur kurz auf die allgemeine politische Lage hinzuweisen. Die Bestrebungen der ganzen Arbeiten der Reichsregierung während der vergangenen Monate seien darauf gerichtet gewesen, die deutsche Währung zu festigen und die Wirtschaft in Gang zu bringen. Die hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten seien übermenschlich groß gewesen und hätten die schwersten Opfer von dem gesamten Volke erfordert. Noch sei das Ziel bei weitem nicht erreicht, insbesondere kranke noch die gesamte deutsche Wirtschaft an einem außerordentlichen Kreditmangel; immerhin weise die wirtschaftliche Lage eine wesentliche Besserung gegenüber dem Herbste auf, was insbesondere in den sinkenden Ziffern der Arbeitslosigkeit schon zum Ausdruck komme. Das ganze Werk drohe durch den Streik zerschlagen zu werden.

Die schwere außenpolitische Gefahr einer Fortdauer der gegenwärtigen Arbeitseinstellung liege in der Möglichkeit, daß die Besatzungsmächte die Einstellung der Kohlenlieferungen3 zur Veranlassung nähmen, neue Repressalien gegen das Ruhrgebiet anzuwenden und somit die Verwirklichung der Gedanken des Sachverständigengutachtens zu gefährden. Innerpolitisch drohe der Kommunismus im Streikgebiet die Oberhand zu gewinnen. Aus diesem Grunde richte die Reichsregierung den eindringlichsten Appell an Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ja sogar sie forderte von ihnen, im Interesse beider Parteien sowie im Lebensinteresse des deutschen Volkes zu einer Verständigung zu gelangen. Ebenso wie die einzelnen Völker wirtschaftlich miteinander verknüpft seien, so sei in noch stärkerem Maße das Los der einzelnen Volksschichten innerhalb des Staates in einer untrennbaren Schicksalsgemeinschaft verquickt.

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Wegen des Arbeitskonflikts konnte der Ruhrbergbau die ihm durch das Micum-Abkommen auferlegten Reparationskohlenlieferungen im Mai 1924 nur zum Teil ausführen.

Der Reichsarbeitsminister schlug zur Geschäftsordnung vor, im Rahmen der Besprechung in der Reichskanzlei lediglich die größeren politischen Gesichtspunkte zu erörtern und die Einzelaussprache den späteren Verhandlungen im Reichsarbeitsministerium zu überlassen.

Der Vorsitzende des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands, Herr Husemann, führte aus: Schon bei der letzten Besprechung über die Micumverträge in der Reichskanzlei unter Hinzuziehung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber des Ruhrbergbaues sei von Arbeitnehmerseite auf die Untragbarkeit der Micumlasten[631] hingewiesen worden sowie auf die Gefahr, daß diese Lasten auf die Arbeiterschaft abgewälzt werden würden4. In der Tat hätten die Arbeitnehmer der durch die Micum-Verträge geschaffenen Lage das weitgehendste Verständnis entgegengebracht und insbesondere aus diesem Gesichtspunkte heraus dem Überarbeitszeit-Abkommen zugestimmt. Die Zechenverwaltungen dagegen hätten gesucht, über das Abkommen hinaus der Arbeiterschaft Lasten aufzuerlegen und seien schließlich dazu übergegangen, den Tarifvertrag zu kündigen und einen neuen Vertrag vorzulegen, der in nicht weniger als 21 Punkten Verschlechterungen gegenüber der bisherigen Lage aufweise.

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Vgl. Dok. Nr. 156.

Überhaupt zeigten die Zechenbesitzer wenig Verständnis in sozialer Beziehung, und es bestünde bei der Arbeiterschaft allgemein der Eindruck, daß das Ziel der Arbeitgeber darauf gerichtet sei, unter Ausnutzung der gegenwärtigen Notlage im Bergbau die alten Vorkriegsverhältnisse wiederherzustellen, wonach der Arbeitgeber zu befehlen und der Arbeitnehmer zu gehorchen habe. Diese Zeiten seien jedoch vorüber; eine Rückkehr zu ihnen würde die Arbeiterschaft niemals zulassen. Überdies seien die Bergbaubetriebe weder kaufmännisch noch technisch auf der Höhe.

Eine Verhetzung der Arbeiterschaft liegt nicht vor, sondern eine wahre Verzweiflung; von dem heutigen Lohn könne keine Bergarbeiterfamilie leben.

Es müsse eine Verständigung gefunden werden; die Arbeiterschaft sei dazu im Geiste bereit. Der ganze Manteltarif müsse aber wiederhergestellt werden; ohne das könnten die Arbeiter zur Rückkehr in die Betriebe nicht bewogen werden. Ferner sei Voraussetzung für jede Verständigung die Beibehaltung der siebenstündigen Arbeitszeit unter Tag und der achtstündigen über Tag. Über etwaige Mehrarbeit darüber hinaus könne eine Einigung erzielt werden. Das sei die unverrückbare Basis der Verhandlungen, von der die Arbeitnehmer nicht abweichen könnten.

Generaldirektor Wiskott führte demgegenüber aus, daß die zuletzt zugestandene Lohnerhöhung von 15% das Lohnniveau über den Friedensstand hinaus erhöht habe. Die Bestimmungen des Manteltarifs hätten starke finanzielle Auswirkungen und müßten daher mit der Leistungsfähigkeit des Bergbaues in Übereinstimmung gebracht werden. In der Arbeitszeitfrage könne unter keinen Umständen, auch nach etwaiger Aufhebung der Micum-Verträge, von der bisherigen Regelung abgegangen werden, sonst sei im Auslande und im Inlande eine Konkurrenzfähigkeit des Ruhrbergbaues nicht mehr gegeben. Erforderlich sei eine Senkung des gesamten Preisniveaus. Ohne Abschaffung des Achtstundentages sei eine Regelung der Reparationsfrage im Sinne des Sachverständigengutachtens nicht möglich.

Der Vorsitzende des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter, Rotthäuser, bestritt die Angaben des Vorredners über das gegenwärtige Lohnniveau. Auch unter Hinzuziehung des Soziallohnes bliebe der gegenwärtige Lohn hinter dem Friedensstand zurück. Seit dem Überzeitabkommen seien die Leistungen der Arbeiter um 35% gesteigert, die Löhne dagegen um 25% gekürzt worden. Das sei untragbar.

[632] Der siebenstündige Arbeitstag sei der Arbeiterschaft vom Reichsarbeitsminister versprochen worden, und dieses Ministerwort müsse gehalten werden.

Die Kommunisten würden durchaus nicht die Oberhand im Ruhrgebiet gewinnen; die Gewerkschaften hätten die Leitung fest in der Hand.

Die Micum-Lasten müßten vom gesamten Volke getragen werden. Der Ruhrbergbau allein sei nicht imstande, sie zu tragen, es müsse daher die gesamte Bevölkerung zur Mittragung herangezogen werden.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß die Politik der Reichsregierung gerade darauf gerichtet sei, auf dem Wege über das Sachverständigengutachten von der Sonderbelastung des besetzten Gebiets zur Belastung des gesamten Reichs zu gelangen. Bis dieses Ziel erreicht sei, sei es jedoch unmöglich, durch eine Unterstützung des Ruhrbergbaues von Reichs wegen zur Verwirklichung des von den Einbruchsmächten angestrebten Spezialpfändergedankens in Gestalt der Micumverträge beizutragen.

Er bitte im übrigen, bei den Erörterungen zwischen den Parteien nach Möglichkeit die Vergangenheit aus dem Spiele zu lassen und die Gedanken ausschließlich auf die Herbeiführung einer Verständigung für die Zukunft zu richten.

Generaldirektor Wiskott bestritt gegenüber den Ausführungen der Arbeitnehmer, daß es sich bei der gegenwärtigen Arbeitsruhe um eine Aussperrung handele.

Der Reichsarbeitsminister führte gegenüber dem von Herrn Rotthäuser erhobenen Vorwurfe aus, daß die von ihm im Jahre 1922 gegebene Zusicherung hinsichtlich der siebenstündigen Arbeitszeit sich ausschließlich auf die damalige gesetzliche Regelung bezogen habe. Es seien sich aber alle Parteien bei der Beratung des Gesetzes über die Arbeitszeit im Bergbau5 darüber klar gewesen, daß es sich um eine vorübergehende Notregelung handele. Inzwischen hätten sich die Verhältnisse erheblich geändert, und es sei nicht angängig, den Minister an die damals auf besondere Umstände abgestellte Erklärung festzubinden.

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Gesetz über die Arbeitszeit im Bergbau unter Tage vom 17.7.22 (RGBl. S. 628 ).

Im übrigen sei zu bemerken, daß die Lasten des besetzten Gebiets durchaus nicht von der dortigen Bevölkerung allein getragen würden. Während des Ruhrkampfes sei im Gegenteil das gesamte Reich im stärksten Maße an den Lasten beteiligt gewesen und habe in Gestalt des Währungsverfalls die schwersten Opfer zu Gunsten des besetzten Gebiets getragen.

Er schlage nunmehr vor, in die Sonderverhandlungen über Anbahnung eines Schlichtungsverfahrens im Reichsarbeitsministerium überzugehen.

Da keine weiteren Wortmeldungen vorlagen, schloß der Reichskanzler die Sitzung mit den wärmsten Wünschen für einen erfolgreichen Verlauf der Verständigungsverhandlungen6.

6

In der anschließenden Besprechung im RArbMin. wird zur Beilegung des Arbeitsstreits im Ruhrbergbau ein Schlichtungsausschuß eingesetzt, der am 16. 5. einen Schiedsspruch fällt. Danach wird der bisherige Rahmentarif mit einigen Änderungen verlängert. Die Arbeitszeit für Untertagearbeiter wird auf 7 Stunden plus eine Stunde Mehrarbeit festgesetzt, für Übertagearbeiter, die unmittelbar mit der Förderung zu tun haben, auf 8 Stunden plus 1 Stunde Mehrarbeit. Die Arbeitszeit der Kokereiarbeiter beträgt im Wochendurchschnitt 65 Stunden bei einer Höchstschichtzeit von 74 Stunden einschließlich sonntags usw. Für die festgesetzte Mehrarbeit wird kein Zuschlag gewährt (Text des Schiedsspruchs in R 43 I /2122 , Bl. 119-122).

Der Schiedsspruch vom 16. 5. wird von den Unternehmern angenommen. Von den Bergarbeiterverbänden wird er wegen der Mehrarbeitsregelung verworfen, „weil kein besonderer Lohnzuschlag vorgesehen, Lohnerhöhung sowie Dreischichtensystem für durchgehende Betriebe abgelehnt wurde“ (Telegramm Husemanns an RK vom 17. 5., R 43 I /2122 , Bl. 123).

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