1.30.1 (ma12p): [Sachverständigen-Gutachten.]

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Text

RTF

[Sachverständigen-Gutachten.]

Reichsminister des Auswärtigen Dr. Stresemann:

(Anfang nicht mitstenografiert.)

Nun komme ich auf eine zweite Gruppe von Fragen. Das ist einmal die Frage der Räumung des Ruhrgebiets, zweitens die Frage der Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete. Ich glaube, daß zunächst der französische Ministerpräsident der Ansicht war, daß die Räumung des Ruhrgebiets im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Sachverständigengutachtens innerhalb einer gewissen Zeit, die für den Abbau notwendig war, erfolgen sollte. Er hat dieser seiner Auffassung auch wiederholt Ausdruck gegeben. Inzwischen haben sich nun bei ihm starke Einflüsse geltend gemacht, die sich gegen eine solche Haltung von ihm wenden. Man muß sich zunächst einmal – und dabei möchte ich mit einigen Sätzen auf die Lage in Frankreich zu sprechen kommen – vor Augen halten, daß die Stellung des Kabinetts Herriot durchaus nicht sehr fest ist. Herr Herriot hat in kurzer Zeit drei parlamentarische Niederlagen erlitten. Die Art und Weise, wie man versucht hat, einen parlamentarischen Sieg auszunutzen, um die Stellung eines Präsidenten zu erschüttern, ihn durch einen anderen Präsidenten zu ersetzen, hat zwar in der Frage der Niederlegung des Amtes durch Herrn Millerand zum Erfolg geführt, hat aber dem neuen Machthaber sehr viel Sympathien in Frankreich gekostet und zur Wahl eines ihm nicht genehmen Kandidaten geführt2. Das war der erste échec. Der zweite war[767] die Wahl des Senatsausschusses3, der dritte die Wahl des Vorsitzenden des Heeresausschusses4. Es herrscht ja in Frankreich ein System, das wir bei uns nicht kennen oder nur bei der Präsidentenwahl, das ist das System der geheimen Wahl. Da zeigt sich immer, daß die Fraktionen brüchig sind, sobald geheim abgestimmt wird. Auch die Drohung der Pariser Presse, Herrn Maginot eine Niederlage zu bereiten bei der öffentlichen Abstimmung, kann nicht darüber hintäuschen, daß dort eine verhältnismäßig kleine Mehrheit für Herriot vorhanden ist. Bei der letzten Abstimmung haben von den sozialistischen Parteien 42 für Herriot gestimmt, die anderen 63 haben sich enthalten. Jedenfalls war es ein Riß im Block der Linken.

2

Als Nachfolger Millerands wurde am 13. 6. Gaston Doumergue zum Präsidenten der frz. Republik gewählt. Der Kandidat Herriots, der Kammerpräsident Painlevé, unterlag bei der Wahl, weil die Abgeordneten des Linkskartells teilweise für Doumergue stimmten.

3

Gemeint ist wohl die Wahl des Senatspräsidenten am 19. 6., bei der der Kandidat der Senatsrechten, de Selves, über den Kandidaten des Linkskartells, Bienvenu, siegte.

4

Am 2. 7. wurde der Kriegsminister im Kabinett Poincaré, Maginot, gegen den Sozialisten Paul-Boncour zum Vorsitzenden des Heeresausschusses der frz. Kammer gewählt.

Nun ziehe ich daraus für unsere Außenpolitik die Folgerungen, gerade weil das Ministerium Herriot auf sehr schwachen Füßen steht, weil wir damit rechnen müssen, daß vielleicht in absehbarer Zeit dort andere Machthaber am Werke sind, haben wir alle Veranlassung, alles, was wir tun können, zu tun, um erstens, soweit wir Einfluß haben, dieses Kabinett zu stützen, und zweitens während der Dauer dieser Regierung mit Frankreich zu Rande zu kommen. Denn was kommen soll, wenn Herriot nicht mehr da ist, ist zum mindesten zweifelhaft, selbst wenn der Weg zunächst über die Mitte, über Briand, über Loucheur gehen sollte.

Deshalb haben wir auch ein großes Interesse an der Beschleunigung der Inkraftsetzung des Sachverständigengutachtens, und die Behauptung des „Petit Parisien“, daß die Deutsche Regierung die Verhandlungen verschleppte, ist einfach gelogen5. Wir haben gar kein Interesse, die Verhandlungen zu verschleppen, schon aus dem Grunde nicht, weil diese Tragödie der Micum-Verträge nun nicht ins Unendliche weitergehen kann. Wir haben jetzt – die Herren Vertreter der Länder werden wissen, was das für die Finanzen des Reiches bedeutet – die Hälfte der Micum-Lasten auf das Reich genommen, weil wir nicht sehenden Auges die deutsche Großindustrie vollkommen zusammenbrechen sehen konnten. Wir haben aber auch die Industrie veranlaßt, zum 31. Juli die Micum-Verträge wieder zu kündigen. Wir konnten uns nicht darauf einlassen, daß diese Micum-Verträge, die allein bei der Kohlenindustrie eine[768] Last von über 50 Millionen Goldmark monatlich ausmachen, bis zum Inkrafttreten des Sachverständigengutachtens verlängert würden6; denn dann hätte Frankreich kein Interesse mehr gehabt, die Dinge schnell in Kraft zu setzen. Die Sachen stehen so, daß, wenn wir nicht bis Anfang August fertig werden, die ganzen Dinge bis zum Herbst aufgeschoben werden, wo dann die englische Politik in die Ferien geht. Ich habe als Reichskanzler seinerzeit erfahren, was es bedeutet, wenn englische Minister auf Ferien sind. Ich habe seinerzeit dem Reichstag gesagt, ich sei bereit, die Akten vorzulegen über den Abbruch des passiven Widerstandes, über die Hilferufe an England. Es vergingen Monate, ohne daß wir ein Wort hörten, weil Baldwin in Urlaub war und sich nicht um die Politik kümmerte. Die Engländer sind ja nicht eigentlich diejenigen, die interessiert sind an dem Zustandekommen der Durchführung des Sachverständigengutachtens. Kommen wir aber nicht zustande, dauern diese Dinge bis in den Oktober hinein, dann dauern mit den Micum-Verträgen alle die Erscheinungen fort, die gegenwärtig bestehen und die gewiß nicht leicht für uns sind. Darauf werden ja wahrscheinlich die Referate der anderen Herren näher eingehen.

5

WTB meldet am 3. 7.: „Der ‚Petit Parisien‘ behauptet, daß die dt. Reg. im Gegensatz zur frz. Reg. sich nicht genügend bemühe, die Durchführung des Sachverständigengutachtens in kürzester Zeit zu erreichen, insbesondere zögere sie noch immer damit, die Gesetze vor den RT zu bringen. Demgegenüber wird von unterrichteter Seite mitgeteilt: Die dt. Reg. hat von Anfang an alles getan, um die schnelle Durchführung des Sachverständigengutachtens zu fördern. Sie hat nicht nur die dt. Vertreter in den drei Organisationskomitees angewiesen, auf eine möglichste Beschleunigung zu dringen, sondern sie hat auch bei den beteiligten all. Regg. durch ihre diplomatischen Vertretungen schon Anfang Mai darauf hinwirken lassen, daß die Komitees sofort konstituiert werden und ihre Arbeiten möglichst beschleunigen. Die RReg. hat seitdem jede Gelegenheit benutzt, um die beteiligten all. Regg. auf die Notwendigkeit eines schnellen Abschlusses der Arbeiten der drei Organisationskomitees hinzuweisen, da die dt. Gesetze erst auf Grund der Arbeiten der Organisationskomitees endgültig fertiggestellt und dann den dt. gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt werden können.“ (Nach DAZ Nr. 309 vom 3. 7.). Vgl. hierzu auch Dok. Nr. 241, P. 2.

6

Vgl. Dok. Nr. 239.

Ich möchte auf die Frage der Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete zurückkommen, die anfängliche Bereitschaft Herriots, zunächst aus dem Ruhrgebiet hinauszugehen, der Kampf, der gegen ihn geführt wurde, die Einflüsse, die sich bei ihm geltend machen, über die uns auch unser Botschafter eingehend berichtet hat. Herriot hat ihm in einer Unterredung gesagt – und er hat es Herrn von Hoesch wiederholt –: Ich kann mir nicht helfen, ich fürchte Deutschland7, ich übernehme eine ungeheure Verantwortung, wenn ich aus dem Ruhrgebiet herausgehe. Und er hat dabei – die Frage der Militärkontrolle spielt dabei eine große Rolle – zum Ausdruck gebracht, in der inländischen Stimmung in Deutschland läge eine Gefahr für Frankreich, der entgegengetreten werden müßte. Seine letzte Äußerung über die Ruhrräumung ging dahin, daß er bat, diese heikle Frage in dem Augenblick, in dem mit ihm gesprochen wurde, nicht zu berühren8. Andererseits haben wir aus authentischer Quelle erfahren, daß man in Belgien den Gedanken gefaßt hat, die Räumung der Ruhr in eine sachliche Verbindung mit der Begebung der Industrieobligationen zu bringen.

7

Danach gestrichen: „ich sehe die deutsche Industrie,“.

8

Stresemann bezieht sich hier offenbar auf die Unterredung zwischen Herriot und Hoesch vom 27. 6., über die Hoesch mit Telegramm vom 28. 6. aus Paris berichtete. Vgl. Dok. Nr. 241, Anm. 3.

Die Deutsche Reichsregierung muß das ganz entschieden ablehnen. Sie kann sich auf diesen Standpunkt nicht stellen. Die Begebung der Industrieobligationen in Deutschland kann nicht stattfinden. Wir haben kein Geld, um diese Industrieobligationen bei uns zu begeben. Die Begebung in anderen Ländern hängt ab von den dortigen Regierungen. Die Regierung eines Landes hat ja immer die Banken in der Hand. Ein glänzendes Geschäft ist das im übrigen nicht. Spekulative Tendenzen spielen dabei nicht mit. Eine Verzinsung von 5% und 1% Amortisation ist keine Sache, die das Publikum reizt. Also hat es[769] Frankreich oder mindestens die Alliierten vollkommen in der Hand, wann sie die Obligationen begeben wollen. Sie haben es auch vollkommen in der Hand, wann das Ruhrgebiet geräumt wird9.

9

Vgl. hierzu Dok. Nr. 241, Anm. 4.

Sie sehen, daß diese Frage sich versteift hat. Wir haben demgegenüber nach Auffassung der Reichsregierung den Standpunkt zu vertreten – und wir haben ihn mit aller Entschiedenheit gegenüber den Alliierten zum Ausdruck gebracht –, daß ohne eine Räumung des Ruhrgebiets, ohne eine Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete für uns eine Unterschrift unter das Sachverständigengutachten nicht in Betracht kommen kann10. Dabei bin ich der Meinung, daß es für uns nicht darauf ankommen darf zu fordern: wenn am 15. August das Sachverständigengutachten in Kraft tritt, habt ihr am 15. September herauszugehen. Ich bin persönlich der Meinung, daß man bei der großen Schwierigkeit dieser Frage in gewisser Beziehung large sein kann in bezug auf den Termin, daß man aber unbedingt ablehnend sein muß in bezug auf eine Lösung, die nicht den Endtermin in absehbarer Zeit uns gegenüber sicherstellt, so daß wir wissen, an dem und dem Tage ist der letzte Franzose und Belgier aus dem besetzten Gebiete heraus. Es ist das die letzte Gelegenheit, bei der wir in Verhandlungen mit den Allierten einen Druck ausüben können für die Befreiung dieser Gebiete.

10

Vgl. das Instruktionstelegramm Stresemanns an Hoesch vom 1. 7.: Dok. Nr. 241, Anm. 9.

Es kommt sehr leicht in der Geschichte, daß gewisse Dinge, weil sie einmal ein paar Jahre dauern, einfach hingenommen werden. So ist es vielfach heute in bezug auf Düsseldorf und Duisburg-Ruhrort. Kein Mensch denkt daran, daß das eigentlich eine Sanktion wegen Nichterfüllung des Londoner Ultimatums war, eine Sanktion, die logischerweise hätte aufgehoben werden müssen bei Annahme des Londoner Ultimatums11; denn sie war da logisch erledigt, aber sie steht jetzt ungefähr so da, als stände sie im Versailler Vertrag.

11

Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort wurden am 8.3.21 besetzt. Die Annahme des Londoner Ultimatums durch Deutschland erfolgte am 11.5.21.

Wir werden trotz der Einflüsse auf Herriot meiner Meinung nach durchkommen mit der Räumung des Ruhrgebiets. Wir werden in London12 die heftigsten Kämpfe haben um Düsseldorf; denn hier stellen sich nun diejenigen Mächte Herriot entgegen, die nicht zum Ausdruck kommen in einer parlamentarischen Mehrheit, die aber da sind, die ihren Einfluß haben. Das sind die militärischen Kreise in Frankreich und die Micum-Industriellen auf der anderen Seite. Wir sehen, daß die Micum-Industriellen sich bemühen, Vorschläge zu machen, damit ihre Organisation zur Überwachung der deutschen Industrie bleibt13. Wir sehen seltsamerweise, daß Herr Frantzen von der Micum und[770] auch der Vertreter Belgiens14 nach London kommen, während es nur selbstverständlich ist, daß die Micum aufgehört hat in dem Augenblick, wo das Sachverständigengutachten in Kraft tritt. Auf der anderen Seite kämpft Herr de Metz um seine Stellung und bemüht sich, Schwierigkeiten zu machen. Herriot hat, so viel ich weiß, bei Verhandlungen in Chequers versucht, England dafür zu gewinnen, in Düsseldorf zu bleiben und das Ruhrgebiet aufzugeben15. England hat eine andere Auffassung vertreten, nämlich die Auffassung, die wir selbstverständlich vertreten müssen, ohne die wir meiner Meinung nach gar nicht dem Gutachten zustimmen können. Das ist die – ich möchte sie auf eine gewisse Formel bringen, weil diese Formel eigentlich die ganzen Dinge deckt –: wenn es in dem Gutachten heißt: „Die Lösung der Reparationsfrage“, so ist es selbstverständlich, daß mit der Lösung der Reparationsfrage auch alle Sanktionen und Gewaltmaßnahmen, die stattgefunden haben, um die Lösung der Reparationsfrage im Wege des Zwanges herbeizuführen, aufhören. Nun ist die Lösung da durch internationale Vereinbarung, dadurch sind alle die Dinge an sich logisch erledigt. Infolgedessen muß alles geräumt werden, was im Laufe von fünf Jahren besetzt ist, um einen Zwang für die Lösung der Reparationsfrage herbeizuführen. Hier muß, glaube ich, die Unterstützung der Regierung seitens der Öffentlichkeit einsetzen. Dabei muß ich bemerken, daß diese Unterstützung nicht immer die Form der Beschimpfung der Reichsregierung zu haben braucht, wie ich das aus manchen Depeschen aus Düsseldorf sehe. Während ich gebeten habe, man möchte mir Kundgebungen besorgen, damit ich sie gegenüber anderen Botschaftern benutzen kann, haben diese Depeschen eine Form, die zur Veröffentlichung ungeeignet ist. Ich habe die Parteien gebeten, sie sollten mir mehr Kundgebungen besorgen. Aber an diejenigen, die ich bekommen habe, habe ich wirklich nicht gedacht.

12

D. h. auf der zum 16. 7. anberaumten Londoner Konferenz über die Inkraftsetzung des Sachverständigen-Gutachtens.

13

In einem Brief an die Mitglieder der Sechserkommission des Ruhrbergbaus vom 3. 7. berichtet Klöckner über seine Besprechung mit dem Micum-Präsidenten Frantzen in Düsseldorf vom gleichen Tage. Frantzen habe ihm dabei mitgeteilt, er hätte sich mit Hannecart und General Georges überlegt, wie nach Annahme des Sachverständigen-Gutachtens die dt. Sachlieferungen, insbesondere die Kohlen- und Kokslieferungen, weiter erfolgen sollten. Hinsichtlich der Kontrolle der Lieferungen, die auch später ausgeübt werden müsse, dächte Frantzen „an eine Stelle in Düsseldorf oder Essen und an Kommissionen auf sämtlichen Zechen, welche stets in der Lage sein sollten, die Kohlen vor Versand zu begutachten. Ich [Klöckner] habe diese Kontrolle auf das schärfste zurückgewiesen und ihm gesagt, daß die Zechen jede Kontrolle ablehnen würden, weil wir jetzt gerade genug durch die Kontrolle der Micum hätten aushalten müssen. […] Schließlich kam Herr Frantzen damit heraus, daß die in Deutschland bleibende frz. Stelle ohne statistisches Material nicht arbeiten könne, er müsse deshalb die Forderung aufstellen, daß die Zechen sich freiwillig verpflichten sollten, dieser Stelle auch weiterhin statistisches Material zu geben. Auch diese Forderung habe ich selbstverständlich abgelehnt und ihm gesagt, daß er freiwillig nach Inkrafttreten des Sachverständigen-Gutachtens auch nicht eine Zahl von den Zechen erhalten würde. […] Aus der Verhandlung ging hervor, daß Herr Frantzen sich bemüht, zusammen mit dem Kollegen Hannecart auch nach Annahme des Sachverständigen-Gutachtens eine interalliierte Stelle in Düsseldorf oder Essen zu schaffen, um, solange die Reparationskohlen auszuführen sind, eine Kontrolle des rheinisch-westfälischen Bezirks beizubehalten. Wir müssen uns mit allen Mitteln gegen diese Bestrebungen sträuben und deshalb auch sofort unsere Regierung, insbesondere das AA, unterrichten, damit die Vertreter für London entsprechend instruiert werden können. Ich hatte das Gefühl, daß Herr Frantzen sich bei seinen Bestrebungen sehr schwach fühlte, da in dem Sachverständigen-Gutachten kein Satz existiert, auf Grund dessen er derartige Ansprüche stellen darf.“ Dieser Brief Klöckners wird am 4. 7. vom AA (Ritter) der Rkei abschriftl. übersandt (R 43 I /454 , Bl. 286-288).

14

Hannecart.

15

Vgl. Dok. Nr. 241, Anm. 5.

Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Frage der Räumung des Ruhrgebiets im Sachverständigengutachten nur mittelbar steht. Nur an einer[771] einzigen Stelle ist unter der Überschrift „aspects militaires“ etwas davon gesagt, daß die Industrie in Deutschland nicht durch andere Kontrollmaßnahmen behindert werden dürfe als durch diejenigen, die im Gutachten selbst bezeichnet wären16. Das kann man verschieden auslegen. Mit diesem Satz kann man nicht viel anfangen. Das könnte auch bedeuten, daß eine sogenannte unsichtbare Besatzung bleibt. Man versucht ja, namentlich in Belgien, die Micum beizubehalten. Man will dort Poincarésche Politik und nicht Herriotsche Politik machen. Wenn wir erklärt haben: ohne dem sind die Dinge im Reichstag nicht durchzubringen und ohne dem macht die Reichsregierung sie nicht, so bedeutet das, daß wir diese Frage, sei es auf der Londoner Konferenz, sei es in sonstigen Verhandlungen, zum Gegenstand der Verhandlungen machen und Sicherheiten verlangen für die Durchführung der Räumung. Diese Sicherheiten werden nicht bestehen in einer Erörterung dieser Frage. Das werden die Mächte ablehnen. England, weil es sagt: das geht uns nichts an, wir haben uns nicht daran beteiligt; Frankreich, weil es sagt, das steht nicht im Sachverständigengutachten. Ich habe mit dem englischen Botschafter17 über eine andere Form gesprochen, eine ebenfalls internationale Form, die uns aber diejenigen Sicherheiten gibt, die hierfür notwendig sind. Die Form kommt hier vielleicht weniger in Betracht. Aber ich möchte noch einmal zusammenfassen: diese Gelegenheit der Annahme des Sachverständigengutachtens – und ich gehe davon aus, daß wir es annehmen, die Reichsregierung ist dazu entschlossen – muß dazu benutzt werden, und der Sachverständigenplan ist nur tragbar, wenn wir dabei diese Räumung der deutschen Gebiete durchsetzen. Darauf sind alle Kräfte zu verwenden. Darum wird es der heftigste Kampf sein, der geführt wird.

16

Sachverständigen-Gutachten, S. 4 (Teil I, Abschn. III).

17

Lord D’Abernon.

Ich komme nun auf die Frage des modus procedendi. Ich muß bemerken, daß darüber auch ganz verschiedene Auffassungen zwischen der französischen Regierung und uns bestehen. Die französische Regierung hat die Absicht, so vorzugehen, daß der deutsche Reichstag erst die Gesetze, nämlich über Eisenbahnen, Banken etc. annimmt und daß dann die Londoner Konferenz diesen allgemeinen Vertrag festsetzt. Herriot hat gesagt: wenn Sie mit den Gesetzen nicht fertig sind, hat die Londoner Konferenz gar keinen Zweck, ich weiß ja gar nicht, was Deutschland machen wird.

Wir stehen demgegenüber auf einem anderen Standpunkt. Wir sind der Meinung, daß zwar die Reichsregierung, wenn die Organisationskomitees mit ihren Arbeiten fertig sind und sie damit einverstanden sein kann, sich einverstanden erklärt und nach London mit der Durchführung beginnt, daß wir im übrigen in London die ganzen politischen Fragen, die Frage des Inkrafttretens und des Vertrages beraten und daß wir mit denjenigen politischen Zugeständnissen in bezug auf die finanzielle und wirtschaftliche Einheit und deren unbedingt gesicherte Durchführung in bezug auf die Räumungsfrage nach Berlin zurückkehren, daß wir dann innerhalb einer gewissen Frist, die wir selber vorschlagen werden, dem Reichstag die Gesetze vorlegen, und daß wir in London[772] erklären, daß wir mit allen Mitteln dafür eintreten werden, daß diese Gesetze angenommen werden.

Um die Frage, wie prozediert werden soll, geht der Kampf. Wenn wir die Gesetze vorher annehmen sollten, würden die Gesetze sicher einen Zusatz bekommen. Wir müßten einmal die Gesetze als solche zur Annahme vorlegen und zweitens ein zweites Gesetz vorbereiten, worin wir sagen: sie treten in Kraft auf Grund eines besonderen Reichsgesetzes, damit wir ihr Inkrafttreten davon abhängig machen, wie die ganzen Dinge liegen. Wir würden im übrigen, bevor wir nach London gehen, die Gesetze dem Reichstag und dem Reichsrat vorlegen, damit kein Mißverständnis über unsere Haltung besteht, das übrigens nur in einigen Pariser Zeitungsredaktionen bestehen kann. Denn, daß wir uns bemühen, diese Gutachten zur Annahme zu bringen, versteht sich nach der Haltung der Reichsregierung von selbst.

Nun will ich auf den letzten Punkt eingehen, der von seiten einiger Länder auch der Reichsregierung zur Vorstellung gebracht ist. Das ist die Frage, bei Gelegenheit dieser Verhandlungen die Kriegsschuldlüge aufzurollen18. Es ist zum Ausdruck gebracht, daß schließlich auch dieses Sachverständigengutachten doch nur eine Folge derjenigen Bestimmungen des Versailler Vertrages sei, die von der Schuld Deutschlands am Weltkriege sprechen. Gestatten Sie mir, hier vom Standpunkt des Auswärtigen Amtes und vom Standpunkt meiner persönlichen Einstellung zu diesen Dingen darüber zu sprechen. Zunächst das eine: Ich sehe die Frage des Kampfes um die Kriegsschuldlüge an als einen Kampf, Deutschland freizumachen von der moralischen Diffamierung, der es durch diesen Artikel des Versailler Vertrages19 unterliegt. Ich sage aber ebenso offen, daß ich mich gar keinem Zweifel darüber hingebe, daß an den tatsächlichen realen Machtverhältnissen in Europa durch eine Änderung der Auffassung[773] der Welt über die Schuld Deutschlands am Kriege gar nichts geändert wird. Ich glaube, jeder, der sich auf Bismarck, auf Bismarcksche Realpolitik bezieht, wird sich sagen, daß die unglückliche Lage eines waffenlosen Staates diejenige ist, die leider, solange sich das nicht ändert, unser ganzes Schicksal mitbestimmen wird. Daß jemals englische Staatsmänner, französische Staatsmänner oder die Entente selbst offiziell und aktenmäßig sagen werden: Deutschland ist nicht schuld am Weltkriege, das halte ich für vollkommen ausgeschlossen. So etwas hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben. In dem Augenblick würden die Leute sich selbst an den Galgen bringen, und englische Realpolitik ist das niemals gewesen. Ich bitte, mir aus den Jahrhunderten einen Fall zu sagen, wo Staatsmänner etwas Derartiges getan haben.

18

In einem von StPräs. Bazille unterzeichneten Schreiben des Württ. StMin. an die RReg. vom 23. 6. heißt es: „Die Württ. Reg. hält es […] in Übereinstimmung mit dem ganzen württ. Volke für unbedingt geboten, daß die RReg alles tut, um die Prüfung der Kriegsschuldfrage durch einen unparteiischen Gerichtshof durchzusetzen. Sie glaubt, daß gerade die Verhandlungen über das Sachverständigengutachten, das zwar die Schuld Deutschlands am Krieg nicht direkt ausspricht, aber doch zwischen den Zeilen andeutet (vgl. Teil I Abschn. I Abs. 2, Abschn. XIV Abs. 1 am Ende […]), unbedingt dazu benützt werden müssen, um die Entscheidung eines unparteiischen Gerichts über die Grundlage der Reparationsverpflichtungen, die Schuld Deutschlands am Krieg, herbeizuführen.“ (R 43 I /808 , Bl. 31f). Mit Schreiben vom 30. 6. antwortete der RK: „Die RReg. befindet sich mit der Württ, Staatsreg. in voller Übereinstimmung darüber, daß die baldmöglichste Nachprüfung der Kriegsschuldfrage durch einen unparteiischen Gerichtshof ein dringendes Ziel der dt. Außenpolitik darstellt. Ob und inwieweit die demnächst zu erwartenden Verhandlungen über das Sachverständigengutachten zur Verwirklichung dieses Zieles eine geeignete Gelegenheit bieten werden, dürfte erst zu übersehen sein, wenn die näheren Modalitäten dieser Verhandlungen feststehen. Ich darf ergebenst anregen, daß anläßlich der auf den 3. 7. d. Js. anberaumten gemeinsamen Besprechung der Herren Staats- und Ministerpräsidenten der Länder mit der RReg. über das Sachverständigengutachten auch diese Frage zur Erörterung gestellt werde.“ Auf dem Reinkonzept dieses Antwortschreibens vermerkte Kempner am 1. 7.: „Ich habe Bedenken, daß von uns die Diskussion der Kriegsschuldfrage in der Ministerpräsidentenbesprechung angeregt wird. Es besteht so die Möglichkeit, daß eine unbequeme Diskussion hierüber geführt wird, wodurch nur Zeit verloren wird. Gegebenenfalls wird der Vorsitzende versuchen müssen, die Diskussion einzudämmen.“ Bracht hingegen vermerkte am 1. 7.: „Die Diskussion läßt sich m. E. doch nicht vermeiden.“ (R 43 I /808 , Bl. 34).

19

Art. 231 VV.

Ich sehe den Kampf als etwas ganz anderes an, als das Ziel, einmal die ganze Einstellung gegen uns zu ändern, diese Art, uns gegenüber zu verhandeln und uns zu behandeln, was übrigens auch zum Teil von uns selbst abhängt, wie wir uns von der anderen Seite behandeln lassen. Das zweite ist, den Zustand zu beseitigen, daß jetzt der Deutsche in der Welt mit gesenktem Haupte herumgehen muß, dafür zu sorgen, daß man in der Welt sieht: das ist eine politische Methode gewesen, um einen unerhörten Vertrag durchzubringen, aber es ist nicht moralische Wahrheit gewesen. Das ist meiner Meinung nach das, was wir erreichen können und zu erreichen doch auch schon auf dem besten Wege sind.

Ich möchte gegenüber manchen spöttischen Bemerkungen über die Veröffentlichungen des Auswärtigen Amtes über die deutsche Politik20 auf das Urteil hinweisen, das Herr Professor Hoetzsch in der Kreuzzeitung abgegeben hat. Er sagt da mit vollem Recht, daß diese Dokumente, die bald mehr als 20 Bände umfassen, ein derartiges Material sind, daß kein Gelehrter auf der ganzen Erde, der überhaupt über die Politik der letzten Jahrzehnte schreibt, an diesen Dokumenten vorbeigehen kann. Es handelt sich, wenn die Kriegsschuldlüge beseitigt werden soll, nicht darum, wie der eine und andere im engen Kreise denkt, sondern es kommt darauf an, was die Wissenschaft als Ergebnis feststellt und was später von der Wissenschaft an die Öffentlichkeit übergeht. Ich glaube, die anderen Mächte werden gezwungen sein, zum Teil ihre Archive zu öffnen, weil sie in die Defensive gedrängt werden durch diese Veröffentlichungen, weil sich danach die Behauptungen, daß Deutschland eine imperialistische Politik getrieben habe, nicht mehr halten lassen. Diese Dinge werden sich im Laufe der Jahre an jeder Universität unweigerlich durchsetzen.

20

Gemeint ist die Aktenpublikation aus dem Pol. Arch. des AA „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914“. Vgl. hierzu auch die Ausführungen Stresemanns auf der Tagung der südwestdt. Arbeitsgemeinschaft der DVP am 15. 6. in Karlsruhe, in: Stresemann, Vermächtnis I, S. 431 f.

Daneben steht aber die Frage, in der Öffentlichkeit für diese Dinge zu wirken, und ich glaube, daß nach der Richtung die Regierung kaum eine Gelegenheit vorbeigehen gelassen hat, um das zu tun.

Nun die Frage: ist im Sachverständigengutachten erneut eine Behauptung von deutscher Kriegsschuld enthalten? Das muß ich zurückweisen. Ich finde sie nicht im Sachverständigengutachten. Was dort gesagt ist, ist etwas ganz[774] anderes als die moralische sogenannte Kriegsschuld Deutschlands. Es ist dort gleich im Anfang gesagt: Deutschland, das keine Verwüstungen erlitten hat, hat die moralische Verpflichtung, Leistungen zu machen an diejenigen Länder, die durch den Krieg verwüstet worden sind21. Das ist nach meiner Auffassung die Gegenüberstellung, gegen die ich mich auch wende, von Deutschland als eines Landes, das im Besitz seiner ganzen wirtschaftlichen Hilfsquellen ist, gegen Frankreich und Belgien, die kaputt sind. Es ist ausdrücklich in demselben Paragraphen gesagt, daß alle diese Vorschläge keine Strafmaßnahmen darstellen. Der Versailler Vertrag enthält Strafmaßnahmen, aber gerade dieser Satz im Gutachten steht in schärfster Gegnerschaft zu dem betreffenden Artikel des Versailler Vertrages. Wenn in irgendeiner Form bei den Verhandlungen in London von gegnerischer Seite auch nur mit einem Worte von einer deutschen Kriegsschuld gesprochen werden sollte, die Deutschland verpflichte, das Gutachten auszuführen – ich glaube, Sie können versichert sein, daß der Herr Reichskanzler oder wer nach London geht, in der allerschärfsten Weise dagegen Protest einlegen und Anlaß nehmen wird, diesen Protest schriftlich einzureichen. Dagegen sage ich Ihnen ebenso offen: jetzt in diesem Stadium des letzten Kampfes um die Entscheidung die Frage der Kriegsschuldlüge in die Verhandlungen um das Sachverständigengutachten hineinzuwerfen, halte ich nicht für einen Schritt, der irgendeinen Erfolg mit sich bringt, sei es ein Erfolg nach der Richtung, daß irgend jemand darauf eingeht; wohl aber kann ein Mißerfolg dadurch herbeigeführt werden, daß die Situation sich dadurch außerordentlich versteift und daß wir nicht nur Frankreich, sondern noch einmal alle vorhandenen Mächte gegen uns haben, die uns in diesem Augenblick, wo auch uns daran gelegen sein muß, daß das Sachverständigengutachten durchgeführt wird, vorwerfen würden, daß wir diese Gelegenheit zu dieser Frage benutzten.

21

Sachverständigen-Gutachten, I. Teil, Abschn. I Abs. 2 (S. 3): „Der dt. Haushalt steht unter der beherrschenden Tatsache von Deutschlands Verpflichtung gegenüber den Alliierten auf Grund des Versailler Vertrags. Wir haben uns mit den praktischen Mitteln zur Einziehung dieser Schuld befaßt, nicht mit der Verhängung von Strafmaßnahmen, und die von uns vorgeschlagenen Sicherheiten sind wirtschaftlicher und nicht politischer Art. Es ist zudem keine gewöhnliche Schuld, mit der wir uns befassen, denn Deutschland hat keine nennenswerten Verwüstungen erlitten, und an erster Stelle steht seine moralische Verpflichtung denen gegenüber, die so schwer durch den Krieg gelitten haben.“

Ich habe meinerseits – ich glaube, daß das Kabinett mir darin zustimmen wird – einen anderen Zeitpunkt in Aussicht genommen. Ich bin der Meinung, daß wir in dem Augenblick, wo unsere Publikation abgeschlossen ist, was voraussichtlich in zwei bis drei Monaten der Fall sein wird22, diese Publikation den Regierungen der Welt übersenden und den Abschluß dieser Publikation zum Anlaß nehmen, um die Öffnung der Archive zu verlangen, um unsererseits unter Protest gegen die Kriegsschuldlüge eine amtliche Behandlung dieser Frage zu fordern. Dann haben Sie einen Anlaß, der nicht mit den jetzigen politischen Entscheidungen zusammenhängt. Wir können dann in einer Zeit, die nicht belastet ist durch politische Notwendigkeiten und Bedrückungen und in der unser Wirtschaftsleben die Möglichkeit ruhiger Entwicklung hat, diese ganze[775] Frage behandeln, wobei ich bemerke: ich hoffe, daß wir dann die politische Diffamierung loswerden, ich hoffe nicht, daß wir realpolitisch das geringste dadurch eintauschen. Wer mir irgendwie nachweisen kann, daß bei der Einstellung der Regierungen in Frankreich, England und anderwärts realpolitisch ein Erfolg daraus herzuleiten wäre, dem wäre ich dankbar. Ich habe die Empfindung, als wenn unser Volk in Gefahr ist, einer neuen Illusion zu unterliegen, nämlich der, daß, wenn wir mit dieser Frage durchkommen, der Versailler Frieden erledigt wäre, die ganze Reparationsfrage erledigt wäre. Das ist eine Auffassung, die leider keine realpolitische ist.

22

Tatsächlich wird die Aktenpublikation „Die große Politik der europäischen Kabinette“ erst 1927 abgeschlossen.

Darf ich noch zu der Frage der Annahme, der Beschleunigung der Durchführung eins sagen. Ich habe zum Ausdruck gebracht, daß wir das größte Interesse an einer beschleunigten Entscheidung über die Frage haben. Ich möchte das hier stark zum Ausdruck bringen. Ich glaube, der Herr Finanzminister, der Herr Wirtschaftsminister und die Ministerpräsidenten der Länder werden mit mir darüber übereinstimmen, daß eine Fortführung der Wirtschaft bei der gegenwärtigen Lage bis in den Oktober hinein sehr schwer zu tragen sein wird. Man glaubt nicht, was ein Volk leisten kann. Aber wie wir bei steigender Arbeitslosigkeit, Verminderung des Exports und einer Hoffnungslosigkeit in unserer Industrie, die jede Initiative tötet – das ist, glaube ich, das mindeste, was man diesbezüglich sagen muß –, noch die Micumverträge weiter finanzieren wollen, ist mir unklar. Tun wir das aber nicht, helfen wir der Kohlenindustrie, die dort von den Franzosen und Belgiern ausgebeutet wird, nicht, bewahren wir sie nicht vor diesen Lasten, dann habe ich die allergrößte Sorge. Es gilt verstärkt für die Frage des Nein, falls sich das aus der Reichstagsverhandlung ergeben würde, daß wir die Situation erleben, die der Herr Reichskanzler in der ersten Zeit seiner Kanzlerschaft und die ich während der ganzen Zeit meiner Kanzlerschaft erlebt habe, diese furchtbaren Verhandlungen mit den Vertretern des besetzten Gebietes, die nach Berlin kamen, um Hilfe riefen, und denen die Reichsregierung sagen mußte: wir können Euch nicht helfen. Das hat damals zu Belastungen im Rheinlande geführt, von denen sich mancher keine Vorstellung macht. In der Zeit, als man damit umging, die Goldnotenbank in Köln zu schaffen, habe ich die Empfindung gehabt: Es fängt mit der wirtschaftlichen Selbständigkeit an und endet mit der politischen Selbständigkeit. Wenn die Herren von der Industrie, die nun, glaube ich, schon über das Aktienkapital hinaus mit Schulden belastet sind, die schließlich für das Reich übernommen worden sind, vor die Frage gestellt würden, daß sie weiter Reparationsprovinz bleiben sollen, wenn der Zustand der Rechtsunsicherheit im besetzten Gebiet bleiben soll, bei dem die Menschen nicht wissen, ob sie nicht morgen Haus, Hof, Geschäft und Vermögen verlieren, wenn irgend ein Denunziant sie denunziert, wenn anstelle der ersten Entspannung, der Rückkehr der Gefangenen und Ausgewiesenen eine neue Poincarésche Politik kommen sollte, so habe ich die sehr bedenkliche Auffassung, die, glaube ich, durchaus begründet ist durch die Tatsachen, daß wir um die Einheit des Reiches spielen, um den Zusammenhang des deutschen Volkes, daß anstelle einer ruhigen Entwicklung, wie man sie jetzt dort erhofft, neue Kämpfe kämen, die das besetzte Gebiet nicht zu tragen vermöchte.

[776] Ich sehe bei einem Nein voraus, daß wir die ganze Welt einheitlich gegen uns haben, und da tröstet mich auch nicht, daß diese oder jene Zeitschrift, dieser oder jener Gelehrte eines neutralen Landes anderer Meinung ist. Ich habe mich dagegen gewandt, daß wir den Sachverständigenbericht den Dawes-Bericht nennen. Ich habe auch niemals gesagt: dieses Gutachten ist die wirtschaftliche Bibel. Das ist grober Unfug. Jedem von uns juckt es ja in den Fingern, eine Gegendenkschrift zu schreiben. Aber für die Amerikaner ist es, das habe ich gesagt, das Evangelium der Wirtschaft, ist es dieser Stolz, daß sie sagen: wir haben den Krieg entschieden, und wir haben nun den Frieden gemacht. Die Macht, die nein sagt, würde das Schwergewicht der Vereinigten Staaten gegen sich haben. Ich bin der Meinung, daß Frankreich nur ja sagt, weil es diese Einstellung fürchtet. Denn ich sehe in dem Gutachten noch einigermaßen eine Einstellung, wie sie einstmals die großen europäischen Mächte im Konflikt zwischen Rußland und Japan gegen Japan genommen haben. Das ist die Einstellung der anglo-amerikanischen Welt gegen den französischen Imperialismus. Die sagt: du mußt hier heraus, wir dulden nicht, daß du die Wirtschaftskraft Deutschlands aussaugst, du hast dich mit uns wirtschaftlich zu verständigen. England allein ist gegenüber Frankreich schwach. Wenn dagegen die Vereinigten Staaten nur auf den Knopf drücken und an Frankreich die Aufforderung richten, seine rückständigen Zinsen für die Kriegsschuld zu bezahlen, dann ist der Franken im Abgrund, dann ist die ganze französische Wirtschaft, sind alle französischen Rentner dem Nichts ausgesetzt, dem wir ausgesetzt gewesen sind beim Zusammenbruch unserer Währung. Deshalb darf das französische Kabinett nicht gegenüber Amerika ein Nein aussprechen.

Wenn wir aber nein sagen, ist die richtung Herriot glatt erledigt, dann kommen der General Castelnau und diese Leute, und was dann aus unserem bedrückten Volke werden wird, ist eine Frage, die niemand von uns beantworten kann. Wir würden keine Erleichterungen haben, im Gegenteil, wir würden auch im unbesetzten Gebiet wirtschaftlich den traurigsten Zuständen entgegengehen, wir würden uns politisch vollkommen zerfleischen und außenpolitisch keine Bewegungsfreiheit haben.

Ich möchte andererseits betonen: wenn jemand sagt, diese Dinge seien auf die Dauer nicht durchzuführen, dann soll er doch das Eine nicht vergessen, was ich nie als Außenminister vor Annahme des Gutachtens sagen werde: daß uns immer der Rückgriff auf den Artikel 91 bleibt, wo gesagt ist, daß Deutschland das Recht hat, die Nachprüfung seiner Leistungsfähigkeit zu fordern23, daß wir davon im Jahre 1927 Gebrauch machen können, daß wir in diesem Augenblick, da selbst die Sachverständigen gesagt haben, ihre Lösung sei eine provisorische, auch die Möglichkeit haben, nachdem drei Jahre wirtschaftlicher Entwicklung vor den Augen der Welt liegen und nicht ein deutscher Finanzminister darüber berichtet, sondern internationale Sachverständige sagen werden:[777] so sind die Einnahmen, so sind die Entwicklungen, – daß wir da auch die Möglichkeit haben, von den Milliarden herunterzukommen. Ich würde das heute nicht sagen, sonst würde man sofort rufen: Aha, sie haben das noch nicht unterschrieben, da denken sie schon wieder an das Nichterfüllen. Aber daß wir von diesem Recht Gebrauch machen, sobald die Dinge nicht so gehen, ist klar.

23

Gemeint ist wohl § 9 der Anlage II zu Teil VIII des VV; danach hat die Repko auf Antrag der dt. Reg. „alle Gründe und Beweise anzuhören, die von Deutschland hinsichtlich aller seine Zahlungsfähigkeit betreffenden Fragen vorgebracht werden“. S. auch Art. 234 des VV.

Und dann als letzte die Frage der Transferierung. Ich will nicht über die wirtschaftliche Frage der Transferierung sprechen. Ich sehe in diesem ganzen Transfer eine Institution, die ihre große politische Bedeutung hat, die sie vielleicht nach der Richtung hat, der Welt klar zu machen, daß der ganze Weg, Deutschland zu einem Reparationsland zu machen, überhaupt nicht geht. McKenna, der an diesem Komitee mitgewirkt hat, hat seinerzeit in London gesagt: zweierlei kann man nicht, man kann nicht von Deutschland Reparationen in großem Ausmaße verlangen und gleichzeitig Deutschlands Wiederaufstieg zu der ersten weltwirtschaftlichen Macht verwirklichen. Entweder zahlt Deutschland Reparationen, dann wird es gleichzeitig die ganze Welt wirtschaftlich beherrschen, und daran haben wir Engländer kein Interesse, oder Deutschland wird nicht in dieser Weise alle anderen Länder wirtschaftlich unterjochen, dann kann es auch keine Reparationen zahlen. Wenn es 2½ Milliarden Goldmark aus seinem Überschuß zahlen soll, involviert das eine wirtschaftliche Entwicklung, die viel größer sein müßte als die, die wir 1913 gehabt haben. Das ist unmöglich. Wenn aber dieser Überschuß nicht da ist, wenn dann Jahre hindurch der Transferagent sagen wird: ich habe die Steuern bekommen, ich kann sie euch aber nicht übertragen in die anderen Länder, das ertragen die anderen Länder nicht, dann ist der Augenblick gekommen, wo man sich aufs neue an den Tisch setzen wird, weil man sagen wird: es geht nicht, daß Deutschland diese Dinge nicht an die anderen Länder übertragen kann, ohne seine Währung zum Zusammenbruch zu bringen.

Aus dem Grunde habe ich das Empfinden, daß die Engländer sowohl ebenso wie die Amerikaner mit einem Augenblinzeln nach der politischen Seite die Dinge gemacht haben, um vor der Welt zu beweisen, daß die ganzen Reparationen nicht so gehen, wie man bisher geglaubt hat, wo man einfach sagte: Deutschland muß soundsoviel zahlen.

Dann noch ein Wort wegen der Endsumme. Hier wird gesagt, es sei ein Fehler, daß die Endsumme fehle. Der Meinung sind wir innerhalb der Reichsregierung nicht. Der Reichsverband der Deutschen Industrie hat gestern einen Beschluß gefaßt, in dem der Satz steht: seit seinem letzten Beschluß – das dürfte im April gewesen sein – hätten sich die Verhältnisse in Deutschland doch schon insoweit geändert, daß die Zweifel, ob wir die Leistungen erreichen können, stärker wären als früher24. So ungefähr heißt es da. Das ist eine[778] Entscheidung nach wenigen Monaten. Wenn wir in jenen Januar- und Februartagen, als die Sachverständigen ihr Gutachten machten, sie auch damit betraut hätten, die Endsumme festzustellen, wäre ebenfalls eine Summe herausgekommen, die jetzt innerhalb eines unteilbaren Ganzen wäre und bei der wahrscheinlich heute auch schon das ganze Volk aufschreien würde, so daß die Zweifel an der Erfüllbarkeit sich sehr verstärkt hätten. Wir hatten noch bis 1924 die ganz falsche Vorstellung der Welt von ganz ungemessenen Leistungen Deutschlands. Immer wieder finden Sie im Ausland die Auffassung: England hat 80 Milliarden Kriegsschulden zu verzinsen, das arme England; Frankreich hat eine geringere Kriegsschuld zu verzinsen, aber es hat die zerstörten Gebiete, das arme Frankreich; Deutschland hat dagegen sein ganzes wirtschaftliches Instrument intakt, es hat seine Industrie vergrößert, seht die gemeinen Kerle in Deutschland, die keine Reparationen zahlen wollen. Man übersieht natürlich, daß wir zwar das Instrument haben, aber kein Betriebskapital. Die internationale Verschuldung der deutschen Wirtschaft wird nicht gesehen. Es wird nicht gesehen, wie zerstört durch die Inflation die ganze wirtschaftliche Kraft Deutschlands ist. In dieser Zeit die Endsumme Deutschlands zu fordern, wäre ein Risiko gewesen, dem ich mich nicht unterworfen hätte. Lassen Sie einige Jahre vergehen, in denen Frankreich keine Reparationen bekommt, weil sie nicht zu zahlen sind aus dem Überschuß der deutschen Wirtschaft, und man wird über die endgültige Leistungsfähigkeit Deutschlands anders denken als bisher. Wir werden wieder in die Höhe kommen können. Es wird langsam gehen, nicht in der Form, wie die andern es sich vorstellen. Mir schwebt vor, daß man in irgendeiner Form fordert, innerhalb einer bestimmten Zeit die Fixierung festzusetzen, daß man sie aber gegenwärtig nicht fordern soll, weil die Summe heute höher werden würde als sie früher gewesen ist. Wenn Sie sehen, wie man Simons’ Angebot von 50 Milliarden höhnisch zurückgewiesen hat, wie Lloyd George sich darüber geäußert hat25, wie man das Angebot Cunos von 30 Milliarden als geeignete Grundlage bezeichnet hat26, so bin ich überzeugt, daß wir hier hinunter- und nicht heraufkommen mit der Entwicklung der nächsten Jahre.

24

Der Hauptausschuß des RdI nahm am 2. 7. nach Erörterung des Sachverständigen-Gutachtens folgende Resolution an: „Der Hauptausschuß des RdI bestätigt die Entschließung des Präsidiums und Vorstandes vom 24.4.1924 und erklärt, daß durch die inzwischen eingetretene Entwicklung der wirtschaftlichen Lage die Bedenken über die Erfüllbarkeit der Reparationsansprüche erheblich verstärkt sind. Er weist in Übereinstimmung mit der Grundbedingung des Gutachtens erneut darauf hin, daß die Wiederherstellung der vollen administrativen und wirtschaftlichen Souveränität des Dt. Reiches in den besetzten Gebieten Deutschlands für den Fall der Annahme des Gutachtens gesichert sein muß.“ (DAZ Nr. 308 vom 3. 7.). Die Entschließung vom 24. 4. hatte sich trotz mancher Bedenken für die Aufnahme von Verhandlungen auf der Grundlage des Sachverständigen-Gutachtens ausgesprochen.

25

Das Reparationsangebot RAM Simons’ vom 1.3.21 und die Stellungnahme Lloyd Georges vom 3.3.21 im Weißbuch des AA „Sammlung von Aktenstücken über die Verhandlungen auf der Konferenz zu London vom 1. bis 7.3.1921“ (RT-Drucks. Nr. 1640 , S. 137 ff., RT-Bd. 366 ); s. auch Schultheß 1921, Bd. II, S. 240 ff.

26

Tatsächlich wurde das dt. Reparationsangebot vom 2.5.23, auf das sich Stresemann hier bezieht, von den Alliierten als unzureichend abgelehnt. Vgl. das Weißbuch des AA „Notenwechsel der Alliierten im Anschluß an die dt. Noten vom 2. 5. und 7.6.1923“ (RT-Drucks. Nr. 6204, Bd. 379 ); Ursachen und Folgen, Bd. V, Dok. Nr. 1044.

Das ist im wesentlichen die Stellung, die die Reichsregierung in dieser Frage politisch einnimmt, über die ich hier heute einleitend berichten wollte.

ReichskanzlerMarx: Ich danke dem Herrn Reichsaußenminister für seine eingehenden Ausführungen. Ich darf nunmehr den Herrn Reichsfinanzminister bitten, sein Referat zu erstatten.

[779] Reichsminister der Finanzen Dr. Luther: Meine Herren! Es ist gewiß sehr schwer für die Herren, noch ein zweites umfangreiches Referat entgegenzunehmen. Ich werde mich daher bemühen, kurz zu sein, besonders da ich annehme, daß die Dinge den Herren alle geläufig sind und ich nur noch einmal auf den Zusammenhang der Dinge hinzuweisen habe. Wir müssen, wenn wir die richtige Stellung zu der Frage, die jetzt zu entscheiden ist: Annahme oder Nichtannahme, finden wollen, uns unsere wirtschaftliche und finanzielle Lage, wie sie im Augenblick ist, vor Augen führen. Ich glaube, daß wir unsere gesamte Lage nur verstehen, wenn wir uns die gesamte Entwicklung seit dem Waffenstillstand noch einmal vergegenwärtigen.

Seit dem Waffenstillstand – und dasselbe gilt auch schon für die Kriegszeit – ist unsere gesamte Wirtschaft passiv. Ich meine damit nicht nur, daß wir dauernd eine passive Handelsbilanz haben, sondern ich meine, daß unsere ganze Wirtschaft während des Krieges und seit dem Kriege von der Substanz lebte. Das hat sich in drei verschiedenen Formen ausgedrückt. Während des Krieges hat es sich ausgedrückt durch die ungeheuren Schulden, die das Reich gemacht hat. Der Weg, auf dem es flüssige Geldbeträge aus der Wirtschaft und aus dem Volke herausgezogen hat, war der der Kriegsanleihe. Seit dem Kriegsende hat sich das in zwei verschiedenen Formen ausgedrückt. Davon war die erstere die Inflation, und die zweite ist der Zustand, in dem wir seit dem 15. November v. J.27 gelebt haben.

27

Beginn der Rentenmarkausgabe, der Währungs- und Haushaltsstabilisierung.

In der Inflation ist es ja durchaus nicht so gewesen, daß wir etwa von dem Papier gelebt hätten – davon kann kein Volk leben –, sondern dieses gedruckte Papier ist ja nur eine Ausdrucksform dafür gewesen, daß wir das gesamte Sparkapital Deutschlands aufgezehrt haben. Dabei ist das Kapital zum Teil noch verschoben worden. Es ist zum Teil in wirtschaftliche Unternehmungen gegangen, die sich ausgeweitet haben. Aber das ist ein Nebenvorgang. Der Hauptvorgang ist der, daß wir unser Sparkapital aufgezehrt haben.

Und was vollzieht sich nun seit dem 15. November im dritten Stadium? Da haben wir, wie man sagen kann, das, was noch übrig war, zugunsten der öffentlichen Verbände in Anspruch genommen. Was sich seit dem 15. November abgespielt hat, ist eine grobe Methode gewesen, um die Ersparnisse, die in der Wirtschaft noch vorhanden waren, auf dem Wege der Steuern hinüberzuführen in die öffentliche Wirtschaft. In der zweiten Periode, in der Inflationswirtschaft, haben wir die öffentliche Wirtschaft verfallen lassen. Seit dem 15. November haben wir die öffentliche Wirtschaft festgehalten. Wir haben es gemußt, weil auf dem Inflationswege ein weiteres Vorangehen nicht mehr möglich war, und wir haben nun die öffentliche Wirtschaft aufrechterhalten aus den letzten Beständen der privaten Wirtschaft heraus. Denn daran kann gar kein Zweifel sein, daß das Gesamtbild der Steuern seit dem 15. November nur möglich gewesen ist, weil diese Steuern in die Substanz erheblich hineingegangen sind; nicht etwa so, als wenn man aus der Wirtschaft mehr herausholen könnte, als an sich an Ertrag noch drin ist. Das ist überhaupt unmöglich. Man[780] kann nicht alles mobilisieren. Aber solange noch irgendwer in der Wirtschaft sich mit Kaufkraft fand, der von dem anderen, der der Gegenstand unseres steuerlichen Zugriffs war, zu kaufen bereit war, haben wir von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Nehmen Sie das Vieh auf dem Lande. Natürlich hört das dann auf, wenn niemand mehr da ist, der Vieh kauft. Dann gibt es überhaupt keine Methode mehr, Steuern herauszuholen. Dann kann nur noch Vieh aufgetrieben werden, und damit können keine Staatsschulden, damit können keine Beamten bezahlt werden. Solange aber noch Leute da sind, die bereit und in der Lage sind, dieses Vieh zu kaufen, ist die Möglichkeit gegeben, mit Hilfe dieser Kaufkraft diese Objekte steuerlich in die öffentliche Hand zu bringen.

Wenn wir uns diese drei Stufen vor Augen halten, in denen wir unsere Wirtschaft innerlich aufgezehrt haben, so müssen wir jetzt, wenn wir uns keine Illusionen vormachen wollen, feststellen, daß wir dicht am Ende sind. Was sich auf der steuerlichen Seite ergibt, ist heute so, daß wir sehr bald mit einem starken Fallen der Steuereinnahmen zu rechnen haben werden. Das Fallen ist bereits eingetreten. Zum Beispiel ist festgestellt, daß an einer Stelle, wo das Wirtschaftsleben noch immer stark im Schwung ist, nämlich in Groß-Berlin, sich die Junieinnahmen an Umsatzsteuer gegenüber der Maieinnahme um 10% gesenkt haben. Das ist zunächst ein Symptom, aber dazu kommen viele andere, die die Herren alle aus den Teilen des Reichs kennen, die Ihrer besonderen Fürsorge anvertraut sind. Überall dasselbe Bild. Wir haben uns also zu sagen: Wir sind mit unserer Wirtschaftskraft am Ende, was soll nun geschehen?

Es gibt überhaupt nur zwei Wege – theoretisch natürlich drei Wege –, um einer Wirtschaft, der schließlich so gut wie aller Kredit abhanden gekommen ist, wieder Kredit zu verschaffen. Der eine Weg ist der, daß man durch fleißige Arbeit im Innern allmählich wieder Sparkapital ansammelt und dadurch wieder Kreditmöglichkeiten eröffnet. Dieser eine Weg ist auf jeden Fall der endgültige. Einen anderen Weg gibt es auf die Dauer überhaupt nicht, um ein Volk wieder lebensfähig zu machen. Aber dieser Weg ist außerordentlich langwierig. Das wird im besten Falle Jahrzehnte dauern, bis wir auf diese Weise wieder derartige Kredite aus der eigenen Wirtschaft durch den Fleiß unserer Bevölkerung herausgeholt haben. Dieser Weg nutzt uns im Augenblick also gar nichts. Die gewiß sehr wichtigen und interessanten Erörterungen darüber, wie man den Spartrieb der Bevölkerung neu beleben kann, sind alles Gedankengänge auf lange Frist. Für die Not der Stunde bedeuten sie nichts.

Dann bleiben die beiden anderen Wege übrig: die neue Inflation oder ausländische Kredite. Was die neue Inflation betrifft, so habe ich das Gefühl, als wenn in unserem vergeßlichen deutschen Volke sich tatsächlich so allmählich überall eine Stimmung vorbereitet, vorläufig nur flüsternd: warum macht man eigentlich keine neue Inflation? Man denkt so an die Zeit 1920, wo wir ja ein Jahr erlebt haben, wo die Inflation noch milde war und infolgedessen recht flott gelebt wurde. Die Leute haben eine ganze Menge verdient. Die Preise in Deutschland waren relativ niedrig. Es war eigentlich eine ganz[781] schöne Zeit, und man denkt so daran: soll man nicht an diese neue Inflation herangehen? Nach dieser Richtung hin sind sogar schon Beschlüsse gefaßt worden, die – ich glaube das auch hier aussprechen zu dürfen, weil es symptomatisch ist – durchaus gefährlich sind. Ein deutscher Landtag hat, wenn ich recht unterrichtet bin, den Beschluß gefaßt, es sollten sogenannte Bauscheine ausgegeben werden; d. h. es sollten von dem betreffenden Lande mit Genehmigung des Reiches als der Währungsinstanz in der Summe von soundsoviel Millionen Papier gedruckt werden, deren Zweck es ist, als Zahlungsmittel umzulaufen, die von den öffentlichen Kassen des Landes angenommen werden sollen, also Geld sind, und damit will man dann Häuser bauen, aus dem berechtigten Ziel heraus, Wohnungsmöglichkeiten zu schaffen, und man hört schon wieder, das sei keine Inflation. Als diese Nachricht zuerst zu mir kam, bin ich wahrhaftig überrascht gewesen. Es sind genau dieselben Argumente, die wir von 1918 an, nur von anderen Kreisen, gehört haben; genau derselbe ungeheure Fehlgedanke: wenn man aus dem gedruckten Papier Werte schafft, sei die Geschichte keine Inflation. So spukt also bei uns der Inflationsgedanke schon wieder in durchaus gefährlicher Form umher.

Folgen wir nun ruhig einmal dem Gedankengang und untersuchen wir, was solche Inflation bedeuten würde. 1918, als die Inflation begann – tatsächlich hat sie ja schon während des Krieges begonnen, nur ist sie durch Zwangsmaßnahmen niedergehalten worden –, hatten wir noch ein wesentliches Stück Sparkapital in Deutschland. Da haben wir ja mit den Mitteln der Inflation nicht von dem Papier gelebt, sondern von diesem Sparkapital, das wir aufgezehrt haben. Dieses Sparkapital ist heute unbestrittenermaßen nicht mehr da. Das würde zur Folge haben, daß jede neue Inflation ein geradezu rasendes Schrittmaß annehmen würde und uns in einer Frist, die man sich gar nicht kurz genug vorstellen kann, vollkommen in den Abgrund werfen würde, nämlich in den Abgrund, wo man in Deutschland ein Zahlungsmittel überhaupt nicht mehr annehmen würde, wo infolgedessen das ganze Wirtschaftsleben immobilisiert wäre, wo hungernde und verrückt werdende Städter aufs Land ziehen würden und die Ernte noch verbrennen würden, von der sie leben wollen. Das wäre das Unglück, das sich wahrscheinlich vollziehen würde.

Man kann auch auf anderem Wege zu diesem Gedankengang kommen. Wir haben in Deutschland im Augenblick der Stabilisierung am 15. November an Zahlungsmitteln umlaufen gehabt ein Viertel von dem, was heute umläuft, praktisch noch viel weniger, weil es damals kein Giralgeld gab, das es heute wieder in Menge gibt28. Jedenfalls hatten wir nur einen erheblich geringeren Teil an Zahlungsmitteln im Umlauf. Wie erklärt sich das? Dadurch, daß damals, wo das Geld gar nichts mehr wert war, eine ganz rasende Umlaufsgeschwindigkeit bestand. Wenn ich eine Sache schnell umlaufen lasse, brauche ich eben, um denselben Weg zurückzulegen, viel weniger von dem Gegenstand, als wenn er langsam umläuft. Jetzt haben wir das Fünf- bis Sechsfache von Geld umlaufen.[782] Sobald aber jetzt die ersten Inflationszeichen sich einstellen würden, sobald die Leute beobachten würden, daß die Ware am nächsten Tag mehr kostet als am vorhergehenden, würde selbst unser vergeßliches deutsches Volk sich der entsetzlichen Verhältnisse vom vorigen Oktober und Anfang November sofort wieder erinnern. Das Geld würde sofort den Leuten wieder in der Tasche brennen. Jeder würde danach streben, das Geld sofort auszugeben, und wir würden im selben Augenblick wahrscheinlich das Fünf- oder Sechsfache zuviel an Zahlungsmitteln im Umlauf haben. Das würde bedeuten, daß die Preise sofort auf das Fünf- bis Sechsfache steigen würden. Wir würden im Anfang einer neuen Inflation, sobald sie in das Bewußtsein der Bevölkerung eingetreten wäre, nicht ein Abgleiten des Stromes haben, sondern sofort einen Wasserfall, der uns in ganz unerträgliche Verhältnisse stürzen würde. Also wie man die Frage der Inflation ansehen mag, die Inflation ist unmöglich.

28

Zur Entwicklung des Geldumlaufs vgl. Statistisches Jbch. für das Dt. Reich 1924/25, S. 313; ferner die Tabelle bei Netzband/Widmaier, Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther, S. 62.

Dann bleibt nichts weiter übrig als der dritte Weg, der Weg ausländischer Kredite. Ich sehe gar keinen anderen Weg, wenn unsere Volkswirtschaft weiter leben soll. Das ist für mich, der ich die Aufgabe habe, die Dinge wirtschaftlich und finanziell mit der ganzen dabei erforderlichen Nüchternheit anzusehen, der Kernpunkt der Entscheidung über das Sachverständigengutachten. Ich möchte dazu folgendes bemerken. Unter den vielen Aufsätzen, die man gegen das Sachverständigengutachten liest und bei denen einem sicher manchmal das Herz warm wird, weil darin so vieles steht, was uns auch innerlich etwas bewegt, habe ich bisher auch noch in keinem die Andeutung dieser wirtschaftlichen Folgen gefunden. Ich weiß nicht, ob es einem der Herren anders gegangen ist. Ich habe nichts anderes gesehen als den Vorschlag einer versteckten Inflation. Man könnte sagen: das ist richtig, es wird aber noch ein paar Monate gehen, es ist ja bisher auch gegangen. Ich kann die Verantwortung dafür nicht übernehmen, wenn wir jetzt bis zum Oktober auf derselben bisherigen Basis weitergehen sollen.

Was zunächst die Finanzen des Reiches anbetrifft – und darin spiegeln sich ja auch die Finanzen der Länder und Gemeinden, seit wir die Einkommensteuer für sie miterheben, wider –, so ist ja in der letzten Zeit eine gewisse Verwirrung in der Öffentlichkeit durch die Reichsbankausweise entstanden, eine Verwirrung im Inlande und im Auslande, die ich bedaure, die aber kaum zu vermeiden gewesen ist. Der Tatbestand ist ja seit Monaten der – ich glaube, daß ich bald Veranlassung habe, mich vor den Vertretern der Länder hierüber ausführlich zu äußern –: daß wir niemals einen wirklich irgendwie nennenswerten Bestand an Geld aus Steuereinnahmen in unseren Kassen gehabt haben, sondern wir haben uns, da wir keinen Betriebsfonds im Reich besitzen – und die Herren werden zugeben, daß bei einem Gesamtumschlag von acht Milliarden Mark das immerhin ein Geschäft von solcher Ausdehnung ist, daß man einen gewissen Betriebsfonds dafür haben muß –, uns irgendwie helfen müssen. Das Reich hat vor dem Kriege, als es die Steuern für die Länder nicht in dem Umfang miterhob, 600 Millionen Mark Betriebsfonds gehabt. Wir mußten also einen Betriebsfonds haben, um von einer Steuerzahlung zur anderen weiterkommen zu können. Den konnten wir uns nur beschaffen auf dem Wege der kurzfristigen Rentenmarkschatzwechsel. Diese Rentenmarkschatzwechsel wurden vom Publikum[783] alsbald – sie laufen seit Ende Januar, Anfang Februar – nett aufgenommen, aber ganz allmählich29. Wir hatten infolgedessen der Reichsbank Auftrag gegeben, alles hineinzunehmen, was für Rentenmarkschatzwechsel gezeichnet wurde. Sehr zu Hilfe kam uns, daß sich der Postscheckverkehr stark entwickelte und die Post in erheblichem Umfang die Rentenmarkschatzwechsel als Anlagemittel für die bei ihr ruhenden Giralgelder kaufte. Nun hat sich in den letzten Wochen ein gewisser Überfluß an täglichem Geld gezeigt. Dieser Überfluß an täglichem Geld ist kein gutes Symptom, sondern ein schlechtes. Das ist nämlich ein Symptom dafür, daß die ungeheure Vertrauenskrise die Menschen noch mehr als bisher hemmt, irgendwelche langfristigen Anlagen zu machen. Jeder will sein Geld sofort wiederhaben können. So legen die Leute alle ihr Geld kurzfristig an. Die Banken suchen dafür eine Rückendeckung und stürzen sich mit einemmal in diese Reichsrentenmarkschatzwechsel, die für sie die beste Rückendeckung sind. So stieg auf diesem Wege unser Bargeld bei der Reichsbank erstaunlich an. Diesen Weg mußten wir gehen, bis wir zwei Ziele erreicht hatten: Einmal die Sicherung eines bestimmten Betriebsfonds; gerade solche Schwierigkeiten wie die mit den Micumverträgen, die ganz plötzlich große Ansprüche an die Reichskasse stellen, machen einen Betriebsfonds noch notwendiger als sonst. Zweitens war das ganze Verfahren rein wirtschaftlich solange unbedenklich, wie es der Reichsbank möglich war, nach ihrer gesamten Politik die ihr so zuströmenden Mittel ihrerseits wieder als Kredit in die Wirtschaft zu führen. Wenn wir die Rentenmarkschatzwechsel nicht ausgegeben hätten, würde sich nicht ohne weiteres der langfristige Kredit aus der Hand der eigentlichen Eigentümer verwandelt haben, sondern die Leute hätten das Geld in erheblichem Umfang in der Tasche liegen lassen. Damit war unserer Wirtschaft auch nicht gedient, während die Gelder auf diesem Wege über die Banken und die Reichsbank einer Stelle zugeführt wurden, die daraus Kredite für die Wirtschaft nehmen konnte. Das war alles nur bis zu einer gewissen Grenze möglich. Von einem bestimmten Augenblick an mußten wir das ganze Geschäft rückwärts machen. Das wirkt sich nicht sofort aus. Die Sache kann sich erst allmählich auswirken. Während wir einen Bestand an Reichsguthaben am 23. Juni noch von 450 Millionen hatten, war der Bestand am 30. Juni nur noch 300 Millionen, und er ist seitdem dauernd weiter heruntergegangen. Nun steckten in diesen Beträgen an reichseigenen Geldern am 30. Juni 60 Millionen. Diese 60 Millionen sind der gesamte reichseigene Betriebsfonds, das übrige ist kurzfristiges Geld, das jeden Tag wieder flüssig gemacht werden kann.

29

Vgl. hierzu Statistisches Jbch. für das Dt. Reich 1924/25, S. 354; Netzband/Widmaier, S. 221 f.

Nun arbeite ich neben dem Haushaltsplan, den wir alle ja mit schönem Eifer aufgestellt haben und der nach Lage der Dinge zur Zeit ein etwas wissenschaftliches Werk darstellt (Heiterkeit), mit sogenannten Kassenplänen; d. h. ich mache mir immer auf bestimmte Stichtage klar, wie ich an diesen Stichtagen vermutlich stehen werde. Dabei komme ich zu dem Ergebnis, daß ich nach jetzigen Schätzungen unter Einschätzung eines gewissen Rückganges in den Steuern – der natürlich viel größer sein kann, dann ist meine Rechnung falsch –[784] zum 1. Oktober einen Fehlbetrag von 140 Millionen habe30. Das sind natürlich alles Schätzungen. Es kann am 1. Oktober anders aussehen, aber gerade die Herren Finanzminister werden mir bestätigen, daß man nichts anderes tun kann, als auf den einmal gegebenen Grundlagen sich die Dinge so klar zu machen, wie es nur denkbar ist.

30

Diese Prognose erweist sich als zu pessimistisch. In den folgenden Monaten erzielt das Reich bei steigenden Steuereinnahmen durchweg Überschüsse. Vgl. Statistisches Jbch. für das Dt. Reich 1924/25, S. 349 ff.; Netzband/Widmaier, S. 235 f., 266 f.

Dieser Zustand würde bedeuten, daß ich zum Weiterleben ganz auf die kurzfristigen Kredite angewiesen bin, die mir, wie das im Wesen der Dinge liegt, nur auf kurze Frist zur Verfügung stehen.

Ich glaube, dieses Bild zeigt – wobei ich übrigens bemerken möchte, daß in diese 140 Millionen die Micum-Ausgaben für Juli31 noch nicht eingerechnet sind –, daß wir zum 1. Oktober schon sehr trübe stehen. Ich will vollständig sein, ich habe einen gewissen Ausgleich nicht nur kraft der Rentenmarkschatzwechsel; denn es ist noch ein Rentenbankkredit von 100 Millionen draußen, den ich kurzfristig bis zum 28. Juli habe. Das hängt so zusammen: Der ganze Rentenbankkredit umfaßte 1,2 Milliarden. Von diesen waren 300 Millionen für die Rücknahme des umlaufenden Papiergeldes bestimmt, soweit es auf Diskontierung von Reichsschatzanweisungen beruhte, und 900 Millionen sollten der Hilfskredit für das Reich sein, um über die Zwischenzeit hinwegzukommen32. Diese 900 Millionen sind längst verbraucht. Bei den 300 Millionen Umtauschgeld für das Papiergeld aber war es so, daß wir sie nicht gebraucht haben, weil am 15. November nur 193 Millionen Papiergeld nach dem damaligen Umrechnungskurse in Dollar umgelaufen sind, so daß wir da einen Mehrbetrag von 100 Millionen zur Verfügung haben33. Dieser Mehrbetrag ist im Sachverständigengutachten nicht berücksichtigt. Die Herren werden sich erinnern, daß bei den Erörterungen über die Rentenbank immer die Rede von 1,1 Milliarden und nicht 1,2 Milliarden ist. Das hängt damit zusammen, daß diese 100 Millionen zur Zeit, als das Sachverständigengutachten aufgestellt wurde, nicht in der Hand des Reiches waren34. Die Rentenbank hat sich erst allmählich entschlossen, uns dieses Geld kurzfristig zu geben, und wir verhandeln nun darüber und hoffen, zu dem Ergebnis zu kommen, daß wir diese 100 Millionen auch noch langfristig bekommen. Um diese 100 Millionen würde sich also, wenn diese Verhandlungen zu positivem Ergebnis führen, mein Status per 1. Oktober verbessern,[785] sofern ich sie langfristig bekomme. Sie werden mir zugeben, das Bild ist nicht gerade berauschend.

31

Vgl. die Finanzierungszusage des Reichs für die Micum-Lieferungen des Ruhrbergbaus in der Besprechung mit der Sechserkommission am 29. 6. (Dok. Nr. 239).

32

Zum Rentenbankkredit an das Reich s. die Rentenbank-VO vom 15.10.23, § 16 Abs. 2 und § 17 Abs. 1 (RGBl. I, S. 965  f.).

33

Gemeint ist folgendes: Gemäß der Rentenbank-VO sollte das Reich von der Rentenbank einen Kredit von 300 Mio Rentenmark zur Einlösung seiner schwebenden Papiermarkschuld bei der Rbk erhalten, die aus der Diskontierung von Schatzanweisungen herrührte. Diese Schuld belief sich am 15.11.23, dem Beginn der Rentenmarkausgabe, auf 191,6 Trill. Papiermark. Nachdem am 20.11.23 der Wechselkurs auf 1 Bill. Papiermark = 1 Rentenmark festgesetzt worden war, konnte das Reich seine schwebende Schuld bei der Rbk mit weniger als 200 Mio Rentenmark einlösen. Dadurch blieben dem Reich von dem 300-Mio-Schuldentilgungskredit mehr als 100 Mio Rentenmark für Haushaltszwecke zur Verfügung.

34

Das Sachverständigen-Gutachten vom 9.4.24 (S. 96) beziffert den vom Reich in Anspruch genommenen Rentenbankkredit auf 1,1 Mrd. Rentenmark (900 + 200 Mio).

Fragen wir uns, wie die Sache in der Wirtschaft bis zum 1. Oktober werden soll, so haben wir folgendes Problem vor uns:

Steigende Erwerbslosigkeit an sich, die ja ein gewisses Maß nicht übersteigen wird. Sie wird zu tragen sein, so schwer es ist. Das Schlimmste besteht hier in der Richtung der Landwirtschaft. Wir haben vorläufig die ernsteste Sorge, wie wir überhaupt das Geschäft des Ernteeinbringens finanzieren. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Landwirtschaft früher in diesen Umlauf der Kredite gar nicht eingespannt war. Wir tragen hier die Folgen eines geschichtlichen Werdeganges unseres ganzen Kreditwesens. Unser Kreditwesen, das auf das Drei-Monats-Akzept abgestellt ist, ist im Handel entstanden und ist vom Handel nachher mit gewissen Methoden des paarmaligen Umdrehens der Wechsel angepaßt worden, und zwar auf die industrielle Wirtschaftswelt, aber nicht auf die Landwirtschaft, sondern die Landwirtschaft hat von dem eigenen Kapital gelebt oder auf dem Umweg der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Diese beiden Quellen versagen nun auch, und so stehen wir vor dem Problem: Wie können wir ohne Inflation die Ernte finanzieren?

Dazu kommt etwas weiteres. Wir wollen auch in Zukunft leben, nicht bloß die nächsten Monate. Dafür sind wir in Deutschland in stärkstem Maße von den künstlichen Düngemitteln abhängig. Jetzt sind die Düngemittelfabriken auch ohne Kredit. Es ist eine alte Erfahrung, die den Wirtschaftsverhältnissen vollkommen entspricht, daß der Landwirt in der Vegetationsperiode Düngemittel nicht gekauft hat. Das Düngemitteljahr schließt überall mit dem 31. Mai, dann ist einige Monate rein auf Lager gearbeitet und nachher wieder verkauft worden. Um über diese Monate hinwegzukommen, brauchen aber die Düngemittelfabriken Kredite, und selbst wenn man sich vor Augen hält, daß vielleicht angesichts der Armut der Landwirtschaft im nächsten Jahre nicht der volle Bestand an Düngemitteln abgenommen werden wird, so muß mindestens ein wesentlicher Teil hergestellt werden. Wir sind ja Auslauf Mai beim Ammoniak mit ungefähr einem Monatsbestande Vorrat herausgegangen. Das ist sicherlich nicht ausreichend. Daß so viel daliegt, beruht zum Teil auf der Kreditarmut der Landwirtschaft, zum Teil auf einer gewissen kritischen Stellungnahme zum Ammoniak, die sich in der Landwirtschaft in der letzten Zeit verbreitet hat. Die Kalkstickstoffmengen sind zum 31. Mai aufgebraucht.

Das ist das zweite ungeheure Problem. Wenn wir die Arbeitslosigkeit in der Industrie in Kauf nehmen, ist das zweite ungeheure Problem die Beschaffung des Stickstoffs für die Bestellung der Landwirtschaft. Das sind Tatsachen, denen gegenüber m. E. niemand erklären kann: Ich übernehme die Verantwortung dafür, daß wir auf der jetzigen Grundlage bis in den Oktober hinein weiterleben können, sondern das sind Tatbestände, die jeden Verantwortlichen zwingen, alles nur mögliche zu tun, um über diese unglückliche August- und Septemberperiode, wo die englisch sprechenden Staatsmänner irgendwo in der Welt sind, nur nicht an ihrem Arbeitstisch, hinwegzukommen.

Nun zum Sachverständigengutachten. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen die einzelnen Zahlen für die Jahre noch einmal vortragen soll. Es ist wohl nicht[786] notwendig. Richtig ist sicher, was der Herr Außenminister sagte, daß der ungeheure Druck von den 2,5 Milliarden auf uns erst nach einer Reihe von Jahren fällt und daß es angesichts unserer Notlage zu viel wäre, wenn von uns verlangt wird, jetzt schon zu sagen, daß wir im Jahre 1928 2,5 Milliarden zahlen können. Die überwiegende Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß wir dazu nicht in der Lage sein werden. Aber ein glattes Ja oder Nein kann Ihnen kein Mensch heute sagen. Dann bleibt aber das übrig, was vorhin der Herr Reichsaußenminister über die erzieherische Wirkung des Gutachtens in seiner praktischen Anwendung gesagt hat.

Da ist es vielleicht ganz interessant, Ihnen eine Stimme aus dem Auslande mitzuteilen, die ja die Dinge manchmal hübsch zusammenfaßt. Der uns allen wohlbekannte Professor Cassel hat, wie ich eben in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ lese, über das Gutachten ein sehr kluges Wort gesagt: Zusammenfassend könne gesagt werden, daß der Dawes-Plan an sich keine Lösung der Reparationsfrage sei, wohl aber ein Rahmen, innerhalb dessen die Alliierten sich allmählich selber einer Lösung näher arbeiten und die wirkliche Begrenzung der Möglichkeiten ihrer Forderungen kennenlernen können35. Das ist meines Erachtens sehr prägnant ausgesprochen, wie die Dinge liegen.

35

DAZ Nr. 308 vom 3. 7.

Was müssen wir nun tun, wenn wir das Gutachten angenommen haben? Zunächst müssen wir eine Forderung immer und immer wieder in die Welt hinausschreien, die ich auch bei allen Verhandlungen mit den Sachverständigenkomitee[s] ausgesprochen habe. Es kommt auch im Gutachten mehrfach als besonders von mir aufgestellte Forderung zutage: Wir müssen den freien Wirtschaftsverkehr in der Welt haben. Ohne den freien Wirtschaftsverkehr in der Welt ist die ganze Geschichte natürlich Unsinn. Selbstverständlich rennen wir damit wieder gegen eine Interessentenmauer draußen an. Aber das sind dann die Vorgänge, an denen die Alliierten lernen müssen.

Wir müssen selbstverständlich im Innern äußerste Sparsamkeit üben. Wir werden in der Verteilung unseres öffentlichen Aufkommens dafür sorgen müssen, daß das Bild nicht weitergeht, was heute wenigstens für eine große Zahl von Gemeinden besteht, daß nämlich eine große Zahl von Gemeinden sich im Besitz von zu viel Geldmitteln befindet. Ich glaube nicht, daß die Herren Vertreter der Länder in der Lage sein werden, diese Behauptung zu bestreiten. (Zuruf) Ich habe nur gesagt, eine große Zahl von Gemeinden, obwohl ich dazu feststellen muß, daß ich ohne jede Macht bin, an dem Tatbestande etwas zu ändern. Das reicht nur in die Machtsphäre der Länder hinein. Ich muß die dringende Bitte aussprechen, alles zu tun, damit diesen Übereinnahmen, die sicher nicht in allen Gemeinden, aber in vielen und in maßgebenden und großen Gemeinden vorhanden sind, ein Ende gemacht wird.

(Erster Bürgermeister Petersen, Hamburg: Wie wird es im Herbst in den Gemeinden, wenn die Steuern zurückgehen?)

Dann haben die Gemeinden im Sommer unzweifelhaft zu viel gehabt.

Dann ist in dem Gutachten ein Punkt, aus dem man entnimmt, daß die Hoffnung auf eine Möglichkeit des Lernens bei den Alliierten nicht ganz unbegründet[787] ist. Das sind nämlich die Vorschriften über den sogenannten Transfer, also über die Übertragung. Das haben die Alliierten jetzt schon gelernt. Denkende Menschen haben das schon vor fünf Jahren gewußt. Die Sache ist gar nicht so übermäßig schwierig. Aber gelernt ist es doch erst an der tatsächlichen Erfahrung, wie sie sich in Deutschland vollzogen hat. Wir können also eine gewisse, wenn auch sehr vorsichtige Hoffnung darauf gründen, daß die Alliierten auch weiter imstande sein werden zu lernen.

Aber der springende Punkt ist für mich der, daß ich ohne die Gewinnung ausländischer Kredite überhaupt keine Möglichkeit des Weiterlebens für das deutsche Volk sehe, und daß die ausländischen Kredite in größerem Umfange und als langfristige Kredite sicher erst kommen werden, wenn wir eine neue politische Stufe beschritten haben, die nun einmal, wie die Dinge weltgeschichtlich gelaufen sind, das Vorzeichen „Sachverständigengutachten“ tragen wird. Unter anderen Voraussetzungen werden wir langfristige Kredite in größerem Umfange nicht bekommen. Die kurzfristigen Kredite, die wir heute vom Ausland ja zum Teil haben, haben viel mehr Schaden als Nutzen gestiftet; denn auf der Basis dieser kurzfristigen Kredite ist der unsinnige Import an Tabak, Textilien usw. möglich geworden. Unsere sämtlichen Zolläger liegen in schreckhafter Weise voll mit Tabakwaren, und unsere Handelsbilanz ist ja vom Januar bis April um die Kleinigkeit von 1 Milliarde passiv, eine Summe, die angesichts unserer Gesamtlage doch wahrhaft erschreckend ist.

Nun will ich ganz kurz über den Stand der Arbeiten berichten36. Im einzelnen werden ja darüber die anderen Herren Mitteilung machen. Wir sind verhältnismäßig weit vorangeschritten bei den Arbeiten über die Reichsbahn und die Reichsbank. Bei der Reichsbahn handelt es sich um das Gesetz, aber auch um das Statut, das dazu gemacht werden muß, handelt es sich um die wichtige Frage der Überführung des Regiebetriebes in den deutschen Betrieb, die m. E. auch noch von dem Organisationskomitee geregelt werden muß, die aber noch aussteht. Bei der Reichsbank handelt es sich um das Bankgesetz, Bankstatut, Rentenbankgesetz und Münzgesetz, daneben um einen Vertrag zwischen Reich und Reichsbank. Alle diese Dinge sind stark vorangeschritten. In diesen Tagen, ich glaube heute, kommt Kindersley und das andere Mitglied des Organisationskomitees der Reichsbank noch einmal nach Berlin. Die Schlußberatung mit den anderen Mitgliedern wird in der Mitte der nächsten Woche in England stattfinden. Am meisten zurück ist die Frage der Industrieobligationen. Dazu kann die Reichsregierung Ihnen auch nicht viel mehr mitteilen als Sie in den Zeitungen gelesen haben. Es ist bisher nicht gelungen, um die Klippe der sogenannten Individualobligationen herumzukommen. Es hat das zu einer Krise in Paris mit Rücktritt eines Mitgliedes und Wahl eines Neutralen geführt37. Materielle Mitteilungen über ein Voranschreiten auf diesem Gebiet sind wir noch nicht in der Lage zu machen.

36

Gemeint ist die Arbeit an den Gesetzentwürfen zur Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens.

37

Im Organisationskomitee für die Industrieobligationen war das frz. Mitglied Descamps zurückgetreten und durch Allix ersetzt worden. Als fünftes, neutrales Mitglied hatte das Komitee den Schweden Wallenberg gewählt. Vgl. Dok. Nr. 247, P. 3.

[788] In mein besonderes Arbeitsgebiet, außer dem allgemeinen, fällt noch die Frage der Zölle und der Verbrauchsabgaben. Dazu eine allgemeine Vorbemerkung. In der Öffentlichkeit wird viel von Eisenbahn, Reichsbank gesprochen. Es ist ganz gut, daß diese konkreten Fragen, von denen sich die Öffentlichkeit immer besser eine Vorstellung machen kann, in der Öffentlichkeit behandelt werden. Das ganze Schwergewicht der Belastung fällt aber auf die Finanzen als solche. Denn die Leistungen, die für Bahn- und Industrieobligationen vorgesehen sind, sind immerhin begrenzt, und zwar in einem Ausmaß begrenzt, daß bei einigermaßen erträglichen Verhältnissen unseres Wirtschaftslebens diese Leistungen werden vollbracht werden können, während das, was dann steigt und darüber aufgelegt ist, im allgemeinen auf die Finanzen fällt. Das sind ganz furchtbare Summen, denen gegenüber ich nur wiederholen kann, was ich schon gesagt habe.

Sehr verwickelt wird die Frage der Beschlagnahme von Zöllen und Verbrauchsabgaben noch dadurch, daß leider der sogenannte kleine Besserungsschein, der schon ab 1926 gelten soll, für 1926 und 27 an steigende Einnahmen aus diesen Zöllen und Verbrauchsabgaben geknüpft ist38. Das ist eine ganz unangenehme Konstruktion, die im allerletzten Moment in Paris in das Gutachten hineingekommen ist, über die vorher keine Fühlung stattgefunden hat und die folgendes bedeutet: Jeder Beschluß, den wir zur Steigerung der Verbrauchsabgaben und Zölle fassen, hat die Wirkung, daß wir 1926 und 27 mehr zahlen müssen als ohne diesen Beschluß. Dabei sitzen wir in der Zwickmühle, daß wir eine Senkung der den Verbrauch so schwer und systemlos belastenden und die Produktion so furchtbar hemmenden Umsatzsteuer nur vollziehen können, wenn wir dafür andere Einnahmen bekommen und diese Einnahmen nur aus den Verbrauchsabgaben möglich sein werden; also eine politisch sehr unangenehme Lage. Wir versuchen selbstverständlich, diesem Mangel nach Möglichkeit abzuhelfen. Es wird sehr schwer halten; ob ich Ihnen einen Erfolg in Aussicht stellen kann, wage ich nicht zu sagen. Ich bitte aber darüber die volle Vertraulichkeit zu wahren, damit die angefangenen Verhandlungen nicht gestört werden.

38

Zum „kleinen Besserungsschein“ vgl. Dok. Nr. 232, Anm. 3.

Das andere ist die Frage der Kontrolle. Die Kontrolle hat natürlich zwei Seiten. Auf der einen Seite ist die große Erziehungsaufgabe gegenüber den Alliierten nur so durchführbar, daß hier Leute sitzen, die die Sache miterleben. Sie müssen auch die Verhältnisse in unseren Steuern durch unmittelbaren Einblick miterleben. Andererseits ist die Kontrolle da, wo sie sich nicht auf das Finanzministerium beschränkt – hier ist sie schließlich zu ertragen –, sondern wo sie sich draußen im Lande vollzieht, besonders in den einzelnen betroffenen gewerblichen Unternehmungen, ganz außerordentlich belastend, auch innenpolitisch sehr schwer. Wir versuchen infolgedessen auch hier eine Formulierung über die Kontrolle der Verhandlungen mit der Reparationskommission zustande zu bringen, die alle möglichen Erleichterungen in die Verhältnisse bringt.

Ich habe damit das allgemeine Bild gegeben und auch die Spezialfragen. Es würde dann wohl die Spezialberatung in Frage kommen.

[789] [Reichskanzler Marx eröffnet die allgemeine Aussprache.]

Württembergischer Staatspräsident Bazille: Meine Herren, ich möchte zunächst dem Herrn Reichskanzler für seine liebenswürdige Begrüßung meinen besten Dank sagen. In allgemeiner Beziehung erlaube ich mir folgendes auszuführen. Der Herr Reichsaußenminister scheint sich, wie ich seinen Worten entnehme, der Hoffnung hinzugeben, daß die Annahme des Gutachtens bestimmte Aussichten auf eine friedliche Entwirrung der europäischen Probleme in sich schließe. Ich persönlich kann diese Auffassung nicht teilten. Ich bin davon überzeugt, daß die europäischen Probleme eines Tages nur mit dem Schwert gelöst werden können und daß nicht die geringste Aussicht auf eine friedliche Lösung dieser Probleme besteht.

Unabhängig von dieser allgemeinen Überzeugung ist die Beantwortung der Frage, wie man sich in der Gegenwart zu den Fragen verhält, die uns vorgelegt worden sind. Soll man das Sachverständigengutachten deshalb ablehnen, weil man der Überzeugung ist, daß es keine richtige Lösung der Probleme bringen wird, oder soll man es annehmen?

Wenn ich mir die Faktoren vorhalte, die gegenwärtig maßgebend sind, so sehe ich vor uns eine ziemlich geschlossene Auffassung in den westlichen Demokratien Amerika, England und Frankreich, eine Auffassung, die dahin geht, daß das Sachverständigengutachten die Grundlage für eine Lösung der Wirren bringen wird. Betrachte ich die Lage des deutschen Volkes, so sehe ich eine vollkommene Zerrissenheit im deutschen Volke, die einen einigen, entschlossenen Widerstand unmöglich macht. Beide Tatsachen machen es meines Erachtens unmöglich, zu dem Sachverständigengutachten von vornherein eine verneinende Haltung einzunehmen, sondern man wird sich bemühen müssen, auf der Grundlage dieses Sachverständigengutachtens etwas zu erreichen, was für Deutschland, so wie die Dinge liegen, tragbar ist.

Ich kann die Auffassung des Herrn Außenministers nicht teilen, daß unsere Situation durch die vereinigte Meinung der westlichen Demokratien besonders ungünstig sei, sondern ich glaube, daß diese Staaten am Ende ihrer Weisheit angelangt sind und daß sie der Meinung sind, jetzt endlich sei die Lösung gefunden, daß sie also mit allen Mitteln versuchen werden, die Lösung herbeizuführen. Das gibt uns auch eine gewisse Kraft in der Position, die wir haben. Wir können etwas fordern. Damit ist nicht gesagt, daß man es erreicht. Aber man kann den Versuch machen, möglichst viel zu erreichen, auch mit Rücksicht darauf, daß ein großer Teil der öffentlichen Meinung Deutschlands, vielleicht fast die Hälfte des deutschen Volkes, das Gutachten überhaupt nicht annehmen will. Das ist ein Gesichtspunkt, der m. E. ganz außerordentlich ins Gewicht fällt.

In bezug auf die Räumung der vertragswidrig besetzten Gebiete sind mir die Äußerungen des Herrn Außenministers nicht genügend positiv. Ich glaube, daß man hier auch etwas Positives erreichen kann. Den Zeitpunkt selbst will ich zunächst einmal außerhalb der Erörterung lassen. Aber daß wir einen bestimmten Zeitpunkt erreichen müßten, in dem die Gebiete geräumt werden, das scheint mir unbedingt notwendig zu sein.

[790] (Reichsaußenminister Dr. Stresemann: Vollkommen meine Auffassung!)

Ein Zeitpunkt, der nicht in allzu großer zeitlicher Entfernung liegt, sondern der möglichst in diesem Jahre erreicht werden soll.

Was die Stellung zu der Kriegsschuldlüge anbelangt, so bin ich hier ganz anderer Ansicht als der Reichsaußenminister. Freilich sind wir schwach gegenüber den vereinigten Gegnern, aber was uns geblieben ist, das ist, daß wir die moralischen Faktoren noch benutzen können. Ich weiß nicht, welche Nachteile das für Deutschland haben soll, wenn man auf der Konferenz in London sagt: Die deutsche öffentliche Meinung verlangt, daß endlich die Frage der Schuld am Kriege dem Urteilsspruch eines unabhängigen internationalen Gerichtshofes unterworfen werden sollte39. Etwas anderes ist es zu erklären, das sei etwa die conditio sine qua non für die Annahme des Gutachtens. Wenn man die Sache so formulieren würde, könnte man über die Einwendung des Herrn Reichskanzlers40 vielleicht eine andere Auffassung haben. Wenn man es aber nicht als conditio sine qua non auffaßt, sondern einfach das Verlangen stellt, daß diese Frage endlich einem unabhängigen Gerichtshof unterworfen werden soll, so weiß ich nicht, welche Nachteile für das deutsche Volk daraus entspringen können. Denn wenn die Alliierten es ablehnen, so setzen sie sich bei ihren eigenen Volksgenossen ins Unrecht. Es werden dort sehr viele Leute sein, die darüber nachdenken, warum eine so selbstverständliche Forderung abgelehnt wurde. Man muß sich doch darauf berufen, daß jeder Mörder, jeder Räuber nach dem Rechte Englands, Frankreichs und Amerikas das Recht hat, vor einem ordnungsmäßigen Gerichtshof in ordnungsmäßigem Verfahren abgeurteilt zu werden und daß man Deutschland dieses Recht doch nicht versagen könne. Das wird der einfachste Mann in jenen Ländern verstehen. Ich glaube, die Alliierten setzen sich bei ihren eigenen Völkern ins Unrecht, wenn sie das einfach ablehnen.

39

Vgl. das diesbezügliche Schreiben Bazilles an die RReg. vom 23. 6. (Anm. 18).

40

Es muß wohl heißen: „Reichsaußenministers“.

Es ist auch nicht ganz zutreffend, daß kein Staatsmann der Entente sich finden würde, der die Unschuld Deutschlands anerkennt. Das hat Lloyd George auf jener bekannten Konferenz der Dominions im Jahre 1921 bereits getan. Er hat dort ausgesprochen, je länger man die Dokumente zum Kriegsausbruch studiere, umso mehr komme man zu der Überzeugung, daß kein Volk diesen Krieg absichtlich gewollt habe, sondern sie seien mehr oder weniger in diesen Krieg hineingestolpert41. Ich bin überzeugt, daß er das mit voller Absicht gesagt hat, damit Deutschland auf der Konferenz in London42 diese Frage zum Gegenstand der Erörterung mache; denn er hat damals in seiner Begrüßungsrede ohne jeden Anlaß erklärt, er nehme an, die deutsche Regierung werde unter dem Druck der deutschen öffentlichen Meinung das tun, für die Alliierten[791] sei das aber chose jugée43. Das mußte er natürlich Frankreichs wegen sagen. Herr Dr. Simons, der damalige Außenminister, hat meines Erachtens damals erklärt, Deutschland überlasse das der geschichtlichen Feststellung, die Wahrheit werde sich schon durchsetzen44. Ich glaube auch, daß die Wahrheit sich schon durchsetzen wird, aber das kann so lange dauern, daß es für uns einen großen praktischen Wert nicht mehr hat. Wir müssen doch versuchen, ohne daß wir uns selbst in historische Schuld bringen, daß diese Frage jetzt einmal aufgegriffen wird. Wenn Deutschland diese Forderung stellt, dann sind die Lasten, die es auf sich nimmt, eher vom deutschen Volke zu tragen, als sie es so sein werden.

41

Gemeint ist der vielzitierte Passus aus einer Rede Lloyd Georges vor brit. Völkerbundsdelegierten am 22.12.20: „The more one reads the memoirs and books written in the various countries of what happened before August 1, 1914, the more one realizes that no one at the head of affairs quite meant war at that stage. It was something into which they glided, or rather staggered or stumbled.“ (The Times vom 23.12.20).

42

Londoner Konferenz vom 1.–7.3.21.

43

In der Vorlage irrtümlich „gros sujet“, offenbar ein Hörfehler des Stenografen. – Lloyd George hatte auf der Londoner Konferenz am 3.3.21 u. a. ausgeführt: RAM Simons habe in einer Rede in Karlsruhe unter dem Beifall der dt. Öffentlichkeit die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg zurückgewiesen. „For the Allies, German responsibility for the war is fundamental. It is the basis upon which the structure of the treaty has been erected, and if that acknowledgment is repudiated or abandoned, the treaty is destroyed. The Allies, therefore, feel that they have to take into account the fact that the German Government, with the apparent support of German public opinion, is challenging the very foundation of the Treaty of Versailles. […] We wish, therefore, once and for all to make it quite clear that German responsibility for the war must be treated by the Allies as a ‚chose jugé’.“ Documents on British Foreign Policy 1919–1939, 1st Series, Vol. XV, 1967, p. 258/9. Vgl. RT-Bd. 366 , Drucks. Nr. 1640 , S. 152.

44

S. die Rede Simons’ vom 7.3.21 auf der Londoner Konferenz: RT-Bd. 366 , Drucks. Nr. 1640 , S. 173.

Über die Durchführbarkeit der Verpflichtungen, die wir uns auferlegen sollen, hat sich der Herr Reichsfinanzminister ja selbst skeptisch ausgesprochen. Er ist ja auch der Meinung, daß man mit größerer Wahrscheinlichkeit die Belastung nicht wird tragen können.

(Reichsfinanzminister Dr. Luther: Jedenfalls ab 1928!)

Also den endgültigen Betrag nicht wird tragen können. Wenn wir die gegenwärtige Lage Deutschlands ansehen, so kann ja kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß das ganz unmöglich ist. Soll die Landwirtschaft wieder lebensfähig werden, dann brauchen wir landwirtschaftliche Schutzzölle oder in anderer Form eine Erhöhung der Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Das ist unumgänglich notwendig. Die Folge davon ist, daß man mehr öffentliche Mittel auch zur Bezahlung der Beamten braucht und daß die Erzeugungskosten der Industrie steigen. Wie die Industrie nun bei Steigerung ihrer Erzeugungskosten und bei der Erhaltung des Achtstundentages, der uns vom Auslande aufgedrängt werden soll, in der Lage sein soll, nicht nur das deutsche Volk zu ernähren, sondern auch noch diese Summe an das Ausland zu bezahlen, ist mir unerfindlich.

Ich bin also durchaus davon überzeugt, daß wir nicht im entferntesten in der Lage sind zu bezahlen, und ich glaube, es wäre sehr notwendig, daß die deutsche Reichsregierung unter Darlegung der positiven Tatsachen schon auf der Konferenz in London sehr deutlich zum Ausdruck bringen würde, wie die Dinge liegen, und daß man sich durchaus nicht rechnerisch vorstellen kann, wie die Frage gelöst werden soll.

[792] Im ganzen genommen ist die Württembergische Landesregierung sich darin einig, daß die Schwierigkeiten, in denen sich die Reichsregierung befindet, von den Ländern nicht vermehrt werden sollen, daß aber andererseits die Reichsregierung es begrüßen sollte, wenn sie in dem, was sie erreichen müßte und sollte, im Interesse der Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volkes eine gewisse Stärkung durch die Länder erfährt, daß sie sagen kann: Es sind Stimmen aus den Ländern in dieser und jener Richtung laut geworden. Ich bitte, zunächst einmal in diesem Sinne meine allgemeinen Ausführungen zu betrachten.

ReichskanzlerMarx: Ich glaube, daß grundsätzliche Gegensätze zwischen den Ausführungen des Herrn Vorredners und der Herren Reichsminister nicht vorhanden gewesen sind, sondern nur über gewisse Modalitäten, die aber auch wohl zum Teil auf irrtümlichen Auffassungen der Herren Reichsminister beruhen. Ich glaube, im großen und ganzen haben die Herren schon die Bedenken vorgebracht, die vom Herrn Präsidenten Bazille hervorgehoben sind.

Ich glaube, es ist notwendig, daß wir uns hier ganz offen und frei aussprechen, und ich möchte noch einmal bitten, daß, wie es seit jeher Usus gewesen ist, hier die strengste Diskretion beobachtet wird. An die letzten Aussprachen haben sich etwas unliebsame Verhandlungen in der Presse geknüpft. Das muß unter allen Umständen vermieden werden. Hier müssen wir ganz frei sprechen können. Jeder hat das Recht, hier seine Meinung zu sagen. Es ist auch sehr gut, wenn hier die gegenseitigen Meinungen einmal ganz offen zutage treten. Hier ist eine Stelle, wo man sich ausspricht und wo man sich gegenseitig verständigt.

Bayerischer Ministerpräsident Held: Meine sehr verehrten Herren! Auch ich möchte zunächst die Gelegenheit ergreifen, dem Herrn Reichskanzler meinen besten Dank für die freundliche Begrüßung zu sagen.

Wenn ich Stellung zu den Ausführungen des Sachverständigengutachtens und damit zugleich zu den Ausführungen des Herrn Reichsaußenministers nehmen will, so möchte ich keinen Zweifel darüber lassen, daß auch in Bayern die Meinungen über die Möglichkeit der Annahme und Nichtannahme des Sachverständigengutachtens aus inneren Gründen sehr weit auseinandergehen. Wir haben in diesen Tagen im Bayerischen Landtage Gelegenheit gehabt, auch die Stellung der Parteien im einzelnen dazu kennenzulernen. Es hat keine Partei gegeben, die nicht von schwersten Bedenken gegenüber dem Gutachten erfüllt gewesen wäre. Selbst bis in die Reihen der Sozialdemokraten hinein wurden schwerste Bedenken sachlicher Art und taktischer Art gegenüber dem Vorgehen, das bisher eingeschlagen worden ist, geltend gemacht.

Ich stehe auch nicht auf dem Standpunkt, daß das Sachverständigengutachten und eine positive Stellung von unserer Seite zu ihm all die Schwierigkeiten aus dem Wege räumen wird, von denen heute vielfach geglaubt wird, daß damit ein Ende erreicht werde; denn auch ich habe die Auffassung, es wird nicht die Lösung des Problems von Mitteleuropa sein, auch nicht die Lösung des Problems des Verhältnisses von Europa zu den übrigen Staaten der Welt. Aber, um was es sich für uns handelt, ist vielleicht in der Frage konzentriert:[793] Sind wir in der Lage, überhaupt noch auf Wochen und Monate unsere Wirtschaft aufrechtzuerhalten, wenn wir nicht mit den Mächten, die uns das Sachverständigengutachten zur Verfügung stellen, irgendwie durch Verhandlungen zu einem vorläufigen Ergebnis gekommen sind? Alle diejenigen, die auch im Bayerischen Landtag geneigt gewesen wären, unter den schwersten Bedenken das Sachverständigengutachten abzulehnen, konnten sich doch der Erkenntnis nicht verschließen, daß, wenn wir nicht in irgendeiner Weise in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis mit den Ententestaaten kommen, wir nicht in der Lage sein werden, wirtschaftlich weiterzuexistieren und damit auch die größten Gefahren für unsere politische Weiterexistenz heraufbeschwören müßten.

Ich glaube, es muß also vornehmlich unter diesem Gesichtspunkte das Gutachten selbst behandelt werden. Ich habe dabei allerdings die Auffassung, daß eine ganze Reihe von Dingen absolut sichergestellt werden muß; denn die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit bei den Verhandlungen mit den Ententestaaten gemacht haben, werden uns wohl allen den Beweis geliefert haben, daß, wenn wir uns nicht absolut vertragsmäßig sichern, wir uns immer wieder vor die allergrößten Schwierigkeiten von der Entente aus gestellt werden sehen. Wir haben das von Spa aus über London und Genua bis zum heutigen Tage erlebt, und auch die Gesetze oder Verträge, die auf Grund des Sachverständigengutachtens zustande kommen werden, werden uns gegen solche Überraschungen unter Umständen nicht schützen können, wenn nicht von vornherein sichergestellt ist: 1. daß Sanktionen aus der Unmöglichkeit der Leistungen, die uns auferlegt werden, überhaupt nicht mehr in Frage kommen dürfen, sondern höchstens eine schiedsgerichtliche Untersuchung darüber, wie weit unsere Leistungsfähigkeit geht, 2. daß die Ruhrbesetzung und die Besetzung aller der Gebiete, die vertragswidrig geschehen ist, unter allen Umständen mit dem Inkrafttreten der betreffenden Gesetze verschwinden muß, daß auch die Ausgewiesenen zurückkehren dürfen und daß unter allen Umständen für die Zukunft eine weitere Prüfung der Leistungsfähigkeit wenigstens von dem Jahre 1928 ab offengehalten werden muß.

Ich glaube nicht, daß das Sachverständigengutachten selbst in sich und in seiner Annahme eine Lösung der Reparationsfrage darstellt. Wer das Sachverständigengutachten genau liest, kann doch nur unter dem Eindruck stehen, daß der Versuch gewagt werden soll, einmal genau festzustellen, wie sich die Leistungsmöglichkeiten gegenseitig abstecken lassen. Ich sehe darin eigentlich keinen Nachteil, sondern einen gewissen Vorteil, der allerdings von unserer Seite geschickt ausgenutzt werden muß. Ich bin deshalb auch der Auffassung, daß die Frage der Endsumme sehr verschiedenartig beurteilt werden kann. Es mag Leute geben, und es gibt solche, die heute glauben, die Kreditwürdigkeit von Deutschland und die allgemeine wirtschaftliche Kalkulation würden sich leichter gestalten, wenn wir bereits eine Endsumme in dem Sachverständigengutachten genannt hätten. Ich habe die Auffassung, daß derjenige, der glaubt, daß wir überhaupt nicht dazu in der Lage seien, die Summen, die ab 1928 verlangt werden, durch unsere Wirtschaft tragen zu lassen, auf dem Standpunkt stehen muß, daß es besser ist, daß keine Endsumme genannt ist; denn nur, wenn das offengelassen wird, besteht die Möglichkeit, vom Jahre 1928 ab[794] wieder zu verlangen, daß eine neue Prüfung der Leistungsfähigkeit und danach auch eine Reform der Verträge bzw. der Gesetze vorgenommen werden müsse.

Ich kann also sagen, daß die Stellung Bayerns zu dem Gutachten im allgemeinen – dabei nehme ich ausdrücklich das Gutachten, das die Eisenbahn betrifft, aus – die ist, daß allerdings die schwersten Bedenken dagegen geltend gemacht werden müssen, namentlich für die Wirkungen vom Jahre 1928 an, daß aber unsere gegenwärtige Wirtschaftslage so ist, daß wir unter allen Umständen dahin trachten müssen, langfristige ausländische Kredite zu bekommen, und daß uns deshalb nichts anderes übrigbleiben wird, als schließlich auf den Boden der Verhandlungen nach diesem Sachverständigengutachten zu treten.

Es ist aber auch in diesen Tagen im Bayerischen Landtag die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die Kriegsschuldlüge zu gleicher Zeit mit zum Mittelpunkt der Verhandlungen gemacht werden müsse. Hier haben sich, glaube ich, alle bürgerlichen Parteien zu dem Standpunkt bekannt, daß es ihnen undenkbar erscheine, die Gutachtensfrage zu behandeln und zu verabschieden, ohne daß dabei auch die Kriegsschuldfrage selbst auf das entscheidendste mit in die Verhandlungen gebracht werde. Ich kann zugeben, daß eine Reihe von Dingen, die der Reichsaußenminister dagegen geltend gemacht hat, durchaus anerkennenswert sind. Aber es schien mir doch, daß sowohl seine Betrachtungsweise des Gutachtens selbst als insbesondere diese Spezialfrage ganz ausschließlich unter außenpolitische Gesichtspunkte gestellt worden ist, unter Gesichtspunkte, die in einer ganz bestimmten Richtung gehen, die allgemein nicht als richtig anerkannt werden können, sondern nur in einer Spezialrichtung, daß er aber die innenpolitische Wirkung der ganzen Behandlung des Gutachtens und insbesondere der Nichtbeachtung dieser Frage vollständig übersehen hat. Ich bitte, diese innenpolitische Wirkung nicht ganz übersehen zu wollen. Ich glaube, wir kommen viel leichter über die Schwere der Bedenken und über die innenpolitische Wirkung, die nun einmal die Annahme des Gutachtens mit sich bringen wird, hinweg, wenn wir unserem Volke in seiner ganzen Gemütseinstellung politisch durch irgendein Imponderabile entgegenkommen. Ich sehe das Beste auf dem Gebiete der Kriegsschuld. Verlassen Sie sich darauf, die Frage wird nicht so leicht aufgefaßt. Ich gebe dem Herrn Reichsaußenminister durchaus recht, der kalte oder nüchterne Engländer oder Amerikaner werden sich daraus gar nichts machen. Etwas anderes ist es aber, wie die übrige Welt und auch die deutsche Welt sich zu dem ganzen Komplex der Fragen einstellt. Das wird wesentlich von der Behandlung der Kriegsschuldfrage abhängen.

Ich könnte hierauf noch weiter zu sprechen kommen. Ich tue es nicht, ich möchte nur diese Andeutungen gemacht haben und möchte nur bitten, einmal selbst zu überlegen, ob nicht in irgendeiner Form die Kriegsschuldfrage auch mit in die Verhandlungen gestellt werden könnte.

Ich darf dann einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn Reichsfinanzministers Dr. Luther machen: Ich habe mich darüber gefreut, daß ich fast restlos mit ihm in der Beurteilung der Dinge einverstanden sein konnte. Ich habe mich vor allem darüber gefreut, daß ich heute zum erstenmal von offizieller Stelle anerkannt gesehen habe, daß die Inflation nicht erst eine Nachkriegswirkung ist, sondern daß sie eigentlich durch die deutsche Politik[795] im Kriege herbeigeführt worden ist. Wir haben sie damals bekommen, als wir ohne jede Rücksicht auf die Golddeckung unseren Notenumlauf in einer weit über das zuträgliche Maß hinausgehenden Weise vermehrt haben. Das ist die Quelle, von dort datiert die Inflation. Allerdings, als eigentliche Inflation wurde sie erst nach dem Kriege erkennbar und in ihrer gesamten Wirkung auf die Wirtschaft. Solange wir im Kriege in der Zwangswirtschaft waren, konnte diese Erkenntnis der Öffentlichkeit nicht vermittelt werden. Sie kam erst und konnte erst nach dem Kriege kommen.

Nun habe ich die Auffassung, daß unsere Wirtschaftslage heute eine derartige ist, daß, wenn wir nicht in absehbar kurzer Zeit zu langfristigen ausländischen Krediten kommen, wir in die allerschwerste Katastrophe hineingeraten werden. Unsere Industrie ist am Ende.

Aber fast noch bunter als in der deutschen Industrie sieht es in der deutschen Landwirtschaft aus. Ich glaube, man macht sich vielfach in den Städten keine Vorstellung von dem, was Wirklichkeit ist. Die Leute können ja nicht mehr aus der Substanz leben. Bisher war es schon so, daß die deutsche Wirtschaft aus der Substanz gelebt hat. Was sie in den letzten Jahren geleistet hat, war in der Hauptsache Leistung aus der Substanz. Heute sind wir in der Entwicklung so weit, daß die Landwirtschaft deshalb nicht mehr aus der Substanz leben kann, weil kein Mensch mehr da ist, der ihr die Substanz in Geld umsetzt. Wenn Sie heute etwas aus der Landwirtschaft verkaufen wollen, beispielsweise Vieh oder andere landwirtschaftliche Produkte, so sind sie einfach um Geld nicht unterzubringen. Die Tatsache besteht heute, daß an sich früher gut situierte Landwirte zu den Darlehnskassen und anderen Kreditinstituten kommen und um einen Kredit von 20, 25 und 30 Mark betteln. Soweit sind wir gekommen. Wenn Sie glauben, daß Sie aus der Landwirtschaft im gegenwärtigen Augenblick, und ohne daß diese gröbsten Mißstände behoben werden, noch Steuern herausholen könnten, so irren Sie sich. Ich fürchte, wenn die Dinge so weitergehen – es ist ja leider das Wort von der Bauernrevolution schon gefallen –, bekommen wir die allerschwersten Mißverhältnisse aus der Landwirtschaft selbst heraus.

Deshalb bitte ich die Regierung, doch die Frage zu überlegen, ob nicht im gegenwärtigen Augenblick und solange wir nicht die ausländischen Kredite in der Hand haben, gewisse Erleichterungen gerade für die Landwirtschaft geschaffen werden können. Ich weiß es selbst am allerbesten, wie schwer es dem Reichsfinanzminister und den einzelstaatlichen Finanzministern sein muß, hier noch weiter entgegenzukommen. Aber, verlassen Sie sich darauf, Sie ertöten die noch bestehenden Möglichkeiten, auch für den Fall, daß Sie langfristige Kredite bekommen, wenn Sie hier in diesem Augenblick der Landwirtschaft nicht entgegenkommen.

Die Dinge sind heute so, daß der Bauer, wenn er seine Steuern zahlen soll, entweder Vieh verkaufen oder sonst etwas von seinem Inventar losschlagen muß. Er wird es nicht mehr los, er muß es infolgedessen weit unter dem Preis verschleudern. Ob er es dann los wird, ist heute auch fraglich geworden. Infolgedessen kann er die Steuern nicht leisten, und unsere äußeren Steuerbehörden – verzeihen Sie, Herr Reichsfinanzminister, ich muß das hier[796] offen konstatieren – sind wirtschaftlich so borniert, ich kann es nicht anders nennen, daß sie zu den unglaublichsten Mitteln greifen. Wir erleben es in Bayern in jeder Woche, daß Landwirte einfach subhastiert werden. Da wird nicht die geringste Rücksicht genommen. Wie das psychologisch, politisch wirkt, stellen Sie sich einmal vor. Aber wie es auch wirtschaftlich wirkt.

(Reichsfinanzminister Dr. Luther: Das steht doch im Erlaß45!)

45

S. Anm. 48.

Es geschieht trotzdem. Wenn man dann noch die Bemerkungen hört, die gegenüber den Landwirten und auch Industriellen von solch untergeordneten Organen gemacht werden, dann darf man sich nicht darüber wundern, daß wir in der Öffentlichkeit so explosive Erscheinungen vor uns sehen.

Ich bitte deshalb dringend, einmal dafür zu sorgen, daß diese wirtschaftliche Borniertheit verschwindet und daß, wenn irgend möglich, die Steuertermine hinausgeschoben werden und den Leuten ein Aufschub gewährt wird. Wird das Letztere nicht erreicht, daß in der Hauptsache die Steuern für die Landwirtschaft erst fällig werden, wenn der Landwirt seine Ernte eingeheimst hat und wenn er in der Lage ist, sie auch einigermaßen umzusilbern, dann fürchte ich, werden wir die Steuern überhaupt nicht bekommen, oder wir werden die allergrößten Schwierigkeiten haben.

Ich rate deshalb im Interesse des Reiches, die Dinge nicht auf die lange Bank zu schieben. Ob wir die Steuern, wie wir sie heute haben, die insbesondere bei der Landwirtschaft zum Teil ganz furchtbar wirken, aufrechterhalten können, will mir zweifelhaft erscheinen. In diesen Tagen war eine Deputation des Landbundes bei mir, die mir ganz krasse Fälle über die Wirkung dieser Steuern in Bayern dargelegt und belegt hat. Ich habe die Herren gebeten, mir doch Material zusammenzustellen. Ich werde so frei sein, durch unseren Finanzminister dem Herrn Reichsfinanzminister in absehbarer Zeit dieses Material vorzulegen. Meine erste Bitte geht aber dahin, daß einmal versucht wird, durch Verlegung der Steuertermine hier Wandel zu schaffen, um nachteilige Folgen abzuwenden.

Auch ich habe die Auffassung, daß wir eine neue Inflation unter gar keinen Umständen brauchen können. Das bedeutet das definitive Ende, und es gibt unglaublicherweise eine ganze Masse von Leuten, die heute in der Tat eine neue Inflation herbeiführen möchten und mit dieser neuen Inflation wenigstens einmal für einige Monate Luft gewinnen wollen, und dann auch über die Schwierigkeiten des Gutachtens, seine Annahme oder Nichtannahme, hinwegzukommen glauben. Ich halte jede Art neuer Inflation für das größte Verhängnis, das über Deutschland, über seine Wirtschaft, über seine Finanzen, über seine Währung für alle Dauer kommen kann. Ich lehne deshalb auch jeden Versuch, der nach dieser Richtung gemacht wird, ab.

Es gibt ja auch Leute, die so etwas wie den umgekehrten Weg gehen wollen, der aber im Effekt auch nichts anderes als eine Inflation bedeuten würde, die nämlich das Wunder der Rentenmark zum zweiten Male machen möchten, ohne sich darüber klar zu sein, daß die Wirkung dieses Wunders eine neue Inflation sein müßte.

[797] Wenn ich nun auch der Auffassung bin, meine Herren, daß nur ein großer langfristiger Kredit uns etwas nützen kann, so habe ich andererseits doch die Auffassung, daß auch das nur ein für eine gewisse Dauer geltendes Hilfsmittel sein kann; denn wenn dazu nicht eine intensivere Arbeit und Produktion kommt, dann wird dieser ausländische Kredit in absehbarer Zeit aufgezehrt, verpufft, ohne Wirkung für das Deutsche Reich sein, und wir würden wieder an demselben Punkt in der Entwicklung der Wirtschaft stehen, an dem wir heute leider angekommen sind.

Es muß also, wenn von den Dingen die Rede ist, eine Kombination eintreten zwischen dem Punkt eins, den der Herr Reichsfinanzminister uns hier aufgezeigt hat, und dem Punkt drei. Nur in ihrer Kombination sehe ich die Möglichkeit, daß wir aus diesem furchtbaren Elend der Wirtschaft auf die Dauer herauskommen.

Im übrigen kann ich mich durchaus den Ausführungen anschließen, die von seiner Seite gemacht worden sind. Damit komme ich auf das Gutachten selbst zurück. In der ganzen Kritik, die ich bisher gehört habe, hat man geflissentlich vermieden, dem deutschen Volk zu sagen, mit welchen Mitteln die Wirtschaftskatastrophe hintangehalten werden soll, wenn wir nicht auf dem Boden der Gutachten zu irgendwelchen Verhandlungen und Ergebnissen kommen. (Sehr richtig!) Ich habe die Meinung – ich will sie hier ganz offen aussprechen –, wer heute sich berechtigt glaubt, das Gutachten abzulehnen, hat auf der anderen Seite die Verpflichtung, eben andere Wege zu zeigen (sehr wahr!), nach denen die Katastrophe unserer Wirtschaft vermieden werden kann. (Sehr richtig!) Diejenigen, die das nicht können, meine Herren, können rein gefühlsmäßig die Dinge betrachten, sie werden aber nicht ernsthaft als Politiker genommen werden können, die sich der Verantwortung dem ganzen Lande gegenüber bewußt sind. (Zustimmung.)

[RK Marx geht auf die Ausführungen Helds über die Notlage der Landwirtschaft ein und versichert, daß die RReg. sich mit dieser Frage befasse.]

Preußischer Minister des Innern Severing: Meine Herren, auch ich möchte Wert auf die Feststellung legen, daß ich mich im allgemeinen mit den Ausführungen des Bayerischen Herrn Ministerpräsidenten einverstanden erklären kann. Ich hätte eigentlich gar keine Veranlassung, mich nach den Ausführungen der beiden Herren Reichsminister an der Debatte zu beteiligen, mit deren Darlegungen ich mich einverstanden erkläre ebenso wie mit dem Ergebnis ihrer Ausführungen. Aber der Herr Württembergische Ministerpräsident hat davon gesprochen, daß es der Reichsregierung nur erwünscht sein könne, eine gewisse Stärkung von den Ländern zu erfahren, und da bin ich der Meinung, daß ich die Art und Weise, die der Herr Württembergische Ministerpräsident als Stärkung der Reichsregierung betrachtet, nicht gerade teile.

Der Herr Reichskanzler hat eben darauf verwiesen, daß die Beratungen in diesem Kreise streng vertraulich behandelt werden möchten, und ich schließe mich selbstverständlich diesem Standpunkte an. Aber ich möchte den Herrn Reichskanzler darauf aufmerksam machen, daß ich auch aus früheren Besprechungen[798] schon die Erfahrung gesammelt habe, daß nicht alle Ausführungen hier vertraulich behandelt werden, und da komme ich nun zu Folgendem:

Auch die Preußische Regierung hätte allerlei Bedenken geltend zu machen. Wenn ich aber die lange Leporelloliste dieser Bedenken hier aufzählen würde und es würde dann in der Öffentlichkeit durchsickern, dann besteht die hohe Wahrscheinlichkeit und die hohe Gefahr, daß dann sofort ein Teil der Presse erklären würde: die Preußische Regierung gegen das Sachverständigengutachten. Ich nehme an, daß auch die Bedenken, die der Herr Württembergische Ministerpräsident heute morgen hier vorgetragen hat, in der nächsten Zeit – ich fürchte, zu dieser Annahme einigen Grund zu haben – in der Öffentlichkeit noch eine gewisse Rolle spielen werden.

Die Auffassungen des Herrn Württembergischen Ministerpräsidenten wären m. E. durchaus zutreffend, wenn es sich jetzt in diesem Stadium lediglich um eine Stellungnahme der Reichsregierung handelte. Aber wir wissen doch, daß auch die Annahme des Sachverständigengutachtens durch den Reichstag erfolgen muß, und wenn nun draußen in der Öffentlichkeit bekannt wird, eine ganze Reihe von Einzelländern hat in der Ministerpräsidentenkonferenz die schwerwiegendsten Bedenken geltend gemacht und hat nicht die Vorzüge des Sachverständigengutachtens aufgezählt, dann glaube ich, das ist eine derartige Suggestion auf verschiedene Parteien des Reichstags und auf viele Gruppen unserer Bevölkerung, daß ich mir beim besten Willen von einer solchen Aufzählung von Bedenken eine Stärkung der Position der Reichsregierung nicht versprechen kann. In den bisherigen Erörterungen auch in der Öffentlichkeit hat die Stimmung in den Volkskreisen eine gewisse Rolle gespielt. Ich bin der letzte, der diese Stimmung in unseren Volksschichten ignorieren möchte. Aber das eine möchte [ich] noch sagen: die öffentliche Meinung ist in sehr vielen Fällen das, was die Regierung und was die Presse daraus macht. Es ist sehr leicht, die öffentliche Meinung zur Annahme des Sachverständigengutachtens zu beeinflussen. Es ist aber auch in diesen trüben Zeiten noch sehr viel leichter, weite Kreise unserer Bevölkerung dem Sachverständigengutachten derartig zu entfremden, daß die Situation der Reichsregierung demnächst im Reichstage eine durchaus schwierige sein wird. Deswegen sehe ich heute früh davon ab, die Bedenken aufzuzählen, die auch von seiten der Preußischen Regierung gegen einzelne Bestimmungen und gegen einzelne Vorschläge geltend zu machen wären.

Ich bin der festen Überzeugung, daß der Herr Reichsaußenminister und die Vertreter der Reichsregierung bei den Besprechungen in London all das durchzusetzen versuchen werden, was von meinen beiden Herren Vorrednern von den Länderregierungen hier geäußert worden ist.

Ich darf mich nun mit einem Wort der Frage zuwenden, ob es praktisch ist, die Kriegsschuldfrage in London zur Erörterung zu bringen, wie der Herr Bayerische Ministerpräsident meint, in den Mittelpunkt der Erörterung zu stellen. Ich habe nichts dagegen, wenn diese Frage in London ausgiebig erörtert wird, und ich wünsche, daß es unseren Vertretern gelingen möge, alle Vertreter auf dieser Konferenz und noch sehr viel mehr die Völker, die sie vertreten, davon zu überzeugen, daß Deutschland nicht allein schuld am Kriege hat. Aber[799] schon der Herr Württembergische Ministerpräsident hat m. E. durchaus zutreffend darauf aufmerksam gemacht: diese Frage darf nicht zu einer conditio sine qua non gemacht werden. Ich verspreche mir von einer Aufrollung der Frage noch gar keine Lösung in London, und ich glaube, wir werden noch jahrelang in der Publizistik, in den Parlamenten, in der Tätigkeit unserer Regierung zu tun haben, bis wir die anderen Völker, bis wir die Engländer, die Franzosen, die Italiener, kurzum die Welt davon überzeugt haben, daß diese Vorwürfe eine Lüge sind. Also wenn, ohne daß die materiellen Dinge damit gefährdet werden, die Kriegsschuldfrage zur Erörterung gestellt werden kann, dann wünsche auch ich eine ausgiebige Erörterung. Ich bin nur nicht Optimist genug zu meinen, daß die Frage in London schon zu einer Verabschiedung gelangen könne.

Wenn sich die Preußische Regierung für die Sachverständigengutachten erklärt, dann geschieht es nicht nur aus den finanziellen und wirtschaftlichen Gründen, die der Herr Reichsfinanzminister angeführt hat, nicht nur aus den allgemeinen inner- und außenpolitischen Gründen, die der Herr Reichsaußenminister angeführt hat, sondern für die Preußische Regierung kommt noch eine ganz besondere preußische Sache für diese Dinge in Betracht, die auch der Herr Reichsaußenminister schon angeführt hat. Der Herr Reichsaußenminister meinte, wir dürften keine Entscheidungen treffen, die die Nervenkraft der rheinisch-westfälischen Bevölkerung zu einer neuen Probe, zu einer neuen Belastung bringen. Das ist sehr zart ausgedrückt. Ich möchte das hier deutlicher sagen: Meine Herren, ich habe Berichte aus allen Kreisen der Bevölkerung der beiden preußischen Westprovinzen – ich glaube, der Herr Bayerische Ministerpräsident wird ähnliche Berichte bekommen haben –, daß, wenn in den Bevölkerungsschichten dieser beiden preußischen Provinzen sich die Überzeugung festsetzt, daß die jetzt angestrebte Lösung, die keine endgültige ist – damit stimme ich mit dem Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten durchaus überein –, daß diese jetzt angestrebte Lösung durch die Schuld der Berliner Regierungsstellen oder Parlamentsstellen scheitert – das ist mir offen erklärt worden –, dann das Schicksal der Rheinlande besiegelt ist. Dann wird es den Franzosen in der nächsten Zeit sehr leicht sein, wenn sie zu einer anderen Methode der Französierung der Rheinlande greifen, wenn sie sich nicht mehr dieser Verbrecher Matthes, Dorten und dergl. bedienen, sondern die friedliche Durchdringung, die friedliche Französierung vornehmen, die Rheinlande für sich zu gewinnen; und was das bedeutet, das brauche ich wohl in diesem Kreise nicht zu sagen.

Deswegen sind wir für die Gutachten. Deswegen sind wir nicht nur der Meinung, daß diese beiden Gebietsteile Preußen erhalten werden müssen, sondern der Meinung, daß Rheinland und Westfalen, das Herz der preußischen Industrie, dem Reiche bleiben müssen. Und darum stellen wir alle Bedenken zurück.

Ich hätte noch Einzelheiten zum Vortrag zu bringen, nämlich Wünsche, daß bei den Verhandlungen in London auch Wert darauf gelegt wird, daß demnächst wieder Preußen und das Reich die volle Souveränität in den bisher besetzten Gebieten haben und daß darüber hinaus auch einige Ordonnanzen zur[800] Streichung gelangen, die vor dem Ruhreinbruch, nach unserer Auffassung vertragswidrig, nicht mit dem Sinne des Rheinlandabkommens in Einklang stehend, erlassen worden sind. Aber das sind Dinge, mit denen ich die Debatte heute morgen nicht belasten möchte. Ich glaube, es ist praktisch, wenn ich das schriftliche Exposé dem Herrn Reichsaußenminister überreiche.

ReichskanzlerMarx: Ich würde herzlich dankbar sein, wenn wir das Material möglichst bald bekommen könnten. Wir müssen das Material sammeln; es ist noch ganz unübersichtlich. Es handelt sich auch um zahlreiche Ordonnanzen, die in Betracht kommen. Das Ministerium der besetzten Gebiete hat sich schon lange Zeit damit beschäftigt46; aber der vollständigen Sammlung stehen große Schwierigkeiten im Wege. Wir würden deshalb dankbar sein, wenn die Überreichung bald stattfände.

46

Am 26. 6. übersandte das RMinbesGeb. an die Reichsressorts und die Landesregg. eine Übersicht über die Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der dt. Souveränität in den besetzten Gebieten gemäß dem Sachverständigen-Gutachten erforderlich sind; hierbei auch eine Liste der Ordonnanzen der Irko sowie der Verfügungen des Generals Degoutte, die aufzuheben bzw. abzuändern sind (R 43 I /42 , Bl. 463-498).

Das Wort hat der Herr Reichsernährungsminister.

Reichsernährungsminister Graf v. Kanitz: Meine Herren, verzeihen Sie noch einige ganz kurze Worte über die Lage der Landwirtschaft, die heute nicht ernst genug dargestellt werden kann. Ich bin gerade dem Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten sehr dankbar für seine offenen Worte zu diesem Thema. Wir müssen uns ganz klar darüber sein, daß wir über den großen Fragen des Sachverständigengutachtens nicht die Lage der eigenen Wirtschaft vergessen dürfen, und ich kann nur mit allem Nachdruck sagen, daß die Landwirtschaft nicht vor einer Katastrophe steht, sondern mitten in der Katastrophe darin ist. Wir sind bereits mitten in der Extensivierung begriffen. Wir leben in einem ganz falschen wirtschaftlichen System. Die Dinge liegen so, daß die Landwirtschaft, ob groß oder klein, ihre Produkte tatsächlich verschleudern muß, und nicht nur Produkte, die sie sonst verkaufen müßte, sondern bereits Betriebsinventar, um die Lasten, die auf ihr liegen, abzudecken. Das sind einmal Steuerlasten, dann sind es Zinsen für die ausgegebenen Reichsbankwechsel, deren Prolongierung ja hoffentlich in Aussicht steht.

Wir haben zwei Aufgaben für die allernächste Zeit zu lösen, und ich wäre sehr dankbar, wenn die Herren Ministerpräsidenten und die Herren landwirtschaftlichen Ressortminister der Länder mir dabei behilflich wären. Einmal die Finanzierung nicht nur der Ernte, sondern die Finanzierung der Erntearbeiten, überhaupt die Finanzierung der Landwirtschaft, damit sie jetzt noch instand gesetzt wird, die Ernte überhaupt zu bergen. In einem großen Teil der landwirtschaftlichen Betriebe werden die Löhne seit vielen Wochen nicht mehr gezahlt. Es gibt Teile – das ist ja allerdings wohl mehr in Norddeutschland der Fall –, wo Landarbeiterstreiks bevorstehen, weil die Landarbeiter seit sechs Wochen ihre Löhne nicht mehr bekommen. Wenn ein Waggon künstlicher[801] Dünger in einem größeren Betriebe ankommt, legen die Landarbeiter zusammen mit dem Arbeitgeber Geld zusammen, um die Fracht auszulösen. So liegen die Verhältnisse auf allen Gebieten. Die Landwirtschaft ist tatsächlich am Ende.

Wir müssen also einmal die Erntearbeiten finanzieren und zum zweiten die Finanzierung der Ernte selbst, des Verkaufs der Ernte vornehmen. Ich sehe die Gefahr kommen, daß, weil der Handel kein Geld hat, ganz unter allem Hund befindliche Preise für die Ernte nachher geboten werden. Ich sehe die Gefahr kommen, daß der Roggen mit 2,50 M pro Zentner unter Umständen im Herbst untergebracht werden kann, weil der Handel kein Geld hat, ihn aufzunehmen. Heute liegen die Dinge so, daß der landwirtschaftliche Handel sagt: ja, gebt uns die Ware, aber wir können erst Ultimo Dezember zahlen, weil der Handel selbst ohne Geld ist. Das ist also die zweite schwere Aufgabe, den Handel zu finanzieren, um zu verhindern, daß, wenn die Ernte geborgen ist, die Ernte dann plötzlich infolge des furchtbaren Drucks, der auf der Landwirtschaft lastet, auf den Markt gebracht wird. Das muß verhindert werden. Wir müssen unter allen Umständen an dieser Gefahr vorbeikommen, daß die verzweifelte Landwirtschaft jeden Zentner Roggen, den sie erntet, im August und September sofort auf den Markt wirft; denn das ist eine große Gefährdung der Volksernährung für die nächsten Jahre.

Meine Herren, diese beiden Hauptprobleme – Finanzierung der Erntearbeiten, also eine Frage, die überhaupt jetzt gelöst werden muß, und zweitens Finanzierung des Verkaufs der Ernte im Herbst – müssen gelöst werden. Das Schlimme ist, daß wir ja für diese Dinge inländisches Geld brauchen, denn wir bekommen so schnell kein ausländisches Geld, und die Reichsbank ihrerseits ist aus währungspolitischen Gründen nicht in der Lage, uferlos landwirtschaftliche Wechsel zu diskontieren, die sie nicht wiederbekommt. Der Reichsbankpräsident steht auf dem Standpunkt, daß er nur dann für die Finanzierung der Erntearbeiten noch Kredite geben könnte, wenn die Refundierung der in eine Agrarbank umgewandelten Rentenbank in Sicherheit stände. Diese Umwandlung der Rentenbank in eine Agrarbank ist wiederum nur möglich, wenn die Frage der Sachverständigengutachten bereinigt ist. Das hängt eben leider alles unentwirrbar zusammen. Denn wir können über die Rentenbank nicht ganz frei verfügen, bevor nicht das Sachverständigengutachten so oder so erledigt ist.

Der Reichsbankpräsident sagt also: Ich kann erst neue Wechsel diskontieren, wenn der Gesetzentwurf betreffend Umwandlung der Rentenbank in eine landwirtschaftliche Bank47 – Hypothekenbank oder Kreditbank – im Reichstag angenommen ist. Das ist nach meiner Meinung zu spät, denn wir brauchen sehr viel schneller Geld. Diese Fragen werden in der nächsten Woche Gegenstand der Beratung zwischen mir und den Ländern sein, und ich werde mir erlauben, die Herren Ressortminister der Länder zu einer Besprechung in allernächster Zeit nach Berlin zu bitten.

47

Vgl. hierzu den GesEntw. über die Liquidierung des Umlaufs an Rentenbankscheinen: Dok. Nr. 249, P. 7.

[802] Weiter ist selbstverständlich die Prolongierung der Reichsbankwechsel bis zur Umwandlung der Rentenbank in eine Agrarbank bzw. bis zur Erschließung des Hypothekenmarktes nötig, der ja gänzlich darniederliegt. Wir brauchen also neue Kredite. Wir müssen aber auch der Landwirtschaft die Belastung, unter der sie heute leidet, zu erleichtern suchen, und da bin ich dankbar, daß der Herr Bayerische Ministerpräsident auch einmal ganz mutig das Problem aufgeworfen hat, daß eben doch auf steuerlichem Gebiete, nicht nur auf dem Gebiete der Stundung, sondern evtl. auch auf dem Gebiete der Verlegung der Termine, eine Erleichterung geschaffen wird. Denn wenn wir schon nicht hundertprozentig mit Kredit helfen können, so müssen wir erstens verhindern, daß die Entmutigung, ich möchte sogar sagen: die Demoralisierung in der Landwirtschaft so weiter fortschreitet, wie es jetzt ist. Das ist eine ganz eminent ernste Gefahr, und ich glaube, daß Reich und Länder doch ganz besonders ernst ins Auge fassen müssen, auf steuerlichem Gebiete wenigstens vorübergehend der Landwirtschaft entgegenzukommen. Ich bin ein Gegner einer zinslosen Stundung. Eine zinslose Stundung ist der Ruin jeden Staats. Wenn Stundungen ausgesprochen werden – und sie sind nötig –, so muß natürlich eine Verzinsung eintreten. Vom Reich aus ist die Marge zwischen 5 und 12% gelassen. Insofern würde ich dankbar sein, wenn man eher an 5% als an 12% herangeht; denn die Dinge liegen jetzt bereits so, daß die Landwirtschaft die Zinsen für die laufenden Wechsel nicht aufbringen kann und deshalb die Wechsel, auch wenn sie prolongiert werden sollen, zu Protest gehen, weil die Zinsen nicht einmal aufgebracht werden.

Dann wird es nötig sein, der Frage der Ausfuhrerleichterung näher zu treten. Ich fürchte allerdings, daß dieses Gebiet keine große Erleichterung schaffen wird, weil im Auslande verhältnismäßig sehr wenig Absatzmöglichkeit für deutsche landwirtschaftliche Produkte ist. Ich glaube z. B., wenn wir Vieh ausführen würden, würden Dänemark und die Schweiz sofort die Grenzen gegen Vieh generell schließen. Also auch auf diesem Gebiete wird sich eine wirksame Hilfe kaum finden lassen. Die Hauptsache bleibt eben – wie er zu beschaffen ist, weiß ich noch nicht – ein neuer sofortiger Kredit zur Finanzierung der Erntearbeiten noch im Juli. Sonst weiß ich nicht, wie die Dinge laufen werden, sonst stehen Streiks und alle möglichen Gefahren, auch politische Gefahren, in greifbarer Nähe. Und dann eben die möglichste Einschränkung der heutigen Belastung an Steuern und auch die Unterstützung bei der Reichsbank dahingehend, daß in der Prolongierung der Wechsel möglichst entgegengekommen wird. Das Reich allein kann diese Dinge gar nicht lösen, und die Unterstützung der Länder auf diesem sehr kritischen und akuten Gebiete wäre mir persönlich sehr angenehm und erwünscht.

Reichsfinanzminister Dr. Luther: Meine Herren, eine ganz kurze Bemerkung. Ich stimme in der Beurteilung der Dinge mit dem Herrn Reichsernährungsminister überein. Ich habe viele Dinge, bevor der Herr Reichsernährungsminister hier war, selbst ausgeführt.

Was die Steuerfrage insbesondere anbetrifft, so möchte ich nicht den Eindruck erwecken lassen, als wenn das Reich nichts täte. An sich ist der Erlaß[803] vom 6. Juni sehr weitgehend48; er hat wohl kaum ein Vorgehen in der Behandlung, wie es bisher der Fall gewesen ist.

48

Im Erlaß des RFM an die Landesfinanzämter vom 6. 6. heißt es: „1. Aus Kreisen der Landwirtschaft mehren sich die Anträge, daß der Landwirtschaft die Steuern (Einkommen-, Vermögen-, Erbschaftssteuer) bis nach Einbringung der Ernte gestundet werden möchten. […] Der schweren Belastung, die in der gegenwärtigen Aufbringung der Steuern liegt, muß sich wie alle anderen Berufsstände auch die Landwirtschaft unterziehen. Diesem Grundgedanken, an dem unbedingt festgehalten werden muß, steht nicht entgegen, daß im einzelnen Falle auf Antrag teilweise oder vollständige Stundung der Steuern auf einen beschränkten Zeitraum gewährt wird – dann nämlich, wenn glaubhaft gemacht wird, daß Mittel nicht flüssig gemacht werden können, und wenn die Veräußerung von Betriebsmitteln entweder die Aufrechterhaltung des Betriebes gefährden würde oder nur zu Preisen erfolgen könnte, die so außerordentlich tief liegen, daß den Steuerpflichtigen damit ein weit über die bezweckte Steuerbelastung hinausgehendes Opfer auferlegt würde. 2. Hier liegen auch die Grenzen für die Pfändung. […]“ (R 43 I /2395 , Bl. 165). Dazu ein ergänzender Runderlaß des RFM vom 15. 7. betr. Durchführung der Besitzsteuergesetze, insbesondere Stundung, Erhebung von Verzugszuschlägen, Zwangsvollstreckung (R 43 I /2537 , Bl. 216-218).

Ich möchte dabei noch auf folgendes aufmerksam machen, daß es sich in den Einnahmen, die auf Grund dieses Erlasses in Frage kommen, hauptsächlich um Ländereinnahmen handelt. Es handelt sich um die Einkommensteuer, wovon 90% den Ländern zufließen49. Eine allgemeine Hinausschiebung eines Termins bis an den Schluß ist von außerordentlicher Tragweite. Denn wir müssen, wie nun einmal die Dinge liegen, damit rechnen, daß wir überall, wo noch Steuerkraft vorhanden ist, diese Steuerkraft auch ausnutzen. Und wenn es auch den weitesten Teilen der Landwirtschaft ganz außerordentlich schlecht geht, worin gar kein Zweifel sein kann, so gibt es selbstverständlich auch in der Landwirtschaft wie in allen Berufsständen noch eine ganze Anzahl von Leuten, denen es besser geht. Die allgemeine Herausschiebung eines Termins würde aber bedeuten, daß wir die Steuermöglichkeiten, die auch da vorhanden sind, dann preisgäben. Ob das die Länderfinanzen tragen werden, ist eine Frage, die ernsthaft zu erwägen ist.

49

Auf Grund des Finanzausgleichs nach § 39 der 3. SteuerNotVO vom 14.2.24 (RGBl. I, S. 82 ).

Sächsischer Ministerpräsident Heldt: Meine Herren, die Sächsische Regierung hat schon auf der letzten Sitzung der Ministerpräsidenten vom April50 erklären lassen, daß sie sich der Auffassung der Reichsregierung anschließt und die Maßnahmen, die die Reichsregierung geplant hat und zur Durchführung bringen will, billigt. Auf diesem Standpunkt stehen wir auch heute noch. Die Zeit vom April bis jetzt hat mehr denn je gezeigt, daß die Reichsregierung mit ihrer Stellungnahme auf dem richtigen Wege ist. Denn unsere gesamten Verhältnisse haben sich seit April weiterhin derartig entwickelt, daß es gar nicht möglich ist, eine andere Stellung einzunehmen, als sie die Reichsregierung bisher eingenommen hat. Dabei ist es ja ganz selbstverständlich, daß wir in Sachsen genauso wie auch die Herren in den anderen Ländern wissen, daß das Sachverständigengutachten uns schwere Lasten auferlegt, ja, daß wir sogar der Meinung sind, daß auf die Dauer wir natürlich den Versuch werden machen müssen, diese schweren Lasten herabzumindern. Aber im Augenblick[804] bleibt kein anderer Weg, den wir gehen könnten, um auf unsere Weise aus der sehr gefährlichen Situation herauszukommen.

50

Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 14. 4., Dok. Nr. 175.

Meine Herren, Sachsen kann ja als das Probierland unserer deutschen Wirtschaft betrachtet werden. Einmal ist es das Land der weiterverarbeitenden und Fertigindustrie, und dann ist es auch das Land der exportierenden Industrie. Ich kann die Reichsregierung nur bitten, so schnell wie möglich den Versuch zu unternehmen, das Sachverständigengutachten zur Durchführung zu bringen; denn sonst ist es ausgeschlossen, daß wir unsere sächsische Wirtschaft weiter aufrechterhalten können. Wir haben jetzt fast jeden Tag 40 bis 50 Betriebsstillegungen. Man könnte ja sagen, in der Nachkriegszeit und namentlich während der Inflationsperiode sind sehr ungesunde Elemente in die Wirtschaft hineingekommen, denen man keine Träne nachzuweinen braucht, wenn sie jetzt wieder ausgeschieden werden. Aber, meine Herren, das ist nicht der Fall. Gerade die soliden und gesunden Unternehmungen sind es, die jetzt – wenigstens zeigt das die Entwicklung der Wirtschaft in Sachsen – so ungewöhnlich schwer zu kämpfen haben und die über eine verhältnismäßig kurze Zeit hinaus nicht mehr in der Lage sind, ihre Betriebe aufrechtzuerhalten. Wir haben in Sachsen jetzt eine unverhältnismäßig große Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen, während selbst Sachsen in der Zeit der tiefsten Krise in den Sommermonaten immer eine Abnahme gezeigt hat. Das geht darauf zurück, daß eben gerade die guten und gesunden Betriebe sich nicht mehr halten können, auch die, die sich nicht in dem Maße erweitert haben, daß man sagen könnte, in der Zeit der Inflation konnte man sie vielleicht halten, aber jetzt kann man es nicht mehr, sondern die sich durchaus auch in der Inflationszeit auf ganz solider Basis bewegt haben, sind nicht mehr imstande, jetzt ihren Betrieb in diesem Umfange aufrechtzuerhalten.

Deshalb bleibt uns gar keine andere Wahl, als so schnell wie möglich den Versuch zu machen, zu einem Abschluß zu kommen, um den Zusammenbruch unserer Wirtschaft zu verhindern.

Meine Herren, die Landwirtschaft spielt ja in Sachsen in dem Maße keine Rolle wie in anderen Ländern. Es ist erklärlich: wo eine starke Industrialisierung vorhanden ist, tritt die Landwirtschaft zurück. Wir haben, soweit die Landwirtschaft in Frage kommt, ja auch nur mittleren und kleinen bäuerlichen Besitz. Aber ich kann nur sagen, daß auch in Sachsen, soweit die Landwirtschaft eine Rolle spielt, die Verhältnisse sich derartig gestaltet haben, daß auch gerade die landwirtschaftlichen Betriebe schwer noch aufrechtzuerhalten sind. Auch wir haben den Wunsch, den der Herr Landwirtschaftsminister ausgesprochen hat, man solle die Steuertermine der Landwirtschaft verlegen, meinetwegen bis über die Ernte hinaus, damit die Leute jetzt nicht belastet werden, man solle, soweit irgend tunlich, mit Stundung nachhelfen, mit Hilfe des Härteparagraphen. Das ist bei uns schon der Fall gewesen, ganz besonders nachdem dankenswerterweise der Herr Reichsfinanzminister Dr. Luther mit seinem Erlaß51 und seiner Verfügung gekommen ist, die es ermöglicht, eine[805] gewisse Rücksicht darauf zu nehmen. Aber das ist auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das geht nur eine ganz kurze Zeit. Wir müssen zum Abschluß kommen und müssen Kredite von außen her erhalten, um unsere Wirtschaft zu stützen. Anders ist es nicht zu machen.

51

S. Anm. 48.

In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß ich eigentlich überrascht bin, daß gerade Herren, die der Landwirtschaft an sich doch sehr nahestehen und die bisher immer den Standpunkt vertraten, man müßte eigentlich das Sachverständigengutachten ablehnen, zu dieser Auffassung gekommen sind, obwohl sie wissen, daß die Landwirtschaft doch jetzt gar nicht mehr anders kann, als daß wir durch Annahme des Sachverständigengutachtens dann mit Krediten, und zwar mit langfristigen Krediten, ihr unter die Arme greifen.

Es ist gewiß richtig, was mein sehr verehrter Herr Namensvetter, der Herr Ministerpräsident von Bayern, hier gesagt hat. – Unser Name kommt jetzt etwas in die Mode. – Der Herr Bayerische Ministerpräsident sagte durchaus mit Recht, man müsse natürlich auf die Gefühle weiter Volkskreise auch eine gewisse Rücksicht nehmen. Meine Herren, ich gebe das in einem Lande wie Deutschland, wo wir, wie wir ja alle wissen, aus einer Gefühlsduselei – hier darf ich es wohl sagen – nicht herauskommen, dem Herrn Kollegen aus Bayern ohne weiteres zu, daß auf diese Gesamtstimmung, wenn es irgend geht, eine gewisse Rücksicht genommen werden muß. Aber im gegenwärtigen Augenblick und wie die wirtschaftliche Lage jetzt ist, können wir auf irgendwelche Gemütsstimmungen keine Rücksicht mehr nehmen, sondern wir müssen handeln, selbst auf die Gefahr hin, daß wir dadurch einige innerpolitische Schwierigkeiten bekommen. Es ist möglich, daß wir sie bekommen, aber die müssen wir dann überwinden, weil es sich da doch zweifellos um das kleinere Übel gegenüber dem großen Gedanken handelt, daß wir eine Basis bekommen, die es uns ermöglicht, unsere Wirtschaft nun im letzten Augenblick noch zu stützen und vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Meine Herren, wir haben in Sachsen immer, wenn darauf hingewiesen worden ist, daß die Annahme des Sachverständigengutachtens uns schwere Belastungen bringt, darauf hingewiesen und in den Vordergrund gestellt, daß man doch nicht vergessen solle, daß das erste Erfordernis, um wieder hochzukommen, unsere wirtschaftliche Bewegungsfreiheit ist. Und wenn das Sachverständigengutachten uns bis zu einem gewissen Grade – ich gebe ohne weiteres zu, daß es keine endgültige Lösung bringt –, wenn es uns aber bis zu einem gewissen Grade in der gegenwärtigen Zeit etwas vorwärts bringt, dann, glaube ich, müssen die Bedenken, die sonst geäußert werden können, zurücktreten, und man muß sich dann auch geschlossen hinter die Maßnahmen der Reichsregierung stellen und muß sie unterstützen.

Das wollte ich hier noch zum Ausdruck bringen, indem ich im übrigen nochmals auf die Stellungnahme verweise, die die Sächsische Regierung schon in der April-Sitzung hier zum Ausdruck gebracht hat.

Reichsfinanzminister Dr. Luther: Ich wollte wegen der Kreditgewährung nur folgendes sagen. Ich kann dem Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten nur völlig beistimmen, wenn er meine Ausführungen noch einmal nach der Richtung[806] zusammengefaßt hat, daß der Weg drei, wie Sie ihn bezeichneten, also die Außenkredite, ja selbst nur möglich ist in Kombination mit dem Weg eins. Ich hatte ja gesagt: der Weg eins ist ja die einzige Möglichkeit einer endgültigen Lösung, weil wir ja doch auch jeden Auslandskredit einmal zurückzahlen müssen. Man kann aber auch noch darüber hinausgehen. Ich hatte den Herren auch in meinen Darlegungen ja mitgeteilt, ein wie starker Druck für tägliches Geld sich augenblicklich auf dem Markt befindet. Wenn einmal eine neue politische Stufe erreicht ist – ich darf denselben vorsichtigen Ausdruck noch einmal wiederholen – eine neue politische Stufe erreicht ist, dann wird ja auch die Vertrauenskrise vielleicht recht schnell zu Ende gehen, und dann wird das tägliche Geld, das bei uns umläuft, Neigung haben, sich in längerfristige Anlagen zu verwandeln. Wir werden ja aus allen Ecken das Geld zusammenkratzen müssen, um voranzukommen. Denn das ausländische Geld wird ja auch nicht in Stromart über uns hinwegfließen, obwohl es gewisse Teile des Auslandes gibt, wo Geld augenblicklich sehr wenig wert ist und wo man Geldanlage bei uns sucht. Ich darf aber der Landwirtschaft empfehlen, daß sie sich keinen übertriebenen Hoffnungen hingibt, daß diese Gelder ihr allein zugute kommen, sondern ihr fehlen eben die internationalen Verbindungen, wie die industriellen Verbindungen, die Handelsverbindungen und überhaupt die internationalen Verbindungen, die andere Teile der Wirtschaft haben. In der Landwirtschaft muß das, was Herr Graf Kanitz erwähnt hat, eine große Rolle spielen, nämlich die Fundierung des Geldes in der umgebauten Rentenbank und all die Bestrebungen, um das in Deutschland als tägliches Geld umherlaufende Geld zu langfristiger Anlage der Wirtschaft heranzuziehen.

Bayerischer Ministerpräsident Held: Ich kann dem Herrn Reichsfinanzminister durchaus recht geben, und trotzdem stehe ich auf dem Standpunkt: je bessere und längere ausländische Kredite wir bekommen, umso entlasteter wird der deutsche Markt im übrigen, und die Landwirtschaft kann dann das haben, was sie heute nicht haben kann.

Dabei nur die eine Bemerkung. Wir in Süddeutschland sind noch viel schlimmer daran als in Mitteldeutschland und in Norddeutschland. Wir haben von der Rentenmark nahezu gar nichts bekommen. Das ist ein Kapitel, über das wir bei einer anderen Gelegenheit sprechen wollen.

[RK Marx schließt die Vormittagssitzung.]

Nachmittagssitzung. Beginn 14.30 Uhr

[RK Marx eröffnet die Sitzung.]

Staatspräsident Ulrich (Hessen): Ich bin der Meinung,, daß das, was wir von der Reichsregierung gehört haben, im großen und ganzen angenehmer geklungen hat, als es bisher immer geklungen hatte, wenn wir hier versammelt waren. Mir scheint es, als wenn die Mitteilungen, die wir diesmal erhalten haben, klar und deutlich zeigten, daß die Reichsregierung in völliger Klarheit des Zieles ist und darauf ausgeht, das Sachverständigengutachten, soweit es möglich ist, für uns auszunutzen. Das letztere scheint mir das Notwendigste[807] zu sein. Gerade wir im besetzten Hessen, wo bei uns mehr als 40% des ganzen Landes besetzt ist, müssen darauf sehen, daß seitens der berufenen Vertreter des Reiches unsere wirtschaftlichen Interessen nicht hintangestellt werden und daß die wirtschaftlichen Forderungen, die im einzelnen ja schon in den früheren Sitzungen vertreten worden sind, bei den Verhandlungen in London, wenn es irgend angeht, mit Nachdruck gestellt werden, weil wir fürchten, daß, wenn wir lediglich die politischen Fragen zu klären suchen, die wirtschaftlichen Notwendigkeiten ins Hintertreffen geraten. Deshalb müssen wir uns, nachdem wir einmal soweit sind, daß wir zu Verhandlungen mit der Entente gelangen, auf den Standpunkt stellen, daß unsere wirtschaftlichen Forderungen möglichst berücksichtigt werden. Ich bin der Meinung, daß es allerdings gut ist, wenn wir das erreichen können, daß für die Folge Sanktionen nicht mehr zu befürchten sind, und wenn anstelle der Sanktionen schiedsrichterliche Entscheidungen treten. Diesen Standpunkt halten wir für notwendig, und insofern bin ich auch mit der Auffassung der Regierung vollständig einverstanden, daß wir versuchen müssen, nach Kräften dahin zu wirken, daß wir zunächst die Reparationsvorschläge prüfen und soweit als möglich akzeptieren, uns auf der anderen Seite aber auch vollständig klar darüber sind, daß es unmöglich sein wird, die z. T. für 1928 in Aussicht gestellten Forderungen zu erfüllen. Immerhin darf man aber diese Befürchtung, die man hat, nicht in eine Form kleiden, die den Gedanken aufkommen läßt, als wolle man seine Verpflichtungen nicht erfüllen. Das wäre natürlich ein großer Fehler. Wir müssen in dieser Richtung unsere Auffassung zurückstellen und klar und deutlich sagen: Wir werden versuchen, die Ziffern zu erreichen; wenn es aber unmöglich ist, dann müssen wir auch mit Recht sagen können, wir haben damals auf die Unmöglichkeit hingewiesen und sie gekannt.

Nun wurde die Frage der Schuldlüge in den Vordergrund gestellt. Mir scheint es, als wenn diese Frage späteren Erörterungen vorbehalten werden sollte. Jedenfalls wäre es ein großer Fehler, wenn wir deshalb nicht in die Verhandlungen eintreten wollten, weil die Frage der Schuldlüge nicht geklärt sei. Das können wir unter keinen Umständen verlangen. Wir müssen uns zwar auf den Standpunkt stellen, daß wir nach wie vor die Schuldlüge, wie sie im Versailler Vertrag festgelegt ist, bekämpfen; wir werden unter allen Umständen versuchen müssen, diese Lüge zu beseitigen, aber deswegen jetzt das Ganze davon abhängig zu machen, möchte ich mit Entschiedenheit ablehnen.

(Bazille (Württemberg): Das verlangt ja niemand!)

Es ist gut, wenn das ausdrücklich hier festgestellt wird, damit die Reichsregierung weiß, daß die einzelnen Länder, die hauptsächlich unter diesen Verhältnissen zu leiden haben, zwar der Meinung sind, daß die Schuldfrage, wo immer sie eine Rolle spielt, bekämpft werden muß, daß wir aber nicht diese Frage zum Angelpunkt unserer ganzen Politik machen wollen.

Die Frage, ob wir eine neue Inflation ertragen könnten, ist m. E. durch den Herrn Reichskanzler52 in einer Weise klargelegt, daß man sich einer[808] Illusion nicht hingeben kann. Sobald der Versuch auch gemacht wird, eine neue Inflationsperiode in Szene zu setzen und dadurch gewissen Kreisen entgegenzukommen, ist die Frage meiner Ansicht nach unter allen Umständen abzulehnen. Denn wenn wir jetzt mit der Rentenmark zu einer Inflationsperiode kommen würden, fürchte ich, daß sowohl Landwirtschaft als auch Industrie darunter leiden müßten, ja daß tatsächlich weite Kreise unter einer neuen Inflation zugrunde gehen müßten. Darüber scheint mir wirklich gar kein Streit mehr möglich zu sein. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir alles, was finanziell möglich ist, tun müssen, um eine derartige neue völlige Zerstörung unserer Wertverhältnisse zu verhindern. Ich kann namens Hessens erklären, daß wir durchaus mit der Haltung der Reichsregierung einverstanden sind.

52

Es muß wohl heißen: Reichsfinanzminister.

Namentlich haben wir es begrüßt, daß endlich Klarheit darüber besteht, daß die Frage der Militärkontrolle nicht ausschlaggebend für die weitere Haltung der Reichsregierung ist53. Wir müssen gestehen, daß in dem Augenblick, als diese Tatsache durch die Presse im Lande bekannt wurde, ein erleichterndes Aufatmen durch alle Kreise ging. Deshalb bin ich der Meinung, daß die heutige Konferenz zu dem Entschluß kommen sollte, daß sie mit dem, was die Regierung bisher in der Sache getan und was sie erreicht hat, durchaus einverstanden ist und daß wir die Hoffnung haben, daß in dem Sinne, wie die Regierung bisher gewirkt hat, sie weiter wirken möge.

53

In der dt. Antwortnote vom 30. 6. zur Militärkontrolle heißt es einleitend: „Die dt. Reg. hat volles Verständnis für den Wunsch, die internationale Lage nicht gerade in dem Augenblick zu belasten, wo die Aussicht auf eine schnelle Durchführung des Sachverständigengutachtens die Hoffnung aufkommen läßt, daß eine endgültige Regelung der Reparationsfrage und damit zugleich die Grundlage eines allgemeinen und wirklichen Friedens zwischen den beteiligten Völkern gefunden werden kann.“ Zur dt. Note vom 30. 6. s. Dok. Nr. 234, Anm. 13.

Was nun die Frage angeht, ob wir die erforderlichen Gesetze erledigen können und ob der Reichstag bei etwaigen verfassungsändernden Gesetzen keine Schwierigkeiten macht, so meine ich, die Reichsregierung sollte, wie sie es nach meiner Auffassung bisher mit ziemlichem Geschick fertiggebracht hat, auch ferner jede Verfassungsänderung vermeiden und auf dem Wege einfacher Gesetzesvorlagen die notwendigen Maßnahmen zu treffen suchen. Das ist eine Notwendigkeit. Wenn die Rechtsgelehrten sich diese Notwendigkeit vor Augen halten, wird man auch in der Lage sein, juristische Gutachten dafür zu finden, die feststellen, daß es sich um keine verfassungsändernden Gesetze handelt.

Wenn es uns jetzt gelingt, wirklich zu Verhandlungen zu kommen, so wird es m. E. auch möglich sein, die Interessen des Reichs und der einzelnen Länder, soweit irgend angängig, zu wahren. Ich habe nun die Bitte, daß man, wenn die Verhandlungen bis zur Erörterung von Einzelheiten vorgeschritten sind, mit den einzelnen Regierungen, wenn es sich um spezielle Fälle handelt, die deren Interessen besonders berühren, sich unterhält und sich darüber klar wird, wie man helfen und diese Interessen berücksichtigen kann. Im allgemeinen stehen wir wie gesagt auf dem Standpunkt, daß das, was die Reichsregierung bisher in dieser Sache getan hat, dem Interesse der Länder durchaus entspricht und daß wir wünschen, es möchte diese glückliche Entwicklung so weitergehen.

[809] ReichskanzlerMarx: Ich möchte nur einige Bemerkungen zu der Frage der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einiger Gesetze machen. Das Kabinett hat sich in dieser Beziehung noch nicht darüber schlüssig gemacht. Ich kann also nur meine persönliche Meinung aussprechen. Es wird gut sein, wenn wir uns darüber vollkommene Klarheit verschaffen. Es handelt sich um eine so eminente Lebensfrage des deutschen Volkes und des Deutschen Reiches, daß wir dem Reichstag gegenüber mit aller Entschiedenheit auftreten müssen. Wir werden ihm sagen müssen, daß wir alles daran setzen, um diese Frage von ihm in dem Sinne erledigt zu sehen, wie es die Reichsregierung bisher für richtig gehalten hat.

Die Frage, ob gewisse Gesetze eine Abänderung der Verfassung bedeuten oder nicht, kann erst dann geprüft und mit einiger Entschiedenheit gelöst werden, wenn die Gesetzentwürfe selbst vorliegen. Vorher läßt sich das nicht sagen. Es kann sehr wohl ein Entwurf allen Wünschen und Anforderungen entsprechen, die an ihn zu stellen sind, ohne daß die Verfassung dadurch geändert wird. Wenn aber irgendein Zweifel daran bestehen sollte, ob ein Gesetzentwurf der Verfassung widerstreitet, sie abändert oder nicht, dann würde ich nach meiner Meinung dem Reichstag ohne weiteres sagen: dieses Gesetz muß eben, um jeden Zweifel auszuschließen, mit der für verfassungsändernde Gesetze notwendigen Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Wenn irgendwie und irgendwann, dann muß hier volle Klarheit über die Bedeutung eines Gesetzes herrschen. Wir dürfen nicht nachher den Anschein erwecken lassen, als sei ein Gesetz nicht auf verfassungsmäßiger Grundlage aufgebaut. Wenn das dem Reichstage mit aller Entschiedenheit gesagt und ihm mitgeteilt wird, daß die Reichsregierung entschlossen ist, alles daran zu setzen, um eben das Gesetz auf diesem Wege durchzubringen, wird der Reichstag sich ernsthaft überlegen müssen, ob er es dann wagt, nicht mit Zweidrittelmehrheit für das Gesetz zu stimmen. Wenn dann die Entscheidung nicht so ausfällt, wie wir es für notwendig halten, werden wir uns vor eine ernste Frage gestellt sehen und uns über die weiter zu ergreifenden Schritte schlüssig machen müssen. Wenn der Volksvertretung der Ernst der Situation dargestellt wird, wird sie sich überlegen, ob sie wirklich sich und dem Volke gegenüber es verantworten kann, solche Gesetzentwürfe abzulehnen und nicht die notwendige verfassungsmäßige Mehrheit dafür aufzubringen.

Das ist wie gesagt mein Standpunkt. Das Kabinett hat sich in dieser Beziehung noch nicht schlüssig gemacht.

Badischer Ministerpräsident Köhler: Die Erklärung Badens in der vorliegenden Frage kann kurz sein. Wir haben uns im April d. J.54 bereits auf den Standpunkt der Reichsregierung gestellt, aus Erwägungen heraus, die uns unsere Lage als Grenzland eingegeben haben. Wir begrüßen die Entschlossenheit, mit der die Reichsregierung bis jetzt ihren Weg gegangen ist. Ich freue mich insbesondere auch über die Erklärung, die der Herr Reichskanzler soeben[810] abgegeben hat und die klar erkennen läßt, daß die Regierung mit derselben Entschlossenheit die Lösung der gegenwärtigen Fragen betreiben wird. Es ist gar kein Zweifel, daß auch diejenigen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen dem Sachverständigengutachten mit Skepsis gegenüberstehen, unter dem Druck der jetzigen wirtschaftlichen Situation eben sagen müssen: es gibt im gegenwärtigen Augenblick keine andere Zwischenlösung. Die Lage unserer Industrie und Landwirtschaft ist ja so eingehend geschildert worden, daß man von weitergehenden Schilderungen absehen kann.

54

Bei der Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder am 14. 4. (Dok. Nr. 175).

Ich möchte darauf hinweisen, daß bei den Schilderungen die Landwirtschaft einen breiteren Raum eingenommen hat. Ich würde es begrüßen, wenn die Zahlungstermine anders festgesetzt werden könnten, damit nicht die finanziellen Interessen der Länder schwer geschädigt werden. Wenn im gegenwärtigen Augenblick beispielsweise in der Zahlung der Einkommensteuer und vielleicht dann auch in der Grund- und Gewerbesteuer den Ländern Monate ausfallen würden, so weiß ich im gegenwärtigen Augenblick nicht, womit die Länder ihre laufenden Ausgaben bestreiten sollten, insbesondere dann, wenn auch die Industrie auf Hinausschiebung der Zahlungstermine Anspruch erheben wird. Wir wollen bei aller Anerkennung der Notlage der Landwirtschaft doch nicht vergessen, daß auch unsere Industrie sich in einer außerordentlichen Notlage befindet, wenn sie sich natürlich auch in anderer Weise ausdrückt und darstellt als bei der Landwirtschaft. Unsere Industrie wird besonders bedrückt durch die Zinspolitik, die z. Zt. betrieben wird. Es berührt etwas eigenartig, wenn man hört, daß bei vielen Banken das Geld daliegt, aber infolge der Krise einfach nicht ausgeliehen werden kann, weil auf der anderen Seite die Industrie Zinsen zahlen muß, die eben einfach aus den Betrieben nicht herausgewirtschaftet werden können. Ich weiß nicht, ob die Reichsregierung einen Einfluß auf die Zinspolitik hat. Der Reichsbankpräsident freut sich, wenn man verlangt, daß eine andere Zinspolitik eingeschlagen wird. Der Reichskanzler freut sich auch. Aber diese platonische Freude nützt der Industrie gar nichts. Wir wissen, daß selbst Reichsstellen – ich bedaure, daß keiner der in Frage kommenden Herren Reichsminister im gegenwärtigen Augenblick da ist – z. Zt. Zinsen von ihren flüssigen Geldern erheben, die es rein unmöglich machen, mit den Geldern zu arbeiten. Ich muß zwar sehr vorsichtig sein in der Aussprache dieser Kritik, da ich Gefahr laufe, daß mein Land eben von diesen Stellen kein Geld mehr bekommt. (Zuruf) Die Eisenbahn kann dabei nicht in Betracht kommen; von der haben wir bis jetzt überhaupt nichts bekommen. Es wird eine andere Frage sein, die die Länder gründlich miteinander erörtern müssen, ob es nicht möglich wäre, daß die gewaltigen Summen, die bei Reichsstellen eingehen – ich denke an die Finanzverwaltung, die Eisenbahnverwaltung und die Postverwaltung –, nicht etwa kurzfristig den Ländern doch noch zur Verfügung gestellt werden können für ihre Industrie und ihr gesamtes Wirtschaftsleben. Aber wie gesagt, ich befürchte, daß, wenn man der Landwirtschaft zu weitgehende Zahlungstermine gibt, dann die Finanzgebarung der Länder ins Wanken kommt und daß insbesondere die Industrie verlangen wird, daß man ihr ähnliche Stundungen gewährt.

[811] [Köhler macht weitere Ausführungen zur Frage der Steuerstundung im Zusammenhang mit dem Erlaß des RFM vom 6. Juni55.]

55

S. Anm. 48.

Wir sind auch damit einverstanden, daß die Kriegsschuldfrage in der Weise, wie es der Herr Reichsaußenminister erörtert hat, zur Diskussion gestellt wird. Ich freue mich sehr, daß durch den Zwischenruf des Herrn Württembergischen Staatspräsidenten – ich nehme an, daß er von ihm stammt – klargestellt ist, daß auch die Württembergische Regierung auf dem Standpunkt steht, daß an der Kriegsschuldfrage die Abmachungen, die auf der Londoner Konferenz getroffen werden sollen, nicht scheitern dürfen, daß mit anderen Worten auch Württemberg auf dem Standpunkt steht, das Sachverständigengutachten solle jetzt in die Praxis überführt werden; man solle versuchen, in der Kriegsschuldangelegenheit so weit als möglich vorwärtszukommen, insbesondere aus innenpolitischen Gründen, daß aber an der Lösung dieser Frage die uns allen auf den Nägeln brennende Frage der Beschaffung von Auslandskrediten nicht scheitern soll.

Was im Jahre 1928 werden wird, können wir heute noch nicht voraussagen. Ich nehme an, wir benutzen die Zeit bis 1928, um in dem Sinne zu arbeiten, wie es zum Ausdruck gebracht worden ist. Nach dem Versailler Vertrag bleibt uns die Möglichkeit offen, eine Nachprüfung unserer Leistungsfähigkeit zu verlangen. Vielleicht ist dann die innere Einstellung des deutschen Volkes eine bessere als die, die der Herr Reichsaußenminister heute hat kundgeben müssen, zu meinem tiefen Bedauern hat kundgeben müssen, daß wir es zum Teil deutschen Einflüssen indirekt zu verdanken haben, daß wir auf 2,5 Milliarden Jahresleistungen im Jahre 1928 festgelegt sind. Das ist doch eigentlich eine tiefbetrübliche Feststellung. Ich möchte hoffen, daß wir vielleicht im Jahre 1928 so weit sind, daß derartige Dinge vermieden werden.

[RK Marx unterbricht die allgemeine Aussprache und erteilt Schacht das Wort.]

Reichsbankpräsident Dr. Schacht: Der Bankgesetzentwurf ist in erster Lesung im Kabinett sowohl wie auch im Organisationskomitee erledigt worden56 – einige Fragen von minderer Bedeutung stehen noch aus –, bis auf eine einzige sehr entscheidende Frage, auf die ich gleich kommen werde.

56

S. Dok. Nr. 240, P. 1.

Voraussetzung für das Zustandekommen der derzeitigen Vorlage ist ein Finanzausgleich zwischen der Reichsbank und dem Reich, der in seinen Grundlagen behandelt ist und, wie ich annehme, zu einem Ergebnis führen wird, welches erlaubt, daß die Reichsbankanteile im Verhältnis von 2:1 zusammengelegt werden können, d. h. daß aus 180 Millionen Mark Kapital ein Kapital von 90 Millionen Mark entsteht57. Dann würde sich die Ziffer ungefähr an die runde Summe halten, die als Aktiva für die Reichsbank geschätzt worden ist.

57

S. hierzu den „Bericht des Organisationskomitees zur Feststellung der vorbereitenden Maßnahmen für die Organisation einer Notenbank in Deutschland“, RT-Drucks. Nr. 448 , S. 18, Bd. 383; ferner Schacht, Die Stabilisierung der Mark, S. 135 f.

[812] Ferner ist noch nicht ganz erledigt der Gesetzentwurf über die Privatnotenbanken. Aber eine Einigung hat auch hier grundsätzlich zwischen allen Beteiligten stattgefunden. Die Privatnotenbanken werden in ihrer bisherigen Wirksamkeit erhalten. Sie bekommen ein Kontingent, welches dem Friedenskontingent entspricht in einer Gesamthöhe von 194 Millionen und werden ferner in ihrer Notenausgabe in ein Verhältnis gebracht werden, welches zu dem Notenumlauf der Reichsbank sich wie 7,6 zu 10 verhält58. Die Golddiskontbank, die zurzeit ja ganz nützlich gearbeitet und zur Erleichterung unserer Währungssituation sehr erheblich beigetragen hat, wird in die Reichsbank übernommen werden derart, daß die 100 Millionen Mark Kapital der Golddiskontbank, die von deutscher Seite aufgebracht worden sind, in Anteile der Reichsbank umgetauscht werden in einem Verhältnis, das wir natürlich noch festsetzen müssen. Wir erreichen damit, daß auch diese Anteile sich im wesentlichen in deutscher Hand befinden.

58

Es muß heißen: wie 7,6 zu 100. Zur endgültigen Festlegung des Notenkontingents der Privatnotenbanken s. § 3 des Privatnotenbankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 246 ).

Was die Höhe des Gesamtgrundkapitals anlangt, so haben wir im Organisationskomitee durchgesetzt, daß nicht der Betrag von 400 Millionen als notwendig erachtet, sondern auch ein geringeres Kapital angenommen wird, welches einstweilen mit gegen 300 Millionen angesetzt worden ist59, so daß noch 110 Millionen neu zu beschaffen wären, die dann innerhalb Deutschlands und zugleich im Ausland zur öffentlichen Zeichnung aufgelegt werden würden, zu Bedingungen, die noch festzusetzen wären.

59

S. hierzu § 5 des Bankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 236 ).

Ebenfalls noch nicht ganz beendet sind die Beratungen des Rentenbankgesetzes60. Sie wissen aus den Nachrichten, die Ihnen bisher zugegangen sind, daß die Rentenbank als Währungsbank liquidieren muß, wie es selbstverständlich ist, wenn die Reichsbank wieder auf Gold gestellt wird, daß aber der Wunsch besteht, die Rentenbank als landwirtschaftliches Hypothekarkreditinstitut weiterzuführen unter Ausnutzung ihrer bisherigen Belastung. Diese Zinsbelastung würde zu einem Teil benutzt werden zur Tilgung der Rentenbankscheine, die jetzt noch im Umlaufe sind, etwa in Höhe von 60 Millionen jährlich, während weitere 60 Millionen vom Reich für die Liquidation der Rentenbankscheine zu zahlen wären. Damit würden 1200 Millionen Mark Rentenbankscheine – was dem Betrag entspricht, den das Reich als Kredit von der Rentenbank bekommen hat – in zehn Jahresraten jährlich 120 Millionen getilgt werden und dadurch aus dem Verkehr verschwinden. Die ferner in Zirkulation befindlichen 800 Millionen Rentenbankscheine sind ja gegen Wechselkredite ausgeliehen und würden sich durch die Rückzahlung dieser Wechselkredite von selbst erledigen. Gedacht ist, daß die Liquidation dieser 800 Millionen in der Weise erfolgen soll, daß diese 800 Millionen im wesentlichen auf die landwirtschaftlichen Kredite konzentriert werden und daß hier nicht eine Liquidation in drei Monaten bei Fälligkeit der Wechsel erfolgt, sondern daß[813] der Rentenbank dieses Portefeuille übertragen wird zu einer Liquidation im Laufe von drei Jahren, derart, daß die Landwirtschaft in der Lage wäre, diese Wechselkredite nicht sofort bei Fälligkeit, sondern mit je einem Drittel in drei Jahresraten zu tilgen, wodurch eine wesentliche Erleichterung für die Landwirtschaft herbeigeführt werden würde. Die Reichsbank wird ohne gesetzliche Bindung, wie es auch bisher geschehen ist, sich moralisch für verpflichtet erachten, die Rentenmark auch weiter als im Werte von einer Goldmark im Verkehr aufzunehmen und damit die Rentenmark auf der Goldparität zu halten, auf der wir sie bisher gehalten haben.

60

Zum Entwurf eines Gesetzes über die Liquidierung des Umlaufs an Rentenbankscheinen vgl. Dok. Nr. 249, P. 7; Schacht, Die Stabilisierung der Mark, S. 138 f.

Was die Verwaltung61 angeht, so steht fest, daß das Direktorium nach wie vor in seiner Geld-, Währungs- und Diskontpolitik vollständig unabhängig ist62. Das Direktorium muß zwar von dem Transferagent gute Ratschläge annehmen, ist aber an diese guten Ratschläge in keinem Fall gebunden. Es steht ferner fest, daß der Zentralausschuß der Reichsbank wie bisher auch weiterhin als beratende Körperschaft dem Direktorium zur Seite stehen soll, und es ist vorgesehen, daß in dieser Körperschaft alle Kreise der Wirtschaft vertreten sein sollen63. Es ist insbesondere auch vorgesehen, daß das Handwerk künftig im Zentralausschuß vertreten ist. Der Generalrat wird durch das Organisationskomitee zusammengesetzt werden64. Ich mache nochmals darauf aufmerksam, daß auch die sieben Ausländer durch das Organisationskomitee, durch Kindersley bestimmt werden. Es sind bisher besondere Persönlichkeiten dafür noch nicht in Aussicht genommen, aber ich glaube, daß es nicht schwer sein wird, darüber eine Einigkeit herbeizuführen. Ebenso werden die deutschen Mitglieder in der Form gewählt werden, daß das Organisationskomitee die ersten Mitglieder zuerst bestimmt. Die Zusammensetzung wird so erfolgen, daß ein Sitz für den Präsidenten reserviert bleibt und dann sechs Sitze besetzt werden. Es wird natürlich sehr schwer sein, diese sechs Sitze in einer Weise zu verteilen, daß allen Ansprüchen nun Gerechtigkeit widerfahren kann. Ich glaube, daß wir im wesentlichen auf zwei Dinge Rücksicht nehmen müssen. Einmal schreibt das Sachverständigengutachten selber vor, daß diese Herren im Bank- und Geldwesen erfahren sein müssen. Sie werden im wesentlichen aus dem Finanzwesen entnommen werden müssen. Zum zweiten werden wir als Grundsatz aufstellen müssen, daß sie sich über das Reich verteilen müssen. Ich glaube, daß es nicht richtig wäre, den Generalrat bzw. die deutschen Mitglieder des Generalrates nun alle hier aus der Berliner Bank zu nehmen. Wir beabsichtigen, den Süden und Westen und die Hansestädte dabei zu beteiligen. Es wird im wesentlichen darauf hinauskommen, daß wir vielleicht zwei Herren aus Süddeutschland, einen aus dem Rheinland, einen aus den Hansestädten, einen von hier und dann einen sechsten Herrn noch nehmen. Diese Personalfrage ist natürlich nicht ganz leicht. Wir halten uns in diesen Fragen durchaus wie in allen Fragen in engstem Benehmen mit dem Kabinett.

61

Gemeint ist die Verwaltung der Rbk.

62

S. § 6 Abs. 1 des Bankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 236 ).

63

S. § 13 des Bankgesetzes.

64

S. § 16 des Bankgesetzes.

[814] Die Frage der Bestätigung bzw. Gegenzeichnung der Ernennung der Mitglieder des Direktoriums und des Präsidenten des Direktoriums der Reichsbank durch den Reichspräsidenten ist diejenige Frage, die uns augenblicklich noch am meisten Kopfzerbrechen macht65. Sie hat innerhalb des Komitees66 eine sehr große Rolle gespielt. Es ist nach langen Bemühungen gelungen, eine Fassung durchzusetzen, die nicht etwa unseren Wünschen entspricht, die aber zeigt, daß innerhalb des Expertenkomitees eine gewisse Neigung, und zwar vielleicht seitens der Majorität, uns in dieser Frage entgegenzukommen, vorhanden war. Nach dem Wortlaut des Berichtes ist nämlich gesagt worden, daß die Ernennung des Präsidenten und der Mitglieder des Direktoriums durch den Reichspräsidenten gegengezeichnet werden soll67. Die Frage, was nun geschieht, wenn er es nicht tut, ist offengelassen worden. Ich habe innerhalb des Organisationskomitees diese Frage sehr eingehend zur Sprache gebracht. Kindersley steht auf dem Standpunkt, daß es am besten wäre, diese Frage auch weiterhin offenzulassen und es als eine Angelegenheit der deutschen Gesetzgebung zu bezeichnen, was nun werde, wenn eben diese Dinge nicht vorher ausdrücklich geregelt würden. Er fürchtet, daß, wenn die Frage wieder aufgeworfen wird, die Widerstände gegen eine Abhängigkeit der Reichsbank vom Reich wieder erneut und verstärkt auftauchen werden. Ich hoffe trotzdem, weil ein solcher Zustand, wie die Juristen, insbesondere das Reichsjustizministerium ausführt, gar nicht möglich ist, weil eine Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten etwas ist, was verfassungsmäßig der Grundlage entbehrt, daß wir in dieser Frage entweder vorher noch im Organisationskomitee, welches Ende der Woche wieder zusammentritt, eine Erledigung in unserem Sinne herbeiführen werden, oder aber, daß wir vielleicht in London in der Lage sind, diese Frage noch einer Klärung entgegenzuführen. Wir stehen jedenfalls alle einhellig auf dem Standpunkt, daß es unbedingt erwünscht ist, daß die Verwaltung der Reichsbank vom Reichspräsidenten bestätigt wird, und werden mit allen Mitteln versuchen, diesen Standpunkt durchzusetzen68.

65

Vgl. Dok. Nr. 240, P. 1; Schacht, Die Stabilisierung der Mark, S. 126 f.

66

Gemeint ist das Daweskomitee.

67

Vgl. Sachverständigen-Gutachten, Anlage 1, Abschn. V, Abs. c; Abschn. VI, Abs. b.

68

Zur endgültigen Regelung dieser Frage s. Dok. Nr. 249, Anm. 14.

Bezüglich der übrigen Beamtenschaft der Reichsbank ist volle Klarheit dahin geschaffen, daß die Reichsbankbeamten ihren bisherigen Charakter behalten. Auch über die Besoldungsfrage ist mit den zuständigen Ressorts eine Einigung dahin erzielt, daß als Grundlage immer die Besoldung der Reichsbeamten angesehen werden soll, mit der Möglichkeit gewisser Zuschläge für die Bankbeamten, wie wir sie auch bisher schon immer gehabt haben69.

69

Vgl. Dok. Nr. 224, P. 4.

Was die Geschäfte der Bank anlangt, so hat hier nur eine Frage gewisse Schwierigkeiten gemacht. Ich bitte, diese Frage nicht allzu tragisch zu nehmen. Sie ist im wesentlichen von Wissenschaftlern, die den Experten beigegeben wurden, bearbeitet worden. Darunter hat sich insbesondere ein amerikanischer Professor ausgezeichnet, der kürzlich die Notenbank in Columbia entworfen[815] hat und nun sehr stolz auf dieses Schema ist und seine Grundsätze nun hier auch zur Anwendung hat bringen wollen.

Wesentlich ist für uns nur eine Frage, wonach wir wieder künftig drei Unterschriften haben müssen, d. h. die Reichsbank wird mehr als bisher nicht zum Diskont-, sondern zum Rediskontinstitut gestempelt. Es ist gelungen, innerhalb des Organisationskomitees diese Sache dahin durchzusetzen, daß wir mit einem Drittel unser Wechselportefeuille auch auf zwei Unterschriften gehen lassen können70. Es reicht uns nach allen bisherigen Erfahrungen dieser Prozentsatz vollständig aus, da die Reichsbank bisher im Durchschnitt immer nur etwa 20%, d. h. ein Fünftel ihres Portefeuilles mit zwei Unterschriften hingenommen hat, während die übrigen 4/5 drei Unterschriften zu tragen haben. Wenn wir die 20% auf 33⅓% erweitert haben, glauben wir, damit den Bedürfnissen der Wirtschaft vollkommen Rechnung tragen zu können.

70

S. § 21 Abs. 2 des Bankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 240 ); Schacht, Die Stabilisierung der Mark, S. 130 f.

In ähnlicher Richtung liegen die Vorschriften über die Golddeckung für die Girobestände. Auch das wird von Kindersley als ein Unfug angesehen, daß wir eine besondere Golddeckung für die Girobestände haben müssen. Er ist auf meinen Wunsch mit seinen Expertenkollegen darüber in einen telegrafischen Korrespondenzwechsel eingetreten, der, wie ich annehme, entweder dazu führen wird, diese Goldgirodeckung vollständig zu beseitigen oder aber zum mindesten von dieser Girodeckung die Guthaben des Reiches sowohl wie die des Transferagent auszunehmen. Dann würden nur noch die privaten Giroguthaben zu decken sein. Wir glauben, daß das eine Belastung ist, die wir evtl. tragen können, die jedenfalls keine übermäßige Belastung für die Reichsbank sein wird71.

71

In der endgültigen Fassung des Bankgesetzes ist die Verpflichtung zur Golddeckung der Giroguthaben fortgefallen; s. § 35 des Bankgesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 243 ).

Es ist dann ferner vorgesehen, daß die Kassenführung für das Reich in einer Weise geführt wird, die das Reich unabhängig macht von einer unmittelbaren Buchungskontrolle für die Reichsbank, was mit Rücksicht darauf geschehen ist, daß der Kommissar nicht doch etwa Veranlassung nehmen kann, in die Geschäfte des Reichs irgendwie hineinzusehen. Wir haben geglaubt, daß auch hier eine Trennung im Interesse des Reichs liegen würde.

Eine ähnliche Freiheit ist für das Reich dahingehend stipuliert worden, daß das Reich frei sein soll in der Begebung seiner Anleihen, wobei vorausgesetzt wird, daß das Reich selbstverständlich mit dem Reichsbankdirektorium nach wie vor sich über seine Absichten auf diesem Gebiet freundschaftlich unterrichten und gegenseitig informieren wird72.

72

S. § 25 des Bankgesetzes.

Endlich ist die Frage der Berichterstattung an das Reich, die ja bisher durch die Einrichtung des Kuratoriums bestand, auch in das neue Gesetz übernommen worden73. Der Versuch, einen Kommissar des Reichs bei der Reichsbank zu halten, ist nicht durchzusetzen gewesen74. Er würde auch wahrscheinlich, wenn wir die Frage wieder aufnehmen, auf großen Widerstand stoßen,[816] insbesondere auch deshalb, weil ja durch das Gesetz vom Mai 1922 die Autonomie der Reichsbank bisher schon in vollstem Umfange hergestellt worden war75 und eine solche Einrichtung bisher auch niemals bestanden hat.

73

S. § 20 Abs. 3 des Bankgesetzes.

74

Vgl. Dok. Nr. 240, Anm. 5.

75

Gesetz über die Autonomie der Rbk vom 26.5.22 (RGBl. I, S. 135 ).

Dagegen war die Verpflichtung für das Reichsbankpräsidium in das Gesetz aufgenommen, jederzeit an das Reich über die Geschäfte und über die Vorgänge bei der Reichsbank zu berichten76. Es besteht die Absicht, dies in derselben Form weiterzuführen, wie es bisher im Kuratorium gehandhabt worden ist derart, daß zu dieser Berichterstattung auch eine Vertretung der Länder hinzugezogen wird, so daß auch die Länder über diese Dinge laufend unterrichtet werden.

76

S. Anm. 73.

Ich glaube, damit sind die wesentlichen Punkte des Bankgesetzentwurfs gekennzeichnet. Das einzige wirklich schwerwiegende Moment ist nach meiner Auffassung die Frage der Bestätigung durch den Reichspräsidenten. Wir hoffen, daß wir in dieser Frage noch einen Erfolg erzielen werden.

ReichskanzlerMarx: Ich darf ein paar kurze Bemerkungen hinzufügen. Sie ersehen aus den einzelnen Punkten, die der Herr Reichsbankpräsident berührt hat, um wie schwierige Fragen es sich handelt, trotzdem eigentlich der Gegenstand vielleicht anscheinend nicht so sehr bedeutend ist. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß gerade die Frage der Angestellten der Reichsbank uns viele Stunden der Beratung im Reichskabinett gekostet hat. Die Herren haben großen Wert darauf gelegt, Beamte zu sein und Beamte zu bleiben. Aber sie wollen auch gern den Standpunkt den Vertretern des Auslands gegenüber betonen und für sich geltend machen, daß eben die Angestellten einer solchen Bank möglichst freigestellt sein und eben nicht einen Beamtencharakter tragen sollen, vielmehr auf dem freien Markt angestellt werden können, wie die Beamten und Angestellten einer anderen Privatbank. Das Ausland hat für unseren Beamtencharakter gar keinen Sinn. Es versteht gar nicht, wie man darauf Wert legt. Daraus ergaben sich ganz außerordentliche Schwierigkeiten, die, wie gesagt, stundenlange Beratungen im Kabinett verursacht haben, weil für uns zweifellos auch von Wert war der Einfluß, den eine solche Regelung der Angestelltenfrage der Reichsbank auf das übrige Beamtenpersonal haben wird. Bei der Eisenbahn und Post sind die Verhältnisse ganz ähnlich und in etwa vergleichbar. Es wären also daraus Schlüsse für die gesamte übrige Beamtenschaft gezogen worden.

Verhältnismäßig nebensächliche Punkte wachsen sich, wie Sie sehen, bei den Einzelberatungen der Entwürfe zu so schwerwiegenden Fragen aus, daß sich darüber außerordentlich lange Besprechungen als notwendig erweisen. Wenn die Beratungen des Organisationsausschusses zu einem verhältnismäßig auch für uns günstigen Resultat geführt haben, so ist das zu einem großen Teil auch der persönlichen Bekanntschaft des Herrn Reichsbankpräsidenten mit den ausländischen Sachverständigen zuzuschreiben. Ich glaube, daß diese Bekanntschaft das Ergebnis der Besprechungen ganz außerordentlich beeinflußt hat.

[817] Thüringischer Ministerpräsident Leutheußer: Ich stehe auf dem Standpunkt, daß unsere heutige Zusammenkunft hauptsächlich den Zweck hat, daß wir seitens der Reichsregierung über die ganzen mit dem Gutachten zusammenhängenden Fragen informiert werden, weniger den Zweck, daß wir hier Entschlüsse zu fassen haben, zu denen wir nicht befugt sind. Deswegen bin auch ich der Meinung des Herrn Vertreters von Preußen, daß es vielleicht unrichtig gewesen ist, daß seitens des Herrn Württembergischen Ministerpräsidenten der Ausdruck geprägt worden ist: wir wollen bezüglich der Bedenken der Reichsregierung den Rücken stärken. Ich glaube sogar, es wird der Reichsregierung angenehm sein, wenn sie bezüglich der Bedenken, die sowohl vom Herrn Reichskanzler wie vom Herrn Reichsaußenminister bereits erwähnt worden sind, einen gewissen Rückhalt bekommt an der Meinung der Länder. Deswegen möchte auch ich mich nur darauf beschränken, meinerseits zu betonen, daß auch wir seitens Thüringens auf dem Standpunkt stehen, daß es sich bei der Entscheidung der Frage lediglich darum handeln kann, welches das kleinere Übel ist. Nach den Ausführungen des Herrn Finanzministers werden und müssen wir überzeugt sein, daß eben das kleinere Übel ist, zu Verhandlungen auf der Grundlage des Gutachtens zu kommen. Aber dann ist es auch Sache des Reiches, als Kontrahent bei diesem Vertrag selbstverständlich die Wünsche und die Bedenken mit aller Entschiedenheit zu betonen und durchzudrücken zu suchen, die wir nun einmal haben. Das ist, um das nun auch meinerseits ganz kurz zu erwähnen, einmal die Frage der Räumung des Ruhrgebiets, die m. E. mit aller Entschiedenheit durchgesetzt werden und die selbstverständlich auch Zug um Zug erfolgen muß, abgesehen von dem Zeitpunkt der Räumung, der natürlich nicht unbedingt gleich auf den ersten Tag festgesetzt werden kann. Es handelt sich weiter um die Frage der Sanktionsmöglichkeiten oder vielmehr der Sanktionsunmöglichkeiten, um die Frage der Gefangenen und Ausgewiesenen und zuletzt um die Frage der Nachprüfung unserer Leistungsfähigkeit, die selbstverständlich möglich sein muß. Es dürfen nicht Fälle vorkommen, wie sie gerade auf Grund des Ultimatums eingetreten sind. In diesem Punkt sind wir alle einig gewesen. Eine gewisse Uneinigkeit besteht ja nur bezüglich der Hineinziehung der Schuldlüge.

In diesem Punkt möchte ich mich jedoch mehr auf die Seite der Herren Vertreter von Württemberg und Bayern stellen, und zwar aus folgender Erwägung heraus. Wir betonen ja immer, wie notwendig es sei, endlich die Frage der Schuldlüge zu klären. Was nützen uns aber die inneren Proteste? Wir haben jetzt wieder eine Schuldlügewoche abgehalten. Es ist wunderschön, wie wir uns gegenseitig begeistern. Es ist aber, meine ich, gar nicht notwendig, daß wir nur uns immer vormachen, wir seien nicht schuld am Kriege. Viel nötiger ist es, daß es dem Auslande vorgeführt und ins Gedächtnis gerufen wird. Das geschieht aber nicht durch die privaten Proteste, die überhaupt nicht in die ausländischen Zeitungen kommen. Wir wissen ja, wie es die ausländische Presse macht. Ich glaube, es wird gerade bei den Verhandlungen in London die beste Gelegenheit sein, die Frage der Schuldlüge aufzurollen. Ich glaube, wir können zu unserem Herrn Außenminister wie zum Herrn Reichskanzler das Vertrauen haben, daß es in einer so konzilianten Weise geschieht, daß um deswillen die Verhandlungen nicht gestört werden, was wir alle nicht wollen, was[818] auch der württembergische Herr Vertreter nicht gewollt hat, der ausdrücklich gesagt hat, natürlich könne es nicht eine conditio sine qua non sein. Daß es notwendig ist, dazu bringt mich auch noch der Umstand, daß der Außenminister erwähnt hat, im Gutachten sei nirgends von der Schuldlüge die Rede. Das ist m. E. auch nicht notwendig. Das ist vielleicht auch aus einer gewissen Vorsicht heraus geschehen, um gerade diese Frage nicht wieder anzuschneiden. Diese Frage steht im Vertrag von Versailles und wird durch dieses Gutachten nicht abgeändert. Um deswillen ist es nicht notwendig, daß diese Frage im Gutachten wieder erwähnt wird. Die ganze Schwere des Vertrags von Versailles ist ja nur auf dieser Grundlage der Schuld am Kriege aufgebaut. Wenn wir bei dieser Gelegenheit vor der Welt protestieren, kommt es wirklich in die Welt hinaus, und es wird wirklich dem Ausland einmal klargemacht, auch wenn es nur eine einseitige Behauptung von deutscher Seite ist. Wir dürfen doch vielleicht hoffen, daß gerade dieser Punkt seine Wirkung haben und vielleicht auch dazu führen wird, daß auf anderen Gebieten uns ein größeres Entgegenkommen gezeigt wird, als wir es sonst erhoffen können.

Mecklenburgischer Ministerpräsident v. Brandenstein: Meine Herren! Bei der letzten Konferenz im April77 hatte ich Anlaß, meine Stellungnahme zu dem Sachverständigengutachten dahin zu präzisieren, daß ich eine Besprechung über das Sachverständigengutachten für zweckmäßig hielte, aber glaubte, daß die Annahme des Sachverständigengutachtens unbedingt von gewissen Voraussetzungen abhängig gemacht werden müßte. Als solche habe ich einige wesentliche Punkte bezeichnet.

77

S. Anm. 50.

Die heutigen Verhandlungen zeigen mir, daß diese Bedingungen in keiner Weise erfüllt sind. Ich bin durch die Aussprache heute doch stark enttäuscht. Ich hatte geglaubt, daß es der Reichsregierung gelingen sollte und gelingen müßte, im Interesse der Lebensnotwendigkeiten des Deutschen Reiches mehr zu erreichen, als heute erreicht ist. Wir haben keine positive Antwort darauf bekommen, daß Rhein und Ruhr geräumt werden. Ja, ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich feststelle, daß die Hoffnung, daß dies geschieht, für absehbare Zeit eine sehr unsichere ist. Auch der Herr Reichsaußenminister hat hervorgehoben, daß Herriot nicht der starke Mann sei, der er ursprünglich schien und daß auch er schon eine recht weitgehende Konzession zugunsten der Militaristen in Frankreich gemacht habe. Herr Herriot ist sicherlich in erster Reihe Franzose und in zweiter Reihe Sozialdemokrat. (Zuruf: Ist er gar nicht!) Dann ist er Pazifist, oder als was er sonst in Anspruch genommen wird. Jedenfalls steht er in engen Beziehungen mit denjenigen Kreisen, die glauben, durch weitgehende Verständigung das Ziel des Völkerfriedens erreichen zu können. Er hat auch schon heute gezeigt, daß er diese Machtstellung nicht hat, daß er nicht in der Lage sein wird, dieses Ziel, wenn es ihm wirklich vorschwebt, zu erreichen. Für uns muß das ein ganz bedeutsames Merkmal, ein bedeutsames Warnungszeichen sein, nicht zu weit auf dem Wege voranzuschreiten,[819] der uns hier vorgezeichnet werden soll, auf dem Wege des Sachverständigengutachtens.

Ich verkenne nicht, daß unendlich viel dafür spricht, zu einer Verständigung zu kommen, um uns aus den drückenden und verheerenden Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden, zu befreien. Aber wenn wir nicht erreichen, daß Rhein und Ruhr frei werden, wenn wir nicht erreichen, daß Düsseldorf und Duisburg frei werden, dann glaube ich nicht daran, daß uns auch nur eine längere Atempause gegeben wird, um uns wirtschaftlich wieder so frei und unabhängig zu stellen, daß wir leben können. Daß wir leben können und daß wir leben müssen, ist Zweck und Ziel unserer ganzen Verhandlungen gewesen. Erreichen wir das nicht, dann sind diese Verhandlungen vergebens, und wir lassen alle die Möglichkeiten, die uns gegeben waren, um dieses Ziel zu erreichen, schwinden. Wir legen nur die schwere Belastung aus dem Sachverständigengutachten auf uns, die wir nach meiner festen Überzeugung und auch nach der Überzeugung bedeutsamer Sachverständiger hier an diesem Tische auf die Dauer nicht werden tragen können.

Ich darf noch eine weitere Frage hier aufwerfen, die noch nicht betont ist. Wie steht es denn mit der Frage der Räumung der ersten Zone78, die im Januar nächsten Jahres m. E. fällig ist? Davon wird heute kein Wort gesprochen.

78

Kölner Zone.

Ich komme auf ein anderes, was auch heute hier sehr wenig in den Kreis der Erörterungen gezogen worden ist, was mir aber unendlich bedeutungsvoll erscheint. Das ist die Wiederzulassung der Kontrollkommission79. In dem Augenblick, als ich das hörte, habe ich allerdings das Maß von Hoffnung, das ich hatte, so weit einschränken müssen, daß es nahezu auf ein Nichts zusammengeschrumpft ist. Wenn wir uns das bieten lassen müssen in diesem Moment und wenn wir dem zustimmen, dann, muß ich sagen, ist unsere Lage derartig hoffnungslos, daß uns wenig zu hoffen bleibt und daß es vielleicht nicht allzu viel mehr bedeutet, ob wir das Sachverständigengutachten annehmen oder nicht. Es kommt hinzu, daß die Frage, wie unsere bisherigen Leistungen, die doch viele, viele Milliarden ausmachen, angerechnet und wie sie bewertet werden sollen, heute gar nicht besprochen ist. Ich ziehe daraus den Schluß, daß die Bewertung dieser Leistungen auf der Gegenseite nicht sehr hoch angeschlagen wird, daß wir uns damit abfinden müssen, daß wir nun einmal ganz von vorn anfangen. Es bleibt nach allen diesen Bedenken eins, was sicherlich von Bedeutung ist: das ist die Möglichkeit der Aufrechterhaltung unserer Wirtschaft mit Hilfe ausländischer Kredite. Diese ausländischen Kredite mögen ja z. T. hereinkommen, ich habe aber bisher keinerlei Nachweis dafür erbracht gesehen, daß sie wirklich gesichert sind. Ich habe auch das große Bedenken, daß, wenn uns wirklich ein namhafter Betrag dieser Kredite zufließt, sie dann so schnell und in solchem Umfang in unsere Wirtschaft hineinströmen werden, daß sie diese Wirtschaft nicht vor dem Zusammenbruch werden retten können.

79

In ihrer Entwaffnungsnote vom 30. 6. hatte die RReg. die Forderung der Botschafterkonferenz nach Zulassung einer Generalinspektion durch die IMKK grundsätzlich akzeptiert. Vgl. Dok. Nr. 234, Anm. 13.

[820] Ich habe aus dem ganzen Sachverständigengutachten den Eindruck gewonnen, daß es sich hier um ein sehr fein konstruiertes System handelt, das aber letzten Endes darauf hinausläuft, mit internationalem Kapital die ganze deutsche Wirtschaft zu vertrusten und in eine derartige dauernde Abhängigkeit vom ausländischen Kapital und von ausländischen Verhältnissen zu bringen, daß daraus unermeßliche Gefahren für uns erwachsen.

Ein kurzes Wort zur Schuldlüge. Ich kann dem letzten Herrn Vorredner nur beistimmen, daß es wünschenswert ist, diese Frage nicht allzu dilatorisch zu behandeln, sondern sie auch auf der Londoner Konferenz entschieden zu betonen. Ich stimme allerdings dem Herrn Außenminister darin bei, daß die Frage der Schuldlüge, ob man sie mit ja oder nein beantwortet, uns keinen allzu großen Schritt in unserer Gesamtlage voranbringen wird, und daß für uns tatsächlich entscheidend ist die Machtpolitik und nicht der Streit um Worte.

Was die Frage der verfassungsändernden Gesetze angeht, so muß ich bekennen, daß mich die Ausführungen des Hessischen Ministerpräsidenten doch einigermaßen verwundert haben. Wenn wir nicht sorgfältiger mit den Bestimmungen unserer Reichsverfassung umgehen, wie es schon angedeutet ist, kommen wir auf sehr gefährliche Wege. Ich möchte aufs dringendste warnen, hier Wege zu beschreiten, die in ihren Konsequenzen und ihren späteren Auswirkungen doch recht ernster Art sein können.

In der Frage der Beurteilung der Lage der Landwirtschaft kann ich mich nur auf das beziehen, was der Herr Reichsernährungsminister hier ausgesprochen hat. Die Lage der Landwirtschaft auch in meiner Heimat ist eine derartig katastrophale, daß sie kaum schwarz genug geschildert werden kann.

Ich schließe mit den Worten, daß, soweit die heutigen Verhandlungen vorliegen, aus dem Ergebnis der heutigen Besprechungen für mich nur der Schluß gezogen werden kann, daß eine Annahme des Sachverständigengutachtens für mich nicht möglich ist. Ich befinde mich da in Übereinstimmung mit denjenigen Parteien eines Landtages, auf die ich mich zu stützen habe80, und kann nur sagen, daß ich es heute ablehnen muß, mich auf den Standpunkt der Mehrheit dieser hohen Versammlung zu stellen.

80

Die Landesreg. von Mecklenburg-Schwerin stützt sich auf DNVP und DVP; zwei der drei Minister – darunter v. Brandenstein – gehören der DNVP, einer gehört der DVP an.

Ich weiß sehr wohl, daß es leichter ist, in diesem Augenblick Kritik zu üben, als Positives zu leisten. (Allseitige Zustimmung.) Es steht mir auch nicht zu und ich bin auch nicht in der Lage, in diesem Augenblick wesentliche Abänderungsvorschläge zu machen, umsomehr als sie heute doch noch auf keinen fruchtbaren Boden fallen würden. (Zurufe: Oho!) Ich darf aber dem Wunsch und der Hoffnung Ausdruck geben, daß, wenn es zu einer Durchführung des Sachverständigengutachtens auf der heute skizzierten Grundlage kommen sollte, dann die verantwortlichen Herren Reichsminister, die die Durchführung dieses für Deutschlands Schicksal bedeutungsvollen Werkes zu übernehmen haben, in ihrem innersten Herzenskämmerlein jeder für sich einige innere Vorbehalte gemacht haben, die heute vielleicht nicht ausgesprochen[821] werden dürfen, ohne deren Durchdenken aber m. E. es kaum zu verantworten sein würde, heute den Schritt zu tun, der, wie es scheint, getan werden muß.

ReichskanzlerMarx: Ich will nur gerade bezüglich des letzten Absatzes eine Bemerkung mir gestatten. Es ist mir von Herren des Reichstags schon einmal zu der Zeit, als wir noch in der Vorbereitung zu den Beratungen der Organisationsausschüsse waren, in den Anfangsstadien – nicht von ihnen ausdrücklich, aber in der ihnen nahestehenden Presse – gesagt worden, daß wir nicht mehr das Recht hätten, uns irgendwie um Organisationsausschüsse zu kümmern, weil der Reichstag nicht versammelt sei, und daß diejenigen Minister, die – obgleich der Reichstag nicht versammelt war und nicht seine Kontrolle ausüben konnte oder Entwürfe, die wir ihm vorlegen, nicht zu Gesetzen machen konnte – die Vorbereitung des Gutachtens beschleunigen würden, geradezu vor den Staatsgerichtshof gehörten. Ich habe den Herren gegenüber erklärt – und das möchte ich als Antwort auf die Ausführungen des verehrten Herrn Vorredners sagen –: ich würde mich geradezu schuldig fühlen, vor den Staatsgerichtshof gestellt zu werden, wenn ich auch nur einen Tag vorübergehen ließe, um die Durchführung des Sachverständigengutachtens zu verzögern, statt alle Vorbereitungen zu treffen und zu beschleunigen, um möglichst schnell zu einer Durchführung des Gutachtens zu kommen. Ich betrachte es geradezu als Lebensfrage des Deutschen Reiches und Volkes, daß wir möglichst bald zu einer Durchführung des Gutachtens kommen. Wenn es auch zu bedauern ist, daß wir zur Zeit ausländische Kredite haben müssen – wir müssen sie nun einmal haben; vor der Tatsache können wir nicht die Augen verschließen; wir haben nicht im Innern das Geld, um uns selbständig Kredit verschaffen zu können; wir sind nun einmal auf das Ausland angewiesen, so traurig das auch ist, so müssen wir doch die Wege gehen, die allein dazu führen, uns den absolut nötigen Kredit vom Ausland zu verschaffen. Und wenn ich irgendwie frei bin von inneren Vorbehalten, dann ist es in der Frage, die uns hier beschäftigt. Ich werde mit reinem Gewissen dazu übergehen, die Ausführung des Gutachtens vorzunehmen, soweit es in meinen Kräften steht; denn ich weiß: wenn ich die Durchführung des Sachverständigengutachtens vollbracht habe, dann habe ich ein gutes Werk für das Deutsche Reich und Volk getan, und ich werde mich mit ruhigem Gewissen zur Ruhe setzen können.

Minister des Auswärtigen Dr. Stresemann: Der Herr Bayerische Ministerpräsident hat in seinen Ausführungen die Frage aufgeworfen, ob genügende Sicherheit dafür bestände, daß eine Revision der deutschen Zahlungshöhe stattfinden könne, namentlich für das Jahr 1928, das wir als Grenzpunkt ansehen, in dem es klar wird, ob die Leistungen innerdeutsch aufgebracht werden können. Ich darf darauf zurückkommen, daß ich in meinen Ausführungen gesagt habe: uns steht das Recht, die deutsche Zahlungsfähigkeit prüfen zu lassen, unbedingt für jedes Jahr, für jeden Zeitraum zu, nicht nur für das Jahr 1928. Der Vertrag von Versailles bleibt bestehen. Der Vertrag von Versailles hat ganz ausdrücklich an einer Stelle davon gesprochen, daß die Leistungsfähigkeit für uns die obere Grenze unserer Leistungen ist und hat uns das Recht[822] gegeben, die Prüfung dieser Leistungsfähigkeit von den Alliierten zu verlangen81. Ich halte es nur nicht für richtig, dieses unbedingt feststehende Recht jetzt in die Debatte zu werfen, weil man dann annehmen würde, daß wir von vornherein diesen Vorbehalt machen, ohne die Entwicklung Deutschlands selbst voraussehen zu können. Aber ich bitte den Herrn Ministerpräsidenten, sich davon zu überzeugen, daß gar kein Zweifel daran bestehen kann, daß dieses Recht auf unserer Seite ist, und er wird überzeugt sein können, daß eine Deutsche Regierung, wenn sie sich vor der Unmöglichkeit sieht, diese Leistungen innerdeutsch aufzunehmen, dann auch davon Gebrauch machen kann und dann auch unterstützt sein wird, gerade auch von Vertretern fremder Mächte, die über diese Leistungsfähigkeit Beratungen gepflogen haben. Dann ist es unmöglich zu sagen: ihr habt eure Steuern nicht angespannt, eure Finanzverwaltung ist schlecht, wie es jetzt immer geschieht. Das ist unmöglich, nachdem ausländische Vertreter bei der Prüfung dieser Fragen beteiligt sind.

81

S. Anm. 23.

Dann ist weiter die Frage aufgeworfen worden, ob nicht jetzt der gegebene Augenblick und die gegebene Gelegenheit wäre, die Kriegsschuldfrage in die Debatte zu werfen. Ich darf auf diese Frage hier doch noch einmal eingehen. Der Bayerische Herr Ministerpräsident sagte, es sei doch in meinen Ausführungen die Kriegsschuldfrage vielleicht etwas zu stark lediglich vom außenpolitischen Gesichtspunkt aus betrachtet worden, ich hätte vielleicht nicht genügend die psychologische Wirkung in Deutschland beachtet. Es ist ja schließlich mit meinem Ressort vereinbar, daß ich zunächst diese außenpolitischen Gesichtspunkte geltend sein lassen muß. Aber ich habe mir auch gerade in bezug auf London die innerdeutschen Wirkungen überlegt und halte gerade den Rückschlag für unerwünscht, der sich aus folgender Zusammenstellung ergibt. Sie sind alle der Überzeugung, daß wir eines nicht erreichen werden, daß man auf Grund dieses Hineinwerfens der Kriegsschuldfrage in eine ganz andere Tagesordnung zu einer Entscheidung gelangt, die unser deutsches Volk befriedigt. Ist das aber der Fall, dann kommt für die deutsche öffentliche Meinung folgende Konstruktion: ihr habt die Frage aufgeworfen, ihr habt einen échec erlitten, und trotzdem habt ihr unterschrieben. Und dann wird sich die innerdeutsche Stimmung noch viel mehr gegen die Regierung wenden, die diesen Plan unterschreibt.

Unsere öffentliche Meinung stellt sich das zu leicht vor, wie diese Dinge ihre Wege gehen. Wenn innerhalb der Verhandlungen von London irgendwie – es gibt zwei Möglichkeiten, und ich gehe die einzelnen Möglichkeiten durch – durch irgendeine Provokation von außen uns gegenüber von einer moralischen Verpflichtung Deutschlands gesprochen wird, sei es im Sinne des Friedensvertrages von Versailles, sei es im Sinne dieser unglücklichen Fassung, die sich hier einleitend ergibt82, dann können Sie dessen überzeugt sein, daß die deutschen Vertreter diese Gelegenheit benutzen werden, um darauf sofort zu antworten und die ganze Frage von unserem deutschen Standpunkt aus gegenüber einer derartigen Provokation aufzurollen.

82

Gemeint ist: im Sachverständigen-Gutachten; s. Anm. 21.

[823] Dann die zweite Frage: sollen wir die Gelegenheit ergreifen und die Frage der Kriegsschuld in die Debatte hineinwerfen, wenn die Tagesordnung, die wahrscheinlich eine sehr nüchterne ist und etwa lautet: a) Art der Inkraftsetzung des Planes der Ordonnanzen, die zurückgenommen werden sollen, b) Feststellung der Instanzen, die entscheiden sollen über die Auslegung des Gutachtens – eine wichtige Frage, denn die Verschiedenheiten der Auffassung über die Auslegung sind sehr groß –, wenn diese Tagesordnung es nicht ergibt, sollen von uns aus entweder am Anfang der ganzen Verhandlungen diese Dinge hineingeworfen werden? Ich würde das nicht für den richtigen psychologischen Moment halten. Wir müssen bedenken, daß auf Herriot ein großer Druck von MacDonald ausgeübt wird, daß Frankreich durch England und Amerika gezwungen wird, diese ganzen Dinge mitzumachen. Ich glaube, in dieser Situation, wo wir die Hilfe der anderen brauchen, um unsere Wünsche durchzusetzen, ist nicht der richtige psychologische Moment für die Aufrollung der Kriegsschuldfrage.

Ein Drittes – und ich möchte diese dritte Frage gern durchdenken –: es fragt sich, ob die Einladung an uns die Möglichkeit gibt, in der Antwort einmal eine grundsätzliche Klarstellung unserer Stellung zum Sachverständigengutachten zu geben und zu sagen, daß wir bereit sind, auf diese Vorschläge einzugehen, dabei aber zurückweisen, daß wir das täten aus den und den Gründen, vielmehr ankündtgten, daß wir nach Abschluß der Publikation – das wäre in zwei bis drei Monaten83 – keine Vertagung ad calendas graecas wünschen, sondern die Frage der Kriegsschuld wieder aufrollen würden. Dann haben wir unseren Standpunkt international niedergelegt. Wollen die Herren mit uns daraufhin debattieren, dann sind wir gern bereit. So sind die Dinge aktenkundig vor der Welt, ohne daß wir die Verhandlungen damit belasten. Es scheint mir gegenwärtig, als wenn das der beste Weg ist, um einmal die amtliche Aufrollung anzukündigen.

83

S. Anm. 22.

Ich möchte in diesem Zusammenhange vertraulich sagen, daß der französische Ministerpräsident Herriot mich dringend ersucht hat, vor Abschluß des Sachverständigengutachtens nicht über die Kriegsschuld zu sprechen, weil seine Stellung dadurch außerordentlich erschwert würde, eine Bitte, die eine gewisse Bedeutung hat aus dem Gesichtspunkt, daß wir mit diesem Herriot nun einmal die Verständigung herbeiführen wollen. In dieser Form bietet sich vielleicht ein Weg, um das zu erfüllen, was das deutsche Volk will.

Der Hessische Staatspräsident hat die Frage der Sanktionen aufgerollt, und ich verstehe das brennende Interesse, das die Länder haben, die durch ihre Lage von den Sanktionen besonders betroffen werden, die nicht mehr wissen, ob sie die Staatssouveränität innerhalb ihrer eigenen Grenzen noch haben.

Nun haben wir Mitteilungen bekommen, die wir auch an die Presse gegeben haben, in denen das Programm der Konferenz bekanntgegeben wird84. Dabei[824] ist bezüglich der Sanktionen folgendes gesagt: Es ist zunächst einmal gesagt, wie die Dinge vor sich gehen sollen: 1. Die Alliierten treten dem Sachverständigenplan bei. 2. Deutschland verabschiedet seine Gesetze. 3. Frankreich und Belgien ziehen ihre Ordonnanzen zurück. 4. Die alliierten Mächte verpflichten sich, keine Sanktionen mehr anzuwenden, …85 liegen. Hier wird der Reparationskommission und den Alliierten das Recht genommen, ihrerseits darüber zu entscheiden, ob ernstliche Verfehlungen Deutschlands vorliegen. Es wird unsere Aufgabe sein, für einen unparteiischen Schiedsgerichtshof zu sorgen, der seinerseits die Entscheidung zu treffen hat.

84

Stresemann bezieht sich hier auf Berichte über die Einladung zur Londoner Konferenz am 16. 7., die MacDonald verschiedenen all. Regierungen zwischen dem 23. und 26. 6. übermitteln ließ und die bestimmte Vorschläge für das Konferenzprogramm und die Inkraftsetzung des Sachverständigen-Gutachtens enthielt. „Die Zeit“ vom 4. 7. teilt, unter Berufung auf eine frz. Pressemeldung, über den Inhalt des engl. Einladungsschreibens zur Londoner Konferenz folgendes mit: „Es wird zunächst erklärt, daß der Sachverständigen-Entwurf nunmehr von allen Mächten gebilligt worden ist. Die Londoner Konferenz hat ausschließlich zu einer Verständigung über die Mittel zu gelangen, um ihn auszuführen. Der Bericht der Sachverständigen schließt für Deutschland Verpflichtungen ein, die nicht im Friedensvertrag festgelegt worden sind. Es ist deshalb ein Abkommen nötig, das allen Ländern zur Unterzeichnung unterbreitet werden muß, die irgendeine Verantwortung bei der Ausführung des Sachverständigenberichtes haben, also sowohl Deutschland als auch den all. Ländern. Damit dieses Abkommen nicht die Gestalt einer Neuerung am Friedensvertrag annimmt, muß ein Protokoll unterzeichnet werden, das folgende vier Punkte enthält: 1. Die Signatarmächte stimmen dem Bericht der Sachverständigen zu. 2. Zu einem Zeitpunkt, der von der Konferenz noch näher bestimmt werden muß, müssen die Deutschen alle entscheidenden Maßnahmen zur Inkraftsetzung des Sachverständigenplanes getroffen haben. 3. Alsdann wird ein weiterer Zeitpunkt, der zwei bis drei Wochen nach dem ersten liegt, festgelegt werden, bis zu dem die Alliierten alle Sanktionen, die augenblicklich wirtschaftlich und finanziell gegen Deutschland zur Anwendung gebracht worden sind, aufgegeben haben müssen. 4. Die all. Mächte verpflichten sich, keine Sanktionen anzuwenden, es sei denn, daß Deutschland die eingegangenen Verpflichtungen in ernster Weise verletzt. Jede Verletzung Deutschlands in der Zukunft muß durch einen neuen Organismus geprüft werden, der unabhängig und außerhalb der Repko steht, da die neuen Verpflichtungen, die Deutschland übernehmen wird, nicht im Rahmen des Versailler Vertrages liegen. Alle diejenigen Punkte, die das unterzeichnete Protokoll nicht interpretieren kann, müssen vom Internationalen Schiedsgericht im Haag geschlichtet werden.“ Vgl. auch Schultheß 1924, S. 412 f.

85

An dieser Stelle weist die Niederschrift eine Lücke auf. Der fehlende Text ergibt sich aus der vorigen Anm.

Der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident wird zugeben, daß die Dinge, die bisher bekanntgeworden sind, einen anderen Geist zeigen als die Methoden, die bisher angewendet worden sind. Man entkleidet sich selber der Rechte, die man bisher gehabt hat und stellt das eine fest: daß nicht wieder Vorleistungen gefordert werden, sondern daß beiderseits geleistet wird. Zwei bis drei Monate86 nach unserer Verabschiedung sollen die Franzosen ihre Ordonnanzen zurückziehen. Ich lese weiter – und habe Grund, das für richtig anzunehmen –, daß man mit dem 1. September rechnet als dem Tage, an dem das ganze Sachverständigengutachten erledigt sein kann, und daß man damit rechnet, daß dann auch die Möglichkeit gegeben sei, jene 40 Millionen Pfund, die in England und Amerika angelegt werden, auch für die Durchführung des Sachverständigengutachtens zur Verfügung zu stellen.

86

Es muß wohl heißen: zwei bis drei Wochen.

Dann noch etwas anderes in diesem Zusammenhange: Sie haben gestern eine Rede des Herrn Morel, des Unterstaatssekretärs in England, gelesen, die ich als eine ganz starke moralische Unterstützung ansehe und die sich praktisch[825] so auswirken wird. Er hat sich da entschieden dagegen ausgesprochen, daß der englische Markt weiter für Kriegsanleihen der kleinen Entente zur Verfügung gestellt wird. Er hat darauf hingewiesen, daß ein Land wie Jugoslavien 1000 Millionen Mark für Kriegsrüstungen ausgebe und hat erklärt, daß es nicht geht, Deutschland abzurüsten und anderen Ländern Kriegsanleihen für Rüstungszwecke zu geben. Das ist ein Zeichen dafür, daß ein Gedanke durchkommt: ihr habt die Abrüstung bei Deutschland durchgeführt, ihr selbst aber seid es schuldig geblieben! Wenn jetzt von seiten eines Staates wie England – und das ist der stärkste Hemmungsfaktor für Rüstungen – der Geldmarkt für Rüstungsausgaben gesperrt wird, und wenn einmal den anderen gesagt wird: ihr seid die moralisch Schuldigen, die weiter rüsten, während ihr Deutschland abgerüstet habt, dann sehe ich aus den Dingen doch eine andere Atmosphäre als die, in der wir bisher gelebt haben, in der man versucht hat, immer nur Deutschland zu verdächtigen, während man den anderen alles gestattet hat.

Ich habe eben ein Telegramm aus London bekommen, in dem die Auffassung des englischen Ministerpräsidenten über die Konferenz auch näher dargelegt wird87, und ich ersehe daraus zu meiner Genugtuung, daß der Standpunkt, den die Reichsregierung im Auswärtigen Amt in bezug auf die Londoner Konferenz eingenommen hat, sich mindestens bei England durchgesetzt hat. Ich habe in meinen ersten Darlegungen gesagt, daß wir zunächst Schwierigkeiten hatten, weil man verlangte, wir sollten erst die Gesetze verabschieden, dann erst soll die Londoner Konferenz kommen und unter Umständen so weit hinausgeschoben werden, bis wir fertig wären. Der englische Ministerpräsident hat ausdrücklich erklärt, es müsse ein Mißverständnis sein, wenn Herriot annehme, daß das die Meinung der Englischen Regierung sei. Er hat weiter erklärt, daß er sich entschieden gegen die Auffassung wende, die in Deutschland bestünde, als wenn ein Ultimatum beabsichtigt sei, daß er sich natürlich mit seinen Alliierten auch zusammensetzen müsse, um ihre Auffassung über das Gesamtgesetz protokollarisch festzustellen, daß man aber auch mit deutschen weitergehenden Vorschlägen rechne und sie in Aussicht gefaßt hätte, und er hat weiter zum Ausdruck gebracht – ich bemerke, daß MacDonald Schotte ist und als solcher sehr zurückhaltend; umso höheren Wert lege ich seiner Äußerung bei –, er glaube aber auch, daß die Fassung, die die Alliierten ihrerseits fassen würden, wahrscheinlich von deutscher Seite nicht als unbefriedigend angesehen werden würde. Er hat weiterhin erklärt, daß die Deutsche Regierung sich loyal und erfolgreich um die Annahme des Sachverständigengutachtens bemüht, daß die Deutsche Regierung sich loyal bemüht habe, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Dies ist die schärfste Zurückweisung dieser Angriffe des „Petit Parisien“, der davon gesprochen hat, daß wir die Dinge verzögert hätten88, und ich glaube, daß diese Dinge – sie mögen im einzelnen wie Phrasen klingen – von entscheidender Bedeutung für die Ergebnisse einer solchen Konferenz sind,[826] wenn der englische Premierminister sagt, Deutschland hat sich bemüht, eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen.

87

Es handelt sich offenbar um den telegrafischen Bericht Sthamers vom 2. 7. über eine Unterredung mit MacDonald (Pol. Arch. des AA, Büro RM, 5n, Londoner Konferenz 1924, Bd. 1).

88

Vgl. Anm. 5.

Aus einer solchen Äußerung leite ich ab, daß die Ruhr geräumt wird. Herriot kann nun nicht mehr antworten: ich muß in Düsseldorf bleiben; denn ich habe kein Vertrauen zu dem ehrlichen Willen Deutschlands. Deshalb lege ich diesen Äußerungen große Bedeutung bei.

Wenn im übrigen an anderer Stelle derselbe Premierminister gesagt hat, er fände, daß sich in Deutschland eine ungerechte Kritik über das Ministerium Herriot geltend mache, so muß ich erklären, daß ich ihm darin zum großen Teil zustimmen muß. Er erklärt in dieser Unterredung, schließlich könnte auch der französische Ministerpräsident nicht auf einmal die ganze Poincarésche Politik umändern. Man müsse in Deutschland Verständnis dafür haben, daß das nur schrittweise ginge, und nicht kritisieren, wie es in einzelnen Fällen geschehen sei.

Der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident sagte, er sei von der heutigen Aussprache nicht befriedigt, es sei weniger erreicht, als er geglaubt hätte. In bezug auf diese Frage darf ich sagen, daß mehr erreicht worden ist, als ich angenommen habe. Daß die Rückkehr der Gefangenen und Ausgewiesenen vor Annahme des Sachverständigengutachtens stattfinden würde, habe ich nicht angenommen. Ich habe die Forderung gestellt und habe gedacht, es ist gut auszusprechen, daß man diese große Geste fordert. Daß sie tatsächlich in diesem Maße durchgeführt werden würde, habe ich nicht geglaubt; aber ich muß sagen: es wäre falsch, wenn die deutsche Presse in einen Jubel darüber ausbräche. Wir haben in der deutschen Presse immer nur das Extreme. Ich finde es nicht richtig, wenn der „Vorwärts“ als Zentralorgan einer so großen Partei wie der Sozialdemokratie mit ganz großen Lettern „Volksentscheid über das Sachverständigengutachten“ ankündigt89. Das muß draußen wirken, als wäre das ein großes Geschenk, das uns gebracht wird. Wenn aber andererseits die Freigabe der Ausgewiesenen und Gefangenen kommt und zwei Zeitungen sagen, das sei der reine Hohn und dem französischen Ministerpräsidenten mit Grobheiten kommen, dann ist das das andere Extrem, das ebensowenig wünschenswert ist, und der französische Ministerpräsident hat Gelegenheit genommen, sich äußerst bitter über die Art und Weise auszusprechen, wie [sich] die deutsche Presse geäußert hat. Er hat den Vergleich gewagt, Gott habe auch sieben Tage zur Erschaffung der Welt gebraucht; nun verlangen Sie nicht, daß ich in sieben Tagen die ganzen europäischen Verhältnisse hier umkrempeln soll! Weil das geschehen ist, daß wir in bezug auf die Konkurrenz doch damit rechnen können, als durchaus gleichberechtigt über diese ganzen Dinge zu verhandeln, daß wir weiter hier in Aussicht sehen, daß internationales Kapital an der deutschen Wirtschaft sich beteiligt, darin sehe ich doch auch mehr als nur eine Hilfe für die gegenwärtige Krise. Ich sehe darin ein dauerndes Interesse der kapitalistisch eingestellten Kreise der Vereinigten Staaten und Englands für die Zukunft. Bei alledem, was vorhin gesagt worden ist, z. B. über die wirtschaftliche Freiheit[827] Deutschlands, werden wir diese Kreise zu unseren Verbündeten haben. Der einzelne mag es in der Weltordnung als nicht sehr wünschenswert ansehen, daß der Kapitalismus diesen Einfluß hat; aber daß wir ihn im Kriege gegen uns gehabt haben, haben wir mit dem Verlust des Krieges bezahlt. Wäre der amerikanische Kapitalismus nicht gegen uns gewesen, dann hätten wir den Krieg sicher nicht verloren. Die ganzen Schikanen auf kaufmännischem Gebiet, die bisher bestanden haben, daß englische Kolonien den deutschen Kaufmann überhaupt nicht zulassen, werden einer anderen Einstellung Platz machen, wenn die ausländischen Wirtschaftskreise daran interessiert sind, daß ihre Guthaben in Deutschland verzinst werden. Es ist bedauerlich, daß die Lage so ist, wie sie sich darstellt. Aber es ist doch ein Plusfaktor gegenüber den bisherigen Zuständen.

89

S. dazu Schultheß 1924, S. 35 (zum 9. 5.).

Der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident hat die Frage gestellt, wie es mit der Räumung der ersten Zone stände. Ich habe mir die Frage vorgelegt, ob ich diese Räumung der Kölner Zone irgendwie amtlich bei der englischen Regierung einmal zur Sprache bringen soll. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß ich das nicht tue, und zwar aus folgenden Gründen. Ein Protest dagegen, daß die Fristen laufen, die im Vertrag von Versailles festgestellt sind90, hat bisher nur der verflossene französische Ministerpräsident erhoben, das war Herr Poincaré. Dieser Protest ist von seinem Nachfolger nicht aufgenommen worden. Dieser Protest ist niemals in England erhoben worden. In dem Augenblick, wo ich offiziell anfragen würde, ob die Kölner Zone vertragsmäßig geräumt wird, würde ich selber Zweifel darin setzen, daß diese Räumung erfolgt. Da England niemals bezweifelt hat, daß diese Fristen laufen, muß ich voraussetzen, daß diese Räumung auch tatsächlich erfolgt. Ich würde sonst, glaube ich, einen Fehler begehen, indem ich entweder England beleidige, daß es den Vertrag nicht erfüllt habe, oder auf Zweifel hinweise, die bei uns wären. Ich habe gerade inoffiziell gestern versucht zu sondieren und habe zunächst von der Berliner Seite die Antwort bekommen, daß in London gar kein Zweifel darüber wäre, daß zum vertragsmäßigen Termin auch geräumt wird.

90

S. Art. 428 ff. des VV.

Weiter hat der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident die Wiederzulassung der Militärkontrolle außerordentlich kritisiert. Ich glaube: wer den Brief gelesen hat, den die beiden Ministerpräsidenten von England und Frankreich an den Reichskanzler gerichtet haben91, konnte sich darüber keinem Zweifel hingeben, daß dadurch die Frage der Kontrolle in den Mittelpunkt der Entscheidung über das Sachverständigengutachten gestellt würde. Wir haben in unserer Antwortnote92 zum Ausdruck gebracht, daß wir unter der Voraussetzung zustimmen, daß über die Modalitäten der Durchführung mit uns eine Verständigung gefunden wird. Es gibt drei verschiedene Arten von Kontrolle. Das erste ist eine schriftliche Auseinandersetzung über die noch nicht bereinigten fünf Punkte von der früheren Abrüstung. Ich glaube nicht, daß sich das mit großen Schwierigkeiten vollziehen würde. Das zweite ist die Kontrolle der[828] Fabriken, die, abgesehen von Schwierigkeiten mit den Arbeitern, gar keine Schwierigkeiten bringen wird, da wir de facto weniger Munition besitzen, als wir nach dem Vertrag von Versailles zu besitzen das Recht haben. Drittens käme die Kontrolle der Kasernen, und wir hoffen zu erreichen, daß, wenn diese stattfindet, sie zu einer Zeit stattfindet, in der nach Annahme des Sachverständigengutachtens vielleicht auch eine politische Entspannung in Deutschland eingetreten ist und auch von den Militärs diese Kontrolle leichter zu ertragen wäre. Es ist von dieser Seite kürzlich betont worden, wenn die Räumung der Ruhr erfolge, so würde ihnen dadurch die psychologische Ertragung der Militärkontrolle leichter gemacht werden, weil sie sich dann sagen: das hängt mit dem Gutachten zusammen, und das hat uns die Freiheit von Rhein und Ruhr gebracht.

91

S. Dok. Nr. 234, Anm. 10.

92

S. Dok. Nr. 234, Anm. 13.

Für uns war entscheidend, daß der bisher nur von uns festgestellte Punkt, daß dies der Schlußakt sei, ausdrücklich von der anderen Seite akzeptiert worden ist, und wir deshalb erwarten können, daß wir damit von dieser fünfjährigen Pein tatsächlich endgültig loskommen.

Dann noch eine letzte Bemerkung: Der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident hat der großen Sorge Ausdruck gegeben, daß die Annahme des Sachverständigengutachtens gleichbedeutend sein würde mit der Vertrustung der deutschen Wirtschaft. Ich zweifle nicht daran, daß durch die Annahme des Sachverständigengutachtens der internationale Einfluß in der deutschen Volkswirtschaft größer sein wird, als es uns erwünscht ist. Aber ich bitte Herrn von Brandenstein, sich doch einmal eine Frage vorzulegen: bleibt uns denn überhaupt noch eine freie deutsche Wirtschaft, wenn wir das Gutachten nicht annehmen? Heute ist schon die ganze Ruhrindustrie, wie ich Ihnen sagte, bis auf die Höhe ihres Aktienkapitals gegenüber internationalen Kreditgebern verpflichtet. Wenn Sie hier nein sagen, sehe ich nur das eine: daß die letzten großen Unternehmungen sich einfach an das Ausland verkaufen. Dann kommt eine Vertrustung, die uns von dem nationalen Gut gar nichts mehr läßt. Wir müssen den schweren Weg gehen und einen gewissen internationalen Einfluß auf uns nehmen, damit wir zunächst einmal die Betriebsmittel zum volkswirtschaftlichen Leben bekommen, um später, wenn wir hochgekommen sind, diese Krücken wegzuwerfen – das mag ein bis zwei Jahrzehnte dauern –, um dann wieder eine deutsche Wirtschaft zu haben. Ich sehe die Gefahr der Vertrustung gerade in dem Augenblick, wo wir der Wirtschaft nicht die Hilfe bieten, die sie haben könnte.

Die letzten Ausführungen des Herrn Ministerpräsidenten hat der Herr Reichskanzler vielleicht in einer anderen Weise aufgefaßt als sie gemeint waren. Ich glaube, er meinte etwas anderes, als er davon sprach, ob die Herren, die der Annahme des Sachverständigengutachtens zustimmten, im innersten Herzenskämmerlein nicht doch anders dächten, vielleicht das, was der Württembergische Herr Ministerpräsident andeutete, daß eine Zeit kommen könnte, in der die ganze Unruhe dieser Welt nicht durch Verträge, sondern durch kriegerische Auseinandersetzungen gelöst würde. Ich hoffe und wünsche, daß, wenn es dahin kommt – und ich glaube, daß letzten Endes immer diese großen Fragen durch das Schwert entschieden werden –, dieser Zeitpunkt möglichst lange[829] hinausgeschoben werden möge. Ich kann mir daraus nur den Untergang unseres Volkes ersehen, solange wir das Schwert dazu eben nicht haben. Wenn man daran denkt, daß wieder einmal eine Zeit kommt, in der das deutsche Volk selber wieder stark genug ist, um eine bedeutendere Rolle zu spielen, dann müssen Sie erst dem deutschen Volk die Grundlage geben! Dann erst können Sie auf die Zukunft hoffen. Dann müssen Sie erst eine Grundlage geben, und um diese zu schaffen, handelt es sich in dieser Stunde!

ReichskanzlerMarx: Ich bitte, daß die Ausführungen, die namentlich über die Äußerung des englischen Ministerpräsidenten seitens des Herrn Außenministers gemacht worden sind, aufs strengste diskret bleiben und absolut vertraulich bleiben müssen. Ich bitte auch zu berücksichtigen, daß in den einzelnen Landtagen in irgendwelche[n] Kommissionen unter keinen Umständen, auch nicht unter dem Siegel der Vertraulichkeit, etwas mitgeteilt werden darf. Wenn gerade über die letzte Mitteilung in London etwas in die Öffentlichkeit kommt, ist jede Besserung absolut zerschlagen und unmöglich, dann ist es unmöglich für England, in diesem Sinne zu wirken. Ich glaube, daß ein allgemeines vaterländisches Interesse besteht, daß diese Mitteilungen geheim gehalten werden.

Held, Ministerpräsident von Bayern: Ich bin zum Teil mißverstanden worden, als ich von der Kriegsschuldfrage sprach. Der Herr Preußische Minister des Innern war der Auffassung, ich hätte gesagt, die Kriegsschuldfrage solle zum Mittelpunkt der Erörterungen gemacht werden. Das ist mir gar nicht eingefallen. Ich habe erklärt, von vielen Leuten wird die Forderung erhoben, diese Frage solle zum Mittelpunkt der Erörterung gemacht werden. Ich selbst habe auf dem Standpunkt nicht gestanden. Aber ich habe die Auffassung, daß Sie in der Erörterung nicht ganz darum herumkommen werden, und ich habe auch auf die Gründe hingewiesen. Nun hat der Herr Reichsaußenminister selbst einen Weg gezeigt, und ich fürchte nur folgendes: wenn hier die Gesetze zum Sachverständigengutachten verabschiedet werden, wenn wir mit anderen Worten vollständig auf den Boden des Sachverständigengutachtens treten, so liegt die Gefahr nahe, daß dadurch in der Welt wieder von neuem der Eindruck erweckt wird: die Deutschen sind sich doch dessen bewußt, daß sie doch die eigentlich Schuldigen am Kriege sind, sonst würden sie die Gelegenheit nicht so ruhig vorübergehen lassen, ohne die Kriegsschuldfrage aufgerollt zu haben. Wir haben es beim Vertrag von Versailles erlebt. Das Sachverständigengutachten legt doch Deutschland Lasten auf, die ganz exorbitant sind und die ein Volk nur übernimmt, wenn es sieht, daß seine Existenz dadurch gerettet werden kann, oder wenn es sich moralisch so schuldig fühlt, daß es gar nicht anders handeln kann. Ich bin vollständig damit einverstanden, wenn die Kriegsschuldfrage in irgendeiner Form aufgerollt wird, und ich überlasse es ganz dem Herrn Außenminister, hier den taktisch richtigen Weg einzuschlagen, aber sie muß aufgerollt werden.

Ministerpräsident von Braunschweig [Jasper]: Ich möchte mich gegen die Auffassung des Thüringischen Herrn Ministerpräsidenten wenden, der gesagt[830] hat, die heutige Besprechung hätte nur den Zweck, über den Stand der Dinge zu unterrichten. Ich habe die Besprechung wesentlich anders aufgefaßt, und ich glaube, sie steht im Widerspruch zur Stellungnahme einer Anzahl von Landesregierungen, die mit Nachdruck gefordert haben, daß sie vor der Entscheidung außenpolitischer Lebensfragen gehört werden und die die Gelegenheit haben wollten, noch im Vorbereitungsstadium zu Wort zu kommen. Wenn der Herr Ministerpräsident sagt, daß er sich dem Standpunkt des Württembergischen Ministerpräsidenten anschlösse, so steht das in einem gewissen Widerspruch.

Wir in Braunschweig stehen vollständig hinter der Reichsregierung, und das fällt uns umso leichter, als die Kritik, die gegenüber der Stellung der Reichsregierung vorgebracht worden ist, zwar einige kritische Momente vortragen kann, aber jegliche positive Gegenäußerung vermissen läßt. Wenn der Mecklenburgische Herr Ministerpräsident sagt, er könne im Augenblick keine positiven Vorschläge machen, so stehen die Fragen, um die es sich hier handelt, doch schon so lange Monate im Blickpunkt des öffentlichen Interesses, daß diejenigen Landesregierungen, die meinen, den Weg der Reichsregierung nicht mitgehen zu können, meines Erachtens auch die Verpflichtung hätten, dann mit anderen positiven Vorschlägen hervorzutreten und zu sagen, welcher bessere Weg beschritten werden kann.

Ich glaube, wir sind uns alle einig in der Zielsetzung, das Möglichste für unser Vaterland herauszuholen, und wir werden jeden anderen besseren Weg – diesen Weg des Sachverständigengutachtens wird sicherlich keine einzige Landesregierung gern gehen – gern beschreiten, wenn er uns nur einmal von irgendeiner Seite gewiesen werden könnte.

Wenn wir das Sachverständigengutachten annehmen, und damit die schweren Lasten, die es uns auferlegt, dann müssen wir nach meiner Überzeugung unter allen Umständen auch die wesentlichen Rechte sichern, die in diesem Sachverständigengutachten enthalten sind und die zu erhalten lebensnotwendig für Staat und deutsche Wirtschaft ist. Das eine bedingt das andere. Ich habe dem Herrn Reichsaußenminister gesagt: wir werden erst ein Gesetz erlassen müssen, worin gesagt wird: erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt worden sind, dann treten die Bestimmungen des Gesetzes in Kraft.

Ein Wort zu der Frage der Kriegsschuld! Ich glaube, daß die Ausführungen, die von dem Herrn Reichsaußenminister gemacht worden sind, auch hier völlig überzeugend sind. Man muß die psychologische Bedingtheit einer Erfolgsmöglichkeit von vornherein in Rechnung ziehen, und die innerpolitische Wirkung würde sicherlich die sein, die von dem Herrn Minister Stresemann geltend gemacht worden ist. Aber letzten Endes dürfen wir, wenn es sich um solche lebenswichtigen Fragen der auswärtigen Politik handelt, nicht unsere Haltung von innerpolitischen Erwägungen bestimmen lassen. Wenn irgend, dann muß jetzt die Außenpolitik den Vortritt haben, und wenn die Erörterung der Kriegsschuldfrage in London zwar deklamatorische, aber keine praktische Wirkung haben würde, dann möchte ich dem das Wort entgegensetzen: der Soldat schlägt nicht Schlachten, um sich mal zu schlagen, sondern um sie zu gewinnen, und wenn ich von vornherein in einen Kampf hineingehe, in dem ich eine Erfolgsmöglichkeit[831] von vornherein für ausgeschlossen halte, dann sehe ich das als eine Bismarcksche Realpolitik ganz gewiß nicht an.

Ein Wort über die Notlage der Landwirtschaft und Industrie! Das, was von den anderen Herren gesagt worden ist, will ich nicht wiederholen, und der Ernst der Ausführungen des Herrn Reichsernährungsministers wird jedem Einzelnen zum Bewußtsein gebracht haben, um welche außerordentlichen Fragen es hier geht. Aber wir befinden uns in einer ganz verzweifelten Lage. Die Wünsche auf Steuernachlaß würden zweifellos die Länderfinanzen zu tragen haben, und ich glaube, daß ein Zurechtkommen in den Länderfinanzen mit dem Steuernachlaß ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wenn ich für meinen Heimatstaat sprechen darf, der durch Forsten und Domänen noch gewisse andere Einkünfte hat, aber bei dem wir uns schon in der Lage befinden, daß wir jeden Ersten die Frage aufwerfen: wo nehmen wir die Mittel für unsere Beamtenbesoldung her? – dann sollte ernstlich überlegt werden, ob der Weg nicht beschritten werden soll. Das eine will ich gern anerkennen: daß man in nächster Zeit die zuständigen Ressorts noch einmal zusammennimmt, um über diese Frage zu sprechen.

Zum Schluß nur das eine! Wenn der Herr Mecklenburgische Ministerpräsident ausführt, wir würden kapitalistisch einer internationalen Hörigkeit verfallen, so ist, glaube ich, vom Reichsaußenminister überzeugend dargelegt worden, daß das jetzt sowieso in wachsendem Maße der Fall ist, und daß wir ohne Kapitalzufuhr zweifellos zu einem Zusammenbruch kommen werden.

Wenn man überlegt, wie auf der einen Seite klare Entwicklungstendenzen aufgezeigt werden, ohne daß beschönigt würde, welche Lasten wir mit der Annahme des Sachverständigengutachtens auf uns nehmen, und auf der anderen Seite eine negative Politik ohne jegliche positiven Vorschläge, dann kann die Wahl meines Erachtens nicht schwer fallen, und aus dieser Überlegung heraus steht auch die Braunschweigische Landesregierung hinter der Auffassung der Reichsregierung.

Bazille, Staatspräsident von Württemberg: Die Ausführungen des Herrn Reichsaußenministers könnten den Eindruck erwecken, als hätte ich geglaubt, Deutschland solle in absehbarer Zeit einen Freiheitskrieg herbeiführen. Ich möchte jedenfalls von vornherein dieses Mißverständnis ausschließen. Was ich gemeint habe, war das: die gewaltigen europäischen Probleme werden nicht auf Konferenzen letzten Endes entschieden, sondern sie werden so entschieden, wie die Weltgeschichte immer solche Probleme entschieden hat. Ich habe das deshalb bemerkt, weil ich nicht den Glauben erwecken wollte, daß meine Zustimmung dazu, daß man auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens auf die Konferenz geht, nicht die Hoffnung bekunden soll, daß dies die Lösung in sich schlösse.

Die Streitigkeiten, die in den letzten Jahren Deutschland zerrissen haben, haben vielfach ihren Ausgangspunkt darin gehabt, daß die Opposition geglaubt hat, die Reichsregierung würde gegenüber dem Auslande mehr erreichen, wenn sie eine festere Haltung einnähme. Die Einwendungen dagegen waren immer die: die Politik ist das Erreichen des Möglichen, und gegenwärtig ist eben nicht[832] mehr zu erreichen. Nun ist der Satz zweifellos richtig; aber wenn er richtig ist, muß man andererseits auch hervorheben: das Mögliche soll dann versucht werden.

Und hier ist nun der Punkt mit der Kriegsschuldfrage, der meines Erachtens innerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegt. Ich glaube, daß es nicht allzu schwer ist, den Anknüpfungspunkt zu finden. Wenn man sagen könnte: es ist die Überweisung der Frage an einen unparteiischen Gerichtshof eine conditio sine qua non für die Annahme des Sachverständigengutachtens, so wäre das etwas, wofür ich eintrete; aber ich gebe zu, die Konferenz würde dadurch von vornherein zum Scheitern gebracht werden. Deshalb habe ich von vornherein erklärt: so meine ich es nicht, daß die Kriegsschuldfrage die conditio sine qua non der Verhandlungen sein solle, sondern man solle in einem passenden Augenblick die Frage aufwerfen, und ich glaube, es böte sich am Schluß der Verhandlungen eine solche Gelegenheit. […]

ReichskanzlerMarx: Damit ist unsere allgemeine Debatte zu Ende, und ich glaube, daß unser Staatssekretär Dr. Vogt seinen Bericht über die Eisenbahnfrage nunmehr erstattet.

Staatssekretär Dr. Vogt: Es ist bekannt, daß dieses Gutachten gerade für die deutschen Eisenbahnen die größte Gefahr der Internationalisierung in sich birgt. Aufgabe der deutschen Vertreter ist es, dieser Gefahr möglichst vorzubeugen.

Ich darf an die Spitze meiner Ausführungen gleich stellen, daß wir die Hoffnung haben können, dieses Ziel zu erreichen. Wir93 haben heute die zweite Lesung beendet, und es liegen bereits Entwürfe des Gesetzes vor und der Satzungen der deutschen Eisenbahngesellschaft94. Zwar sind das noch nicht endgültige Entwürfe, da wir in nächster Woche noch einmal in London zusammenkommen, um die letzte Redaktion vorzunehmen. Wir hoffen aber, in wenigen Tagen damit fertig zu sein und damit der Reichsregierung unsere Entwürfe vorlegen zu können.

93

D. h. das Organisationskomitee für die RB-Gesellschaft.

94

S. Dok. Nr. 246, Anm. 1.

Ich darf mir erlauben, die wichtigsten Gesichtspunkte hervorzuheben95. Die Gefahr lag in folgenden Punkten. Einmal konnte man aus dem Gutachten herauslesen, daß das Eigentum an den Reichsbahnen dem Deutschen Reich und Volke durch eine Gesellschaft mit starkem internationalen Einschlag entwunden werden könne. Ja, man konnte herauslesen, daß es die Absicht der Sachverständigen gewesen sei, die Mehrheit in dieser Gesellschaft an das Ausland zu bringen, dadurch, daß der Verwaltungsrat in der Hauptsache aus ausländischen Mitgliedern besteht. Dazu kam die Gefahr der Ausdehnung der Rechte des ausländischen Kommissars, die schließlich zu einer mehr oder weniger größeren Beseitigung des Hoheitsrechtes der Reichsregierung führen könnte.

95

Zum folgenden vgl. auch den Bericht StS Vogts in der Kabinettssitzung vom 11. 6. (Dok. Nr. 218, P. 2).

[833] Ich glaube nun, daß die eben genannten Gefahren doch ausgeräumt werden können und ausgeräumt werden. Zunächst einmal ist es gelungen, festzusetzen, daß das Eigentum an den Reichsbahnen beim Reiche bleibt96, es sich also nur um eine Betriebsgesellschaft, nicht um eine Eigentumsgesellschaft handelt. Weiter haben wir aber in dem Gesetz und in den Statuten, die mit Gesetzeskraft ausgeräustet werden sollen, festgelegt, daß es sich nicht um ein reines Erwerbsunternehmen handelt, dessen Aufgabe, wie es im Gutachten heißt, die wäre, soviel wie möglich aus der deutschen Volkswirtschaft herauszupressen, vielleicht sogar geleitet nicht nach deutschen, sondern ausländischen wirtschaftlichen Rücksichten. Wir haben infolgedessen ganz ausdrücklich in das Gesetz hineingeschrieben, daß diese Gesellschaft, die nicht Aktiengesellschaft heißt und ist, zur Aufgabe hat, unter Wahrung der Interessen der deutschen Volkswirtschaft nach kaufmännischen Grundsätzen den Betrieb zu leiten97.

96

S. § 6 des RB-Gesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 273 ).

97

S. § 2 des RB-Gesetzes vom 30.8.24.

Diesen Charakter trägt nun die Gesellschaft noch in anderer Beziehung. Wenn es natürlich auch nicht möglich ist, den Stellen der Reichsbahn wie jetzt den Charakter einer Behörde zu lassen, so ist doch ausdrücklich in dem Gesetz hervorgehoben, daß nach wie vor die Stellen der Reichsbahngesellschaft öffentlichrechtliche Befugnisse haben98. Ebenso ist hervorgehoben und im Gesetz festgelegt, daß die Beamten öffentlichrechtlichen Charakter haben. Wenn es auch natürlich nicht mehr möglich ist, daß die Beamten dieser Reichsbahngesellschaft vom Reich angestellt und besoldet werden, also Beamte der Gesellschaft werden müssen, so ist doch in mehreren Paragraphen hervorgehoben, daß kein Angestellter dieser Gesellschaft vorliegt, sondern ein Beamter mit öffentlichrechtlichen Befugnissen99.

98

Vgl. § 17 des RB-Gesetzes.

99

Vgl. die §§ 19 bis 26 des RB-Gesetzes; ferner das RB-Personalgesetz vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 287 ).

Wir haben weiter zur Sicherung der Beamten in dem Gesetz festgelegt, daß die Beamten die Rechte und Pflichten der Reichsbeamten behalten, daß ihnen auch alle Bezüge der Reichsbeamten gewährleistet werden, wobei allerdings ähnlich wie bei der Reichsbank die Gesellschaft das Recht bekommt, bis zu einer gewissen Höhe Zulagen zu geben, daß, wenn aber die Gesellschaft allgemein erhöhen will, sie die Zustimmung der Reichsregierung herbeizuführen hat, was erforderlich ist infolge der unbedingt einheitlichen Beeinflussung der Gehälter der übrigen Reichsbeamten, daß, wenn eine Einigung nicht zustandekommt, dann ein schiedsgerichtliches Verfahren vorgesehen ist100.

100

S. § 26 des RB-Gesetzes.

Die Gesellschaft hat nun die Aufgabe, die Reichsbahnen in Betrieb zu nehmen, so wie sie sich jetzt befinden, und etwaige spätere Reichsbahnstrecken in Betrieb zu nehmen, wobei alle Rechte und Pflichten aus dem bisherigen Unternehmen auf die spätere Reichsbahngesellschaft übergehen. Dadurch, daß gesagt worden ist, daß das Eigentum beim Reich bleibt, mußten natürlich auch Bestimmungen getroffen werden, die es der Gesellschaft ermöglichen, überhaupt zu arbeiten. Es mußte also gesagt werden, daß in gewissem Umfange die Gesellschaft[834] über das Eigentum des Reiches verfügen kann. Einmal ist ihr das Recht gegeben, eigene Kredite aufzunehmen unter Haftung des Eigentums des Reichs, andererseits ist ihr das Recht zugestanden worden, bei kleineren Gegenständen bis 250 000 Mark auch ohne Zustimmung des Reiches zu verfügen, während sie sonst an die Zustimmung des Reiches gebunden ist.

Weiter ist von ganz besonderer Wichtigkeit die Zusammensetzung des Verwaltungsrats. Hier darf ich mit einigen Worten auf den Rechtscharakter der Gesellschaft eingehen. Es bestand die große Gefahr, daß uns eine Gesellschaft aufgedrückt wurde, die nur nach ausländischen Rechtsbegriffen aufgebaut ist und nicht nach deutschen. Wir haben nun, und zwar anschließend an die Pläne, die die Reichsregierung sowieso mit dem Unternehmen „Deutsche Reichsbahn“ hatte, einen Mittelweg eingeschlagen, indem wir nicht den Verwaltungsrat, wie es im Ausland ist, als den eigentlich Dirigierenden, Verwaltenden hingestellt haben und den Direktor nur als ausführendes Organ dieses Rats der Direktoren; sondern wir haben nebeneinander, wie wir nach deutschem Rechte gewöhnt sind, den Vorstand und den Verwaltungsrat, wobei der Vorstand besteht aus dem Generaldirektor – also nicht nur aus diesem – und mehreren Direktoren. Der Verwaltungsrat hat allerdings weitere Befugnisse als der Aufsichtsrat deutschen Aktienrechts, was aber durchaus den Plänen der Reichsregierung in bezug auf das Unternehmen der Reichsbahn entspricht.

Die Zusammensetzung des Verwaltungsrats ist das Wichtigste. Hier bestand die Gefahr, daß eine Überfremdung eintreten würde, insofern als der Plan101 keine Gewähr dafür gibt, daß die Mehrheit aus Deutschen bestehen sollte. Zwar war gesagt worden, daß die Hälfte von der Deutschen Regierung und die Hälfte vom Trust[ee] zu ernennen wäre. Aber sobald die Vorzugsaktien in Höhe von 2 Milliarden Mark verkauft seien, sollten vier von den auf deutscher Seite zu ernennenden Mitgliedern von den Vorzugsaktionären sein, und da nicht zu hoffen sei, daß die 2 Milliarden in Deutschland unterzubringen wären, bestand die Gefahr, daß diese vier Vertreter auch tatsächlich Ausländer waren, was umso gefährlicher war, als in dem Plan bestimmt war, daß aus der Mitte dieser vier auch der Aufsichtsrat102 gewählt werden sollte. Jetzt ist bestimmt worden, daß die vier Mitglieder alle Deutsche sein müssen103. Da der Vorsitzende bei Stimmengleichheit doppeltes Stimmrecht hat, ist schon hierdurch die deutsche Mehrheit gewährleistet.

101

Mit dem „Plan“ ist das Sachverständigen-Gutachten gemeint, insbes. Anlage 4 (S. 124 ff.).

102

Richtig ist: der Präsident des Verwaltungsrats (s. Sachverständigen-Gutachten, S. 127).

103

S. § 11 Abs. 3 der RB-Satzung vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 283 ).

Aber die Pläne gehen noch weiter. Es wird beabsichtigt und gelingt auch hoffentlich – ohne daß es in den Satzungen festgelegt werden soll –, ein deutsches Konsortium zu bilden, selbstverständlich unter Mitwirkung der Reichsregierung, das die Vorzugsaktien zu übernehmen hat, damit auch die vier Vertreter der Vorzugsaktionäre mit Mitwirkung der Reichsregierung ernannt werden, so daß diese neun104 Vertreter der Reichsregierung nicht nur Deutsche[835] sind, sondern in einer gewissen Abhängigkeit von der Reichsregierung stehen, so daß auf diese Weise die deutsche Reichsregierung es in der Hand hat, die Geschäftsführung der Gesellschaft im deutschen Sinne zu beeinflussen.

104

In der Vorlage irrtümlich: „neuen“.

Dann heißt es weiter im Plan, daß von den neun Mitgliedern, die durch den Trust[ee] zu ernennen sind, fünf Deutsche sein können. Es ist uns allerdings nicht gelungen, dieses „können“ in „müssen“ zu verwandeln105. Es wurde uns aber als Ansicht des Komitees, also auch der ausländischen Mitglieder106, festgestellt, daß eine ziemlich große Sicherheit bestände, daß auch dieses „können“ in Tatsache umgewandelt, also tatsächlich noch fünf deutsche Mitglieder ernannt werden, so daß die Hoffnung besteht, daß der Aufsichtsrat aus 14 deutschen Mitgliedern besteht und nur aus vier Ausländern.

105

Vgl. Sachverständigen-Gutachten, S. 127; § 11 Abs. 2 der RB-Satzung.

106

Die ausländischen Mitglieder des Organisationskomitees für die RB-Gesellschaft sind Sir William Acworth und Leverve; die dt. Vertreter im Komitee sind StS Vogt und StS Bergmann.

Ganz besonders wichtig ist es nun, meine Herren, daß wir hier in den Satzungen haben festlegen können, daß der Ständige Ausschuß – der hier für den Verwaltungsrat vorgesehen war [und] aus sechs Mitgliedern zu bestehen hat, und zwar aus drei von jeder Seite – nur einen Ausländer haben darf107, so daß gerade hier in dem besonderen Gremium, das täglich mitzuarbeiten hat, die ausländische Einwirkung auf ein Minimum zurückgeschraubt worden ist.

107

S. § 17 der RB-Satzung.

Weiter ist es dem Komitee gelungen, die Rechte des Kommissars, um mich vorsichtig auszudrücken, zum mindesten völlig klarzustellen108. Gerade hier ließ das Gutachten die schlimmsten Befürchtungen zu. Es konnte herausgelesen werden und ist auch herausgelesen worden, daß der Kommissar der eigentliche Beherrscher der Reichsbahn werden würde, dem es sogar möglich wäre, die Tarife zu bestimmen und nach außerdeutschen, besonders englischen volkswirtschaftlichen Interessen zu lenken, statt nach den Interessen der deutschen Volkswirtschaft. Hier ist festgelegt, und zwar ganz eindeutig festgelegt, daß der Kommissar im Hintergrunde bleiben muß, bis es wirklich mal nicht gelungen sein sollte, den Zinsendienst pünktlich zu bewältigen. Und zwar ist weiter festgelegt – auch da ist das Gutachten eigentlich aufgehoben –, daß nicht schon dann, wenn die Gesellschaft die Zinsen nicht hat aufbringen können, die Rechte des Kommissars eintreten, sondern erst, wenn alle Mittel erschöpft sind, um die 660 Millionen Mark Zinsen einschließlich Amortisation für die Obligationen aufzubringen. Das heißt: es soll die Gesellschaft selber ihre Reserven einziehen, und wenn das nicht reicht, dann soll die Reichsregierung einspringen mit ihren Mitteln, und wenn das nicht gelingt, soll der Treuhänder veranlaßt werden, mit den Reserven, die sich in dem Reservetopf befinden, einzuspringen. Erst wenn das alles geschehen ist, also tatsächlich der Kommissar kein Geld hat, um die Zinsen für die Obligationen einzulösen, soll er das Recht haben, die Erhöhung der Tarife zu verlangen. Gelingt es hierbei, innerhalb eines halben Jahres das Loch zu stopfen, so verschwindet der Kommissar wieder hinter den Kulissen, und erst wenn es nach Ablauf eines[836] weiteren halben Jahres nicht gelungen ist, die Zinsen zu zahlen und auch die neuen Kupons wieder notleiden, erst dann stehen weitergehende Rechte des Kommissars an, und zwar dahin, daß er dann auch das Recht hat, entbehrliches Material oder entbehrliche sonstige Gegenstände oder Gebäude zu verkaufen, den Generaldirektor abzusetzen, sich selbst zum Generaldirektor zu machen. Die Herren wissen aus dem Gutachten, daß hier als äußerstes Recht des Kommissars festgesetzt war, letzten Endes die Eisenbahnen ganz oder zum Teil zu verkaufen oder zu verpachten. Dieses Recht ist gestrichen worden. Es ist dafür allerdings für den Kommissar die Möglichkeit eingesetzt worden, die Konzession weiter zu vergeben: irgendeinem andern, ganz oder zum Teil, aber – das ist besonders wichtig – die Konzession, wie sie steht und fällt. Es ist ganz undenkbar, daß sich ein Pächter für die Konzession finden wird.

108

Hierzu vgl. Sachverständigen-Gutachten, S. 122 f., 127 ff.; RB-Satzung, § 22 ff.

Es ist ganz undenkbar, daß sich ein Pächter für die Konzession finden wird, der nun, nachdem es der Gesellschaft selbst nicht gelungen ist, die Zinsen zu decken, seinerseits andere Mittel findet, um die Verpflichtungen der Gesellschaft zu erfüllen. Diese Möglichkeit nicht nur darf nicht vorliegen, sondern es ist festgelegt, daß zu dieser äußersten Maßnahme der Trustee, der Kommissar nur schreiten darf, wenn – das ist im Plan vorgesehen – das internationale Schiedsgericht feststellt, daß diese Maßnahme nötig und geeignet ist, um den Zinsendienst herzustellen. Beide ausländische Mitglieder109 sind der Meinung, daß es keinen Menschen auf der Welt gebe, der diese Maßnahme für geeignet hielt[e], diesen Zweck zu erfüllen, so daß wir wohl sagen können, daß dieses äußerste Mittel tatsächlich nur auf dem Papier steht, also auch nicht einmal eine Weitergabe der Konzession der Gesellschaft an einen Dritten möglich ist. Allerdings haben wir den Plan entsprechend fassen müssen, ganz oder zum Teil. Wir haben aber – ich darf bitten, darüber möglichst Stillschweigen zu bewahren – durch einen anderen Passus erreicht, daß es auch hier ausgeschlossen wird. Wir haben nämlich besonders hervorgehoben, daß der Kommissar, wenn er selbst den Betrieb übernimmt oder verwaltet, dann selbstverständlich auch später an alle gesetzlichen Bestimmungen gebunden ist, also auch an die Verfassung, worin steht, daß die Reichsbahnen als ein einheitliches Wirtschaftsunternehmen zu verwalten sind110, so daß also danach eine teilweise Fortnahme des Betriebsrechtes, somit eine Verstümmelung der Reichsbahnen nicht zulässig ist, weil es der Verfassung widersprechen würde. Wir glauben also, daß wir tatsächlich die Rechte des Kommissars so eingeschränkt haben, daß er schließlich nur als Aufpasser tätig ist, was wir nach dem Plan leider nicht ausschließen konnten. Er hat das Recht, Auskunft für sich zu verlangen und kann sich, wenn er mit irgendeiner Maßnahme nicht einverstanden ist, an den Generaldirektor und, wenn der seinen Wünschen nicht Folge gibt, an den Verwaltungsrat wenden. Es ist aber auch wiederum über den Plan hinaus in den Satzungen festgelegt, daß der Verwaltungsrat auf alle Fälle endgültig zu entscheiden hat, so daß nicht etwa der Kommissar das Internationale Schiedsgericht anrufen darf, um mit Hilfe dieses[837] gegen die Verwaltung der Reichsbahn Rechte zu bekommen. Damit sind nach unserer Meinung auch die Hoheitsrechte der Reichsregierung unbedingt gewährleistet. Wir haben sogar, vielleicht nicht einmal im Interesse der zukünftigen Gesellschaft, aber doch wohl im Interesse aller derjenigen, die glauben, daß immer noch die Gefahr der Internationalisierung vorliegt, geglaubt, reinschreiben zu sollen, daß die Reichsregierung alle Tarife zu genehmigen hat und ihrerseits das Recht hat, jede Tarifermäßigung zu verlangen111. Selbstverständlich ist, daß die Erhöhung der Tarife genehmigt werden muß, wenn sie unbedingt notwendig ist, um die Zinsen zahlen zu können, und daß eine Ermäßigung nicht verlangt werden darf, wenn dadurch die Gefahr entstände, daß die Zinsen nicht mehr bezahlt werden könnten. Das mußte natürlich in die Satzungen112 auch hineingeschrieben werden.

109

S. oben Anm. 106.

110

Art. 89 RV.

111

S. RB-Gesetz vom 30.8.24, § 31 Abs. 4; § 33 (RGBl. II, S. 277 ).

112

Es muß heißen: in das Gesetz; s. RB-Gesetz, § 34.

Nun ist allerdings darüber ein Streit zwischen Reichsregierung und Gesellschaft möglich. Darum sieht der Plan diesen internationalen Schiedsrichter vor113. Es war nun unsere Aufgabe, auch diesen internationalen Schiedsrichter so weit als möglich an die Wand zu drücken. Infolgedessen haben wir zwischen der Gesellschaft und diesem internationalen Schiedsrichter ein rein deutsches Schiedsgericht eingestellt, so daß also alle Meinungsverschiedenheiten zwischen Reichsregierung und Gesellschaft nicht etwa diesem internationalen Schiedsrichter vorgelegt werden, sondern einem rein deutschen Schiedsgericht, das sich zusammensetzt aus einem Präsidenten, der zu ernennen ist von dem Präsidenten des Reichsgerichtes, einem Vertreter der Reichsregierung und einem Vertreter der Gesellschaft. Allerdings darf nun gegen die Entscheidung dieses Schiedsgerichts der internationale Schiedsrichter angerufen werden, aber nur wenn feststeht oder wenn die Gesellschaft annimmt oder etwa auch die Reichsregierung, die auch daran interessiert ist, daß diese Entscheidung des deutschen Schiedsrichters den Zinsendienst gefährdet114.

113

Vgl. Sachverständigen-Gutachten, S. 132 (Anlage 4, Art. X).

114

Zum Schiedsverfahren (Einschaltung des dt. Gerichts bzw. des internationalen Schiedsrichters) s. RB-Gesetz, §§ 44 und 45.

Nach diesem Vorbild haben wir nun weiter gesagt, daß dieses deutsche Schiedsgericht in allen Streitfragen, also nicht nur in den tarifarischen Streitfragen, zwischen deutscher Gesellschaft und Reichsregierung zu entscheiden hat. Eine solche Meinungsverschiedenheit ist z. B. noch möglich beim Bau neuer Bahnen, wo vielleicht die Gesellschaft sagt, sie habe kein Geld, die neue Bahn zu bauen, und die Reichsregierung trotzdem der Gesellschaft den Bau dieser Bahn aufdrücken will. Auch in diesem Falle hat ausschließlich das deutsche Schiedsgericht zu entscheiden, und der internationale Schiedsrichter, der ja nach dem Plan in all diesen Sachen entscheiden sollte, darf nur eingreifen, wenn die Gesellschaft glaubt, daß der Zinsendienst durch die Entscheidung, sei es der Reichsregierung oder des deutschen Schiedsrichters, gefährdet erscheint.

[838] Wir haben also, glaube ich, dieses internationale Moment in dem Plan möglichst unschädlich gemacht. Wir sind darüber noch hinausgegangen und haben die eigentlichen Hoheitsrechte der Reichsregierung der Möglichkeit jedes Schiedsspruches entzogen und haben das, was nach dem Plane dem internationalen Schiedsrichter unterworfen werden soll (Feststellung der Pläne, das ganze Verfahren bei der Enteignung von Eigentum), als endgültig hingestellt, so daß in diesen Fällen nicht einmal der deutsche Schiedsrichter angerufen werden darf, sondern die Entscheidung der Reichsregierung endgültig sein muß.

Ich darf noch auf einiges bezüglich der Vorzugsaktien eingehen. Hier ist ja vorgesehen, daß Vorzugsaktien in Höhe von 2 Milliarden Mark auszugeben sind, wovon 500 Millionen der Reichsregierung zufließen sollen. Es ist nun vorgesehen, daß die Dividende für die Vorzugsaktien, obwohl eine feste Dividende noch nicht ganz feststeht, 7 oder 8% betragen soll, aber nicht etwa den Anlaß geben darf, um nun unbedingt die Tarife zu erhöhen. Jedenfalls darf der internationale Schiedsrichter nicht etwa deswegen eine Erhöhung der Tarife verlangen, damit eine Dividende für diese Vorzugsaktien herausgewirtschaftet werden kann, sondern er darf nur eingreifen, wenn die 660 Millionen des Zinsendienstes in Gefahr sind. Das Ausland hat überhaupt nur mitzureden, soweit Reparationen in Frage kommen. Alles andere sind rein innerdeutsche Angelegenheiten, in die sich kein Ausländer hineinmischen darf.

Das ist das Wichtigste, was ich vorzutragen habe. Es ist natürlich nicht möglich, über die etwa 80 Paragraphen des Gesetzes im einzelnen Auskunft zu geben. Wir werden in der nächsten Woche in London noch einmal zusammentreten, um eine Schlußredaktion vorzunehmen115. Wir haben noch hinausgeschoben eine Besprechung über die finanzielle Lage der neuen Gesellschaft. Ebenso haben wir bisher keine Gelegenheit gehabt, eingehend über das Verhältnis der Gesellschaft zu den Länderregierungen zu sprechen, was ja die Herren hier besonders interessiert. Wir haben allerdings bereits einen Paragraphen in das Gesetz aufgenommen, wonach bei organisatorischen Maßnahmen der Gesellschaft die Einheit der Reichsbahn insbesondere auf tarifarischem und finanziellem Gebiet gewahrt sein muß116. Wir haben in einem weiteren Paragraphen schon vorgesehen, daß die Rechte und Pflichten aus dem Staatsvertrag auf die Gesellschaft übergehen bis auf die finanziellen Verpflichtungen. Der letzte Paragraph steht noch nicht endgültig fest117.

115

Die 3. Lesung der Entwürfe des RB-Gesetzes und der RB-Satzung im Organisationskomitee für die Eisenbahn findet vom 10. bis 24. 7. in London statt.

116

Im Entwurf des RB-Gesetzes vom 3. 7. (s. Dok. Nr. 246, Anm. 1) lautet der § 26: „Bei organisatorischen Maßnahmen der Gesellschaft muß die Einheit des Unternehmens, insbesondere auf dem Gebiete der Tarife und Finanzen, gewahrt werden.“ Endgültige Fassung: § 27 des RB-Gesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 276 ). Vgl. Dok. Nr. 246, Anm. 10.

117

§ 42 des Entwurfs des RB-Gesetzes, s. Dok. Nr. 246, Anm. 11.

Ich darf bezüglich des Verhältnisses zu den Ländern noch folgendes hervorheben. Es ist auch von den ausländischen Mitgliedern des Komitees118 als selbstverständlich anerkannt worden, daß bezüglich der inneren Organisation des Unternehmens die Einheit gewahrt bleiben, daß aber bei ihren Maßnahmen[839] die Gesellschaft vollkommen freie Hand haben muß, daß also das Ausland, sei es der Kommissar, sei es der internationale Schiedsrichter, hier in keiner Weise mitzuwirken hat, daß infolgedessen auch nichts dem entgegensteht, daß die Dezentralisationsabsichten, die vom Verkehrsminister in die Wege geleitet sind, nun auch zu Ende geführt und damit auch die Wünsche der Länder erfüllt werden. Es wird aber eingehend zu prüfen sein, ob es möglich ist, mit all den Verpflichtungen aus dem Staatsvertrag, die grundsätzlich aufrechterhalten werden sollen, die Gesellschaft zu belasten. Auch die ausländischen Mitglieder des Ausschusses halten es nicht für möglich, der Gesellschaft das Risiko der Aufwertung der Schuldverschreibungen aufzulasten. Den Herren ist bekannt, daß das Reich die Schuldverschreibungen der Länder auf sich genommen hat, die jetzt keinen Wert haben119. Darauf beruht gerade das Gutachten, daß die 660 Millionen an die Stelle der Verzinsung und Amortisation des früheren Anlagekapitals gesetzt sind, so daß es nicht möglich wäre, eine etwaige Aufwertung dieser Schuldverschreibungen der Gesellschaft zur Last zu legen, ohne deren Reparationsverpflichtungen unmöglich zu machen.

118

S. Anm. 106.

119

Mit der Übernahme der Staatseisenbahnen der Länder gemäß Staatsvertrag von 1920 hatte das Reich auch die Schulden der Länder übernommen, und zwar in Anrechnung auf die Abfindung, die das Reich den Ländern für die Übertragung der Bahnen zu gewähren hatte; s. hierzu das Gesetz betr. den Staatsvertrag vom 30.4.20, §§ 3 bis 7 (RGBl. S. 775 ). Nach der Endfassung des RB-Gesetzes sollen diese finanziellen Verpflichtungen aus dem Staatsvertrag jedoch nicht auf die RB-Gesellschaft übergehen; d. h. die Abfindung der Länder sowie die Abwicklung der vom Reich übernommenen (und in der Inflation entwerteten) Länderschulden ist Sache des Reichs, nicht der RB-Gesellschaft; s. RB-Gesetz vom 30.8.24, § 43 (RGBl. II, S. 279 ).

Es haben aber auch die ausländischen Mitglieder des Komitees ganz ohne Zweifel ausgesprochen, daß die Bildung von besonderen Gesellschaften, ganz gleich wo, auch im Rheinland, dem Sinn des Gutachtens widersprechen würde. Es wurde ausgeführt, daß die Bildung von besonderen Gesellschaften, selbst wenn eine Dachgesellschaft konstruiert werden sollte, es unmöglich machen würde, die Reparationslasten zu erfüllen, daß jedenfalls die Sachverständigen auf dem Standpunkt gestanden hätten, daß die 660 Millionen nur einheitlich aufgebracht und nicht etwa auf soundsoviele Gesellschaften verteilt werden können, so daß auch hierin an der Verfassung des Deutschen Reiches nicht gerüttelt werden darf.

Wenn auch nicht alle Gefahren beschworen sind – es steht uns noch die dritte Lesung bevor, wo vielleicht manches geändert wird –, so glauben wir doch, wenigstens das erreicht zu haben, daß dem deutschen Volk die deutschen Reichsbahnen nicht aus der Hand genommen werden können.

ReichskanzlerMarx: Ich danke dem Herrn Staatssekretär Dr. Vogt für seinen durchaus klaren und, wenn auch nicht alles umfassenden, so doch für uns außerordentlich interessanten Bericht. Wie schon früher in einer Sitzung des Reichskabinetts120 darf ich ihm auch jetzt den Dank für seine Bemühungen aussprechen. Gegenüber den großen Besorgnissen, die man an den Wortlaut des Gutachtens mit Recht geknüpft hat, sind durch diese Bemühungen der Herren[840] sehr viele Erleichterungen in das Statut hineingekommen. Ich glaube, daß die schlimmsten Seiten sich doch geändert haben und namentlich die Gefahr behoben ist, daß das Ausland einen zu großen und überwältigenden Einfluß auf die Verhältnisse der Reichsbahnen erhält.

120

S. Kabinettssitzung vom 11. 6., P. 2 (Dok. Nr. 218).

Staatssekretär Dr. Vogt: Ich darf noch auf etwas kommen, was unmittelbar mit der Angelegenheit nichts zu tun hat, aber für uns Deutsche von besonderem Interesse ist. Was wird aus den Regiebahnen? Das Gutachten sieht ja vor – ganz besonders deutlich ist es ausgesprochen in dem Sondergutachten121 –, daß die Leistungsfähigkeit der Reichsbahnen für die Reparationszwecke nur möglich ist nach Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit, d. h. also doch nach Aufgabe der Regie. Wir haben auch heute noch wieder in der Schlußsitzung der zweiten Lesung festgestellt, daß beide Herren122 noch auf diesem Standpunkt stehen. Sie sind der Ansicht, daß die Gesellschaft überhaupt nicht ins Leben treten kann, ehe die Regiebahnen verschwunden sind. Wir haben nun in dem Schlußparagraphen des Gesetzes123 geglaubt, wenn auch nicht expressis verbis, so doch ganz klar dem Sinne nach ausführen zu sollen, daß diese Voraussetzung besteht. Wir haben gesagt, daß das Gesetz zwar am Tage der Verkündung in Kraft tritt, daß aber die Gesellschaft Rechte erst bekommen kann, nachdem festgestellt worden ist, und zwar gemeinsam von dem eingesetzten Generaldirektor und dem Verkehrsminister, daß alle Voraussetzungen erfüllt sind. Erst wenn diese Erklärung dem Organisationskomitee gegenüber abgegeben ist, wird das Organisationskomitee dem Reichsministerium mitteilen, daß die Gesellschaft bereit ist, den Betrieb zu übernehmen. Damit hat es die Reichsregierung völlig in der Hand, die Gesellschaft nicht eher ins Leben treten zu lassen, bis die Regiebahnen vollständig verschwunden sind.

121

Vgl. Sachverständigen-Gutachten, S. 109 f. (Anlage 3).

122

Sir William Acworth und Leverve.

123

S. § 47 des RB-Gesetzes vom 30.8.24 (RGBl. II, S.280 ).

ReichskanzlerMarx: Das ist eine wertvolle Vereinbarung gewesen. Hinzu kommt, daß, wie der Herr Staatssekretär Vogt mir eben mitteilt, auch von den Herren gemeinsam eine Erklärung an die Ententeregierungen beschlossen worden ist, daß in keiner Weise irgendwie eine Verzögerung der Verhandlungen …124.

124

Lücke in der Vorlage.

Staatssekretär Dr. Vogt: Wir haben mit Rücksicht auf die Nachrichten …125 durch die Presse bekanntgegeben, daß wir in 20 Sitzungen in zweiter Lesung das Projekt des Gesetzes und die Satzungen fertiggestellt haben und hoffen, in der nächsten Woche zu einer letzten Lesung in London zusammenzukommen, so daß wir glauben, den Gesetzentwurf so rechtzeitig fertigstellen zu können, daß er etwa zwischen dem 15. und 16. Juli der Reichsregierung und der Reparationskommission vorgelegt werden kann126.

125

Lücke in der Vorlage.

126

Eine entsprechende WTB-Meldung über den Stand der Verhandlungen im Organisationskomitee für die Eisenbahn in DAZ Nr. 310 vom 4. 7.

[841] ReichskanzlerMarx: Ich glaube, daß der letzte Termin sich vielleicht noch etwas anders bestimmen läßt. Wenn die Verhandlungen am Dienstag [8. 7.] und Mittwoch schon beginnen, ist es vielleicht möglich, auf dem Umweg über die verhandelnden Regierungen darauf zu drücken, daß die Beratungen rasch gefördert werden und daß dann der Entwurf schon am 15. Juli fertiggestellt ist. Das würde jedenfalls sehr wertvoll sein.

Bedenken – das will ich noch einschieben – erregt nur die Frage der Industrieobligationen. Die Frage ist außerordentlich schwierig. Einen genauen Bericht darüber können wir nicht geben, weil die Verhandlungen in Paris geführt werden127. Ich habe nur einen indirekten Bericht von einem Herrn, der als juristischer Berater fungiert. Die Verhandlungen sind schwierig und delikat, so daß es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis darüber eine Entscheidung des Organisationsausschusses zu erzielen ist.

127

Vgl. dazu Dok. Nr. 247, P. 3.

Bayerischer Handelsminister v. Meinel: Wenn ich auch im wesentlichen nur zu der Eisenbahnfrage sprechen möchte, bitte ich doch, von der Ermächtigung, die der Herr Reichskanzler erteilt hat, in diesem Zusammenhang auf die allgemeinen Fragen kurz zurückgreifen zu dürfen, Gebrauch machen zu dürfen. Das bayerische Parlament hat gestern Beschlüsse gefaßt, die speziell die Frage der Zustimmung der Bayerischen Regierung zu der Regelung der Eisenbahnfrage betroffen haben128, hat sich aber doch auch bei dieser Gelegenheit über den ganzen Komplex des Sachverständigengutachtens verbreitet. Hierbei ist von der Bayerischen Regierung der durch den Herrn Bayerischen Ministerpräsidenten vorhin gekennzeichnete Standpunkt eingenommen worden.

128

Am 2. 7. nahm der bayer. LT folgenden Antrag der Koalitionsparteien (BVP, DNVP, Bayer. Bauernbund) an: „1. Der LT stellt fest, daß zur Übertragung des Betriebes der RB an eine Konzessionsgesellschaft gemäß § 8 des Staatsvertrages über den Übergang der Staatseisenbahnen auf das Reich [s. unten Anm. 137] die Zustimmung Bayerns und der übrigen Eisenbahnländer notwendig ist; 2. der LT beschließt, daß dann, wenn der Gesetzentwurf des Reiches von einem Verkehrssystem ausgehen sollte, das durchaus unitaristisch und rein international eingestellt ist und den Lebensinteressen des Reiches oder seiner einzelnen Teile und ihrer Wirtschaft sowie den berechtigten Ansprüchen der Eisenbahngläubiger nicht Rechnung trägt, Bayern seine Zustimmung nicht geben darf. Diese Frage ist zur vorläufigen Klärung einem Ausschuß des LT zur Regelung der Eisenbahnfragen zu überweisen; 3. der LT fordert die Staatsreg. auf, wenn der Gesetzentwurf zum Vollzuge des Sachverständigengutachtens eine Änderung von Bestimmungen der RV enthalten sollte, die Beobachtung der dann gegebenen Voraussetzungen für eine verfassungsändernde Gesetzgebung zu erwirken.“ (nach Schultheß 1924, S. 50).

Ich möchte auch meinerseits bestätigen, daß in Süddeutschland und speziell in Bayern die Lage der Wirtschaft so ist, daß wir nicht mehr viel Zeit haben, nach anderen Auswegen zu suchen, sondern daß unbedingt der einzige bisher sich bietende Ausweg ergriffen werden muß. Ich möchte aber auch gar keinen Zweifel darüber lassen, daß mir die Beantwortung der Frage, ob die normalen Annuitäten aus der deutschen Wirtschaft geleistet werden können, gar nicht unsicher zu sein scheint. Das Wort Cassels hat auch nur gelautet: was Deutschland in drei Jahren zahlen kann, das kann z. Zt. kein Deutscher und kein Ausländer sagen. Aber ich glaube, wir können mit mathematischer Sicherheit[842] sagen, daß Deutschland jedenfalls derartige Beträge, wie sie im Sachverständigengutachten als normal anzusehen sind, nicht wird transferieren können. Wir können mit fast mathematischer Sicherheit sagen, daß auch die Zahlungen nicht völlig werden geleistet werden können.

Zur ersteren Frage brauche ich nur auf die Ausfuhr zu verweisen. Es ist bekannt, welche enorme Steigerung der deutschen Ausfuhr notwendig sein würde, bis eine derartige Steigerung der deutschen Ausfuhr über die Einfuhr entstehen würde, daß die Jahresannuitäten von 2,5 Milliarden übertragen werden könnten. Woher Sie sie aus der Wirtschaft nehmen, ist gleich. Wo ich die Frucht auch anbohre, den Saft entnehme ich natürlich der ganzen Frucht. Ich darf daran erinnern, daß wir vor dem Kriege beispielsweise einen Ausfuhrüberschuß bei der Eisenindustrie von 670 Millionen Mark hatten, während wir jetzt auf diesem Gebiet passiv geworden sind; bei der Textilindustrie von 440 Millionen, während kein vernünftiger Mensch daran denkt, daß wir diese Zahlen jetzt wieder erreichen können.

Ich darf ferner darauf hinweisen, daß wir vor dem Kriege, wenn die sehr prekären Schätzungen richtig sind, 40 Milliarden jährliche Rente aus dem deutschen Vermögen gehabt haben, daß aber jetzt die gesamte Rente vielleicht, nach Helfferich, auf 18, vielleicht auf 20 Milliarden anzusetzen ist. Wie da so große Zahlungen geleistet werden können, ist nicht ersichtlich. Es wäre deshalb sehr gut, wenn man Sicherungen schafft, daß nur bei nachgewiesenem bösen Willen Deutschland Sanktionen und derartige Maßnahmen auferlegt werden können. Wenn hier ein Schiedsgericht eingesetzt werden könnte, würde das eine große Beruhigung sein.

Ich darf dann noch auf einen zweiten allgemeinen Punkt hinweisen. Die seelische Belastung des deutschen Volkes ist ebenfalls eine solche, die jede psychologische Einstellung eigentlich vermissen läßt. Es wird der Versuch gemacht, die gesamte Arbeit eines großen Volkes als einen mechanischen leblosen Faktor zu behandeln, den man zum Besten der Volkswirtschaft wird einsetzen können. Das werden sich insbesondere unsere Arbeiter nicht gefallen lassen. Ich sehe gar keinen Weg, wie wir unsere Arbeiter bei der Staatsautorität, wie sie noch in Deutschland besteht, dazu bringen sollen, die Mehrarbeit zu leisten, die, selbst wenn die Absatzmöglichkeit bestünde, notwendig wäre, um derartige Renten zu erzielen. Das alles möchte ich nur sagen, damit niemand glaubt, wir seien der Meinung, diese Dinge könnten wirklich so erfüllt werden, und es sei nur der böse Wille Deutschlands, wenn sie nicht erfüllt würden.

Ich bin gleichwohl dafür, daß man diese Rettungsplanke betritt. Sie rettet uns vielleicht in einige ruhigere Jahre hinüber, in eine geordnete Zukunft nicht nach meiner festen Überzeugung. Es ist aber ja nicht an dem – und das wird in Bayern so stark betont –, daß wir wieder etwas unterschreiben sollten, was wir nicht halten können. Denn m. E. unterschreiben wir doch – und das möchte ich klarstellen, weil es heute noch nicht erörtert ist –, daß wir das Mögliche zahlen wollen. Nicht nur in dem Versailler Vertrag in dem bekannten Artikel 234, sondern schon in dem Gutachten selbst steht drin, daß zwei Drittel von dem Ausschuß des agent of reparations die Zahlungen Deutschlands erniedrigen können, wenn sie sich überzeugen, daß das der deutschen Valuta schädlich sein[843] würde. Wir brauchen gar nicht auf den Versailler Vertrag zurückzugreifen, sondern schon im Sachverständigengutachten unterschreiben wir nichts anderes, als daß wir zahlen wollen, was wir zahlen können.

Nun zu der Frage der Eisenbahnen. Wir waren in Bayern bestrebt, möglichst dahin zu wirken, daß eine einheitliche Haltung in dem Sinne erzielt wird: es muß einer Vereinbarung zugestimmt werden, die auf Grund des Sachverständigengutachtens eine möglichste Verbesserung erreicht. Der Beschluß unseres Landtages hat nun zwei Grenzen aufgestellt, von denen er sagt, sie müßten von der Reichsregierung bei der Frage der Zustimmungserklärung nach § 8 des Übernahmevertrags der Staatseisenbahnen unbedingt eingehalten werden. Das eine ist durchaus im Interesse des Reiches gedacht, das andere im Interesse des Reichs und der Länder. Es wird nämlich einmal verlangt, daß wir keiner Lösung zustimmen, die eine rein internationale Gestaltung unseres Verkehrssystems bedeuten würde. Was Sie in dieser Richtung von dem Herrn Staatssekretär Vogt gehört haben, hat in vielen Punkten, die auch bei uns erörtert worden sind, beruhigt, nicht völlig beruhigt in bezug auf den Charakter des Verwaltungsrates – aber zu hoffen scheint [!], daß er doch überwiegend deutsch sein möge –, beruhigt in bezug auf die Möglichkeit der Wahrung der Rechte des Reichs, die uns sehr gefährdet schienen. Das wurde in einem Spezialantrag in Bayern ausdrücklich noch erwähnt. In dieser Beziehung sehen also die Dinge besser aus, als unsere Befürchtungen gewesen sind.

Nicht ganz so in bezug auf das andere Gebiet, das sowohl die Länder als auch das Reich berührt. Sie werden mir zugeben, daß es sowohl im Interesse der Länder als des Reiches gelegen ist, daß auf diese lange Zeit, für die angeblich dieses neue Regime gelten soll, auch befriedigende Verhältnisse auf dem Verkehrsgebiete zwischen Reich und Ländern bestehen. Nun war das – und ich darf mich nicht scheuen das auszusprechen – bisher bekanntlich nicht der Fall. Diese Dinge, die mit Leidenschaftlichkeit von beiden Seiten im Streit verhandelt worden sind, entgiftet man am besten, wenn man sie scherzhaft behandelt. Gestatten Sie mir also einen scherzhaften Vergleich. So vielfach wird angenommen, Bayern wolle eine Extrakappe in bezug auf das Verkehrswesen. Nein, wir wollen bloß eine Kappe, die Bayern paßt. Nun hat der Vater, das Reich, bisher die einheitliche Kappe natürlich dem größten Bruder angemessen. Die ist nun für Bayern nicht passend. Und nun entrüstet man sich, daß Bayern mit dieser schönen Kappe nicht auskommt. Sie fällt über die Augen, und wir können keinen selbständigen Schritt mehr tun. Wir verlangen – das bitte ich festzuhalten – nicht, daß wir eine schönere Kappe bekommen, sondern nur eine, die uns paßt. Bisher hat der Vater, das Reich, hie und da geholfen und hat uns die Kappe aus den Augen herausgeschoben. Er war aber weit entfernt und hat nicht immer gesehen, wenn wir in Verlegenheit waren. Jetzt kommt an Stelle des Vaters eine anonyme Gesellschaft. Von der können wir nicht erhoffen, daß auch nur in dem bisherigen Umfang, wie bei den Staffeltarifen und dgl., den Interessen der Länder entgegengekommen wird. Da wir nun verpflichtet sind, unserem Land gegenüber die Erteilung der Zustimmung zu der Neugestaltung in Kürze zu erwägen, und da wir sie so gern erteilen[844] möchten, deshalb bin ich gezwungen, hier einige Punkte zur Sprache zu bringen, wie ich glaube, im Interesse des Reichs und der Länder.

Mir scheint, daß der Einfluß der Fremden etwas geringer geworden ist als im ursprünglichen Gutachten. In ihm schien er doch so groß zu sein, daß große Gefahr bestand. Das Instrument des Sachverständigengutachtens kann offenbar ganz verschieden gehandhabt werden. Je nachdem es ein wirtschaftlich Vernünftiger handhabt, könnte es leidliche Verhältnisse schaffen. Wenn jemand die Gewaltpolitik auf anderem Wege fortsetzen will, kann er uns auch so den Hals zuziehen. Das scheint mir in verschiedenen Beziehungen auf dem Gebiete des Tarifwesens noch immer zu befürchten zu sein. Nicht nur der agent of reparations kann durch Krediterteilung oder -versagung, sondern auch der Eisenbahnkommissar kann durch frachtliche Begünstigung oder Erschwerung, wie es ihm, der englischen oder der französischen Industrie paßt, schädigen oder aufbauen. Ist es da nicht auch im eigensten Interesse des Reiches, daß nicht bloß eine Zentrale hier ist, wo der Eisenbahnkommissar wirkt und wo er immer einsetzen kann, sondern daß von den Befugnissen des Reichs auch keine129 auf die Netze der Länder übertragen werden. Das Sachverständigengutachten hat nicht bloß in der Anlage 3, die jetzt in den Hintergrund tritt, sondern selbst auf Seite 28 und in der Anlage 4 Möglichkeiten eröffnet, daß für verschiedene Gruppen, Systeme – Netze sagte der Franzose, Systeme der Engländer; bei uns ist es übersetzt mit Gruppen, ebenso gut hätte man Systeme sagen können –, daß hier Möglichkeiten einer wirklichen Dezentralisation, wie sie bisher zu vermissen war – wie ich glaube, zum Nachteil des Reichs und der Länder – geschaffen werden können130.

129

Statt „keine“ müßte es sinngemäß „einige“ heißen.

130

An den von v. Meinel angezogenen Stellen (S. 109, 28, 127) läßt das Sachverständigen-Gutachten die Möglichkeit offen, daß das dt. Eisenbahnnetz künftig in mehrere örtliche „Gruppen“ bzw. „Systeme“ eingeteilt wird; einschränkend wird jedoch gesagt, daß hierdurch die Finanz- und Tarifeinheit der RB-Gesellschaft nicht beeinträchtigt werden darf. – Vgl. auch das Schreiben v. Meinels an den RVM vom 14. 5., in dem v. Meinel unter Berufung auf das Sachverständigen-Gutachten die Einrichtung eines gesonderten bayer. Eisenbahnsystems fordert (Dok. Nr. 199, Anm. 19).

Ich habe mit Vergnügen gehört, daß man in den Ländern über diese Möglichkeiten verhandeln wird. Ich möchte nur die dringende Bitte aussprechen, daß vor diesen Verhandlungen nicht Möglichkeiten ausgeschaltet werden, die sogar das Organisationskomitee in seinen ausländischen Mitgliedern geschaffen hat.

Hier beunruhigt mich, ganz offen gesagt, der § 26, dessen Wortlaut uns eben mitgeteilt worden ist131, welcher besagt: bei organisatorischen Maßnahmen muß die Einheitlichkeit des Betriebs, insbesondere auch auf finanziellem und tariflichem Gebiet gewahrt werden. Das geht über das Sachverständigengutachten hinaus. Dort ist nur von der Einheit auf tarifarischem und finanziellem Gebiet die Rede. Wenn Sie hier von „Einheitlichkeit des Betriebs, insbesondere auf finanziellem und tarifarischem Gebiet“ sprechen, dann ändern Sie die Lage und präkludieren Lösungen, die uns noch als möglich erschienen und die uns das Reich erst als unmöglich nachweisen müßte, bis wir hoffen[845] dürfen, die Zustimmung und die freudige Zustimmung des bayerischen Volkes zu einer solchen Lösung zu erreichen. Infolgedessen würde ich dringend bitten, daß das Wort „insbesondere“, das sich hineingeschlichen hat, ich weiß nicht wie, auch wieder verschwinden würde, und daß wir dann bei den Verhandlungen zwischen Reich und den einzelnen Ländern sehen würden, wie wir zu einer Lösung kommen, die unseren und Ihren Idealen entspricht, eine Lösung, die die Interessen des Reichs nach außen und innen voll wahrt, die aber auch den Ländern eine freudige Mitarbeit auf diesem Verkehrsgebiete ermöglicht.

131

S. Anm. 116.

ReichskanzlerMarx: Ich möchte nicht auf die sachkundigen Darlegungen von Exzellenz Meinel eingehen. Ich möchte einen Gedanken zur Sprache bringen, der heute noch gar nicht berührt worden ist und der unsere Leistungen in etwas anderem Licht erscheinen läßt. Wir sollen uns die Dinge nicht so schlimm vorstellen. Sie wissen, daß ich immer ein etwas leichtsinniger Mensch bin und die Dinge etwas rosiger ansehe. (Heiterkeit) Wenn wir von den 2½ Milliarden sprechen, so hat Herr Ministerialdirektor Brecht eine sehr nette Bezeichnung gewählt, wenn er von transferierenden [?] Zahlen sprach. In die 2½ Milliarden ist alles hineingerechnet, was wir jetzt schon leisten. Es ist also eine bestimmte Grenze geschaffen, die bis jetzt gefehlt hat.

Ich möchte einmal darauf hinweisen, um diese Summe nicht ganz so erschreckend erscheinen zu lassen – groß genug ist sie –, daß mich nichts mehr erschreckte, als ich hörte, daß sich die amerikanischen Sachverständigen schon am zweiten Tag auf den Standpunkt stellten, es sei überhaupt keine Grenze unserer Leistungsfähigkeit gegeben. Ich habe die Herren Unterhändler beschworen, mit der ganzen Kraft ihrer Darlegungen die Herren davon zu überzeugen, daß dem nicht so ist. Es ist ihnen nur schlecht gelungen. Es ist zu bedenken, daß die ganzen Micumbelastungen, die monatlich schon auf 60 Millionen geschätzt werden, schon dadurch abgelöst werden. Das ist schon über eine halbe Milliarde. Die ganzen Besatzungskosten hören auf. Sie haben jetzt schon 60 Millionen betragen, ganz abgesehen von den Kasernenbauten. Sie kommen damit an 80 und 100 Millionen heran. Wenn wir das aufs Jahr berechnen, ergibt sich ein Betrag von über ½ Milliarde. Alles das, was wir bisher schon geleistet haben, muß also von diesen 2½ Milliarden reduziert werden. Diese Einrechnung wird ferner den großen Vorteil haben, daß unsere Gegner in ihren Ansprüchen vorsichtiger sein werden, weil eben jetzt alles auf Reparationskonto geht. Sie werden sich manches überlegen, was sie jetzt glauben, uns zumuten zu können.

ReichsverkehrsministerOeser: Wenn ich den Auseinandersetzungen zugehört habe, hatte ich manchmal den Eindruck, als ob die Meinung entstanden sei, daß die Reichsregierung mit einem gewissen Vergnügen an die Lösung des Reparationsproblems herangegangen wäre. So ist die Sache nicht aufzufassen. Die Liquidation eines Krieges von 4½ Jahren mit ihren Folgen ist für den unterlegenen Staat immer eine schwere und schmerzliche Aufgabe. Sie dürfen überzeugt sein, daß diesen Schmerz und die Schwierigkeit jeder von uns[846] empfindet. Die Frage ist für uns immer nur die gewesen, was im Interesse des Reiches besser ist.

Gerade für die Eisenbahn ist die Lösung deshalb eine viel schmerzlichere, weil wir annehmen konnten, daß mit der Rückkehr gesunder Verhältnisse die Eisenbahn dem Reich wieder eine kräftige finanzielle Stütze werden würde. Das ist nun nach dem Sachverständigengutachten ausgeschlossen, weil die Leistungen der Eisenbahn in erster Linie für die Reparationen genommen werden müssen. Allerdings kann man die Erwägung anstellen, daß, wenn die Reparationen nicht direkt auf die Reichsbahnen gelegt worden wären, es doch notwendig gewesen wäre, die Reichsbahnen zu der finanziellen Leistung heranzuziehen. Der Unterschied ist also nur der, daß wir jetzt mit bestimmten Lasten zu rechnen haben, die direkt abfließen, während sonst das Reich hätte beisteuern müssen.

Nun liegen die Dinge so, meine verehrten Anwesenden, daß wir auch in der Eisenbahn ein großes Ziel haben. Wir können auf die Dauer nicht ohne die Wiedervereinigung der Reichsbahnen leben. Ohne die Ruhr ist eine blühende Reichsbahn auf die Dauer nicht möglich. Wir müssen uns also bemühen, die Ruhr vollständig freizubekommen. Sie haben aus den Darlegungen des Herrn Staatssekretärs gehört, daß dieses Ziel nur indirekt132 in das Gesetz hineingeschrieben worden ist, indem die Befreiung der Ruhr eine der Voraussetzungen ist, unter denen die neue Betriebsgesellschaft in Kraft tritt. Sie wird und kann so lange nicht in Kraft treten, als diese Befreiung nicht gegeben ist.

132

In der Vorlage irrtümlich: „direkt“.

Nun glaube ich annehmen zu dürfen, daß die Beschwerde, die Exzellenz von Meinel hier über das Verhalten der Reichsbahn vorgebracht hat, nicht auf meine Amtsführung abgestellt ist. Ich gebe zu, daß die Länder früher berechtigte Beschwerden gehabt haben, und habe mich meinerseits ehrlich bemüht, diese Beschwerden durch eine Neuorganisation der Reichsbahn abzustellen. Ich glaube, es ist ein Erfolg der Verhandlungen, daß diese organisatorische Ausgestaltung in den Verhandlungen sichergestellt ist, insofern als das Organisationskomitee zugestimmt hat, daß wir in den organisatorischen Fragen vollständig freie Hand haben.

Die Bestimmung des § 26 des Gesetzes133 fußt in erster Linie auf dem Artikel 89 der Reichsverfassung, in dem bereits vorgeschrieben ist, daß die Reichsbahn als ein einheitliches Netz verwaltet werden soll. Also die Einheitlichkeit der Reichsbahn ist bereits ein Erfordernis der Verfassung. Sie wird in § 26 dahin präzisiert, daß zu dieser Einheit auch die finanzielle und tarifarische Gestaltung gehört. Das ist insofern logisch, als die Finanzen und die Tarife absolut miteinander verknüpft sind. Die Einnahmegestaltung beruht unmittelbar auf der Ausgestaltung der Tarife.

133

S. Anm. 116.

Nun sind die Länder, wie ich zugebe, in erster Linie daran interessiert, daß gewisse Tarife auch in Zukunft erhalten bleiben. Das sind nicht nur vom bayerischen Standpunkt aus die Staffeltarife, es sind die Ausfuhrtarife, die Binnenumschlagstarife. Ich will auch sagen, daß die Verwaltung nicht die[847] Absicht hat, an dieser Tarifgestaltung etwas zu ändern, daß hier die Bestimmung gilt, daß die Tarife, wie sie bei dem Inslebentreten der Gesellschaft vorhanden sind, auch die Grundlage der künftigen Gesellschaft bilden.

Natürlich müssen und können die Tarife abgeändert werden. Es ist ein lebhafter Wunsch nach einer Herabsetzung der Tarife. Diesen Wunsch teile ich durchaus. Ob und wie er möglich sein wird, läßt sich zurzeit noch nicht übersehen. Dabei ist wesentlich, daß wir die Einnahmen aus der Ruhr wiederbekommen, und wesentlich auch die Gestaltung der Preise, die wir unsererseits zu zahlen haben, auch wesentlich die Personalgestaltung.

Wir haben in der Eisenbahn vielleicht den sichersten Überblick über die Gestaltung der Wirtschaft. Wir bekommen aus ganz Deutschland die Einnahmen gemeldet, und je nach der Bewegung dieser Einnahmen haben wir das Bild, ob die Wirtschaft im Aufschwung oder im Niedergang ist. Wir haben vom November bis zu dem großen Streit an der Ruhr134 aufsteigende Einnahmen gehabt, also eine Belebung der deutschen Wirtschaft. Mit dem Streit an der Ruhr hat sich das Bild geändert. Seitdem sind die Eisenbahneinnahmen rückgängig. Wir haben im Mai geringere Einnahmen als im März gehabt und haben im Juni trotz der Pfingstfeiertage, die den Personenverkehr zur Blüte bringen, nur dieselben Einnahmen wieder wie im März gehabt. Daraus geht hervor, daß die Gütererzeugung rückläufig ist und namentlich auch die Eisenbahn in Mitleidenschaft gezogen wird. Auf der anderen Seite ist ein erheblicher Punkt bei uns die Gestaltung der Personalverhältnisse. Wir waren im April in der Ausgabe auf einen Tiefstand angelangt infolge des Abbaus und der schlechten Bezahlung. Seit der Zeit ist aber die Bezahlung erheblich aufgebessert worden. Mit dem Erfolg für die Eisenbahn, daß wir gegenwärtig im April eine Jahresausgabe an Personalkosten von 300 bis 400 Millionen Mark mehr haben, also beinahe das Doppelte, was wir im ersten Jahr an Reparationen zu zahlen haben. Das wirkt natürlich auf die Finanzgebarung der Reichseisenbahn in dem stärksten Maße ein.

134

Gemeint ist der Arbeitskonflikt im Ruhrbergbau im Mai 1924.

Nun kommt ein drittes Moment hinzu. Das ist, daß wir gegenwärtig nicht in der Lage sind, Anleihen aufzunehmen. Wir haben mit Amerika über eine Anleihe von 200 Millionen Mark verhandelt, die in ziemlicher Aussicht stand. Die Reparationskommission hat die Zustimmung dazu nicht erteilt. Wir müssen also auch das Extraordinarium aus den eigenen Einnahmen gegenwärtig abdecken und uns deshalb im Bau äußerste Zurückhaltung auferlegen. Also ist gegenwärtig die Möglichkeit einer Tarifänderung im größeren Maßstabe nicht gegeben.

Wir haben uns aber sehr stark bemüht, der Wirtschaft eine Erleichterung durch die Wiedereinführung der Ausnahmetarife zu bieten, vor allen Dingen der Ausfuhrtarife, Wiedereinführung der Binnenumschlagstarife, und überlegen gegenwärtig, ob uns die Ermäßigung des Kohlenpreises an der Ruhr135 die Möglichkeit gibt, für die Ruhrkohle eine gewisse Erleichterung einzuführen.

135

S. Dok. Nr. 239, Anm. 6.

[848] Nun ist man vielfach der Meinung, daß mit der neuen Gesellschaft für die Tarifgestaltung der Eisenbahn sich außerordentliche Schwierigkeiten ergeben werden. Diese Schwierigkeiten lassen sich nicht verkennen, insofern als die Eisenbahn ganz bestimmte Beträge herauswirtschaften muß. Wir werden uns bemühen, diese Beträge in erster Linie durch die Neuorganisation, durch äußerste Sparsamkeit, durch die Dezentralisation, auch eine finanzielle Dezentralisation herauszuwirtschaften und hoffen, damit Erfolge zu haben. Aber immerhin bleibt bestehen, daß wir im Maximum 660 Millionen Mark jährlich herauszuarbeiten haben. Daraus folgen Erschwerungen in der Tarifgestaltung. Aber in formeller Hinsicht kann ich mich nicht überzeugen, daß die Tarifgestaltung künftig aus der Hand der Verwaltung und der Reichsregierung herausgleiten wird.

Die jetzt getroffenen Bestimmungen gehen dahin, daß mitwirkend sind der Generaldirektor, der Verwaltungsrat und die Reichsregierung. Der Generaldirektor hat auch nach dem Statut die volkswirtschaftlichen Interessen mit wahrzunehmen. Die Reichsregierung wird sicherlich einer vernünftigen Tarifgestaltung nicht entgegentreten. Bliebe der Verwaltungsrat. In dem Verwaltungsrat wird mindestens in den ersten Jahren eine sichere deutsche Mehrheit vorhanden sein, insofern als die Reichsregierung neun Mitglieder ernennt und von der anderen Seite zum mindesten eine gewisse moralische Bindung eingegangen ist, daß fünf von den neun Mitgliedern, die der Trust[ee] ernennt, Deutsche sein werden. Es sind auch schon bestimmte Namen genannt worden. Der Verwaltungsrat wird im wesentlichen aus Angehörigen der deutschen Wirtschaft bestehen. Das sind doch Herren, die an einer vernünftigen Tarifgestaltung interessiert sind. Wenn also mit Annahme des Sachverständigengutachtens der Verkehr einen Aufschwung erfährt und die Einnahmen, wie wir sie brauchten, sichergestellt sind, wird eine Ermäßigung der Tarife nach Maßgabe der volkswirtschaftlichen Interessen durchaus im Bereiche der Möglichkeit liegen. Ich sehe keine Hemmnisse, die dem entgegenstehen, außer den bereits erwähnten finanziellen Belastungen der Reichsbahn.

Man soll also, glaube ich, die Dinge auch nicht schwerer auffassen als sie sind, sondern annehmen, daß die Vernunft auch künftig siegen wird.

Daß die Lösung, wie sie uns jetzt vorliegt, ganz erhebliche Fortschritte gegenüber dem Sachverständigengutachten aufweist, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Es sind schwere Besorgnisse, die auch wir gehabt haben, beseitigt worden. Wir haben selbstverständlich es für unsere Pflicht gehalten, mit aller Energie und Vorsicht unter gründlichsten Vorbereitungen all die Punkte aufzuzeigen, in denen wir vom deutschen Standpunkte aus Wünsche haben mußten. Ich darf sagen, daß das, was wir uns vorgenommen hatten, in den Verhandlungen des Organisationskomitees erreicht worden ist, und daß wir den Herren, die diese schwierige Aufgabe auf sich genommen haben, nicht genug für die Umsicht und Energie danken können, die sie dabei haben obwalten lassen. Wir können heute sagen, daß im Augenblick die Reichsbahn ein deutsches Unternehmen bleibt, daß vor allen Dingen das Eigentum des Reichs sichergestellt ist, und daß, wenn es uns gelingt, diese Übergangsperiode zu überwinden, dann die Reichsbahn in die Hand des Reiches zurückkehrt, hoffentlich[849] unversehrt und vollständig intakt. Es ist ein außerordentlicher Fortschritt, daß die Stellung des internationalen Kommissars so eingeengt worden ist, daß heute von einem Hüter kaum noch die Rede sein kann. Die Befürchtung von Exzellenz Meinel, daß der Eisenbahnkommissar etwa Tarife für besondere Gegenden oder Güter diktieren könnte, ist solange ausgeschlossen, als wir imstande sind, die uns auferlegten Leistungen zu vollbringen. Der Eisenbahnkommissar hat solange nichts zu sagen und wird nur ein Beobachter sein, als wir unseren Verpflichtungen nachkommen. In dem Falle, daß uns ein Unglück treffen sollte, daß wir einmal nicht leisten könnten, ist hier auch Vorsorge getroffen, daß, sobald wir nachleisten, wir wieder in den unbeschränkten Besitz der Reichsbahn gelangen. Also das Problem ist heute im wesentlichen ein finanzielles, als solches schwer genug und an sich unerwünscht. Aber unter den obwaltenden Umständen ist die Regelung doch so getroffen worden, daß wir dabei noch glauben existieren zu können.

Bayerischer Handelsminister v. Meinel: Meine sehr geehrten Herren! Ich möchte die bedeutende Debatte nicht mit diesen Dingen aufhalten. Die Länder waren bisher nicht in der Lage, das Eisenbahngesetz und die Satzungen genau kennenzulernen. Das wird erste Voraussetzung dafür sein, wie sich die Länder in der Frage der Zustimmung, die, wie ich wohl annehmen darf, allseits für erforderlich gehalten wird, zu verhalten haben. Das, was Bayern vorschwebt, ist – das möchte ich nachdrücklich betonen – natürlich in gar keiner Weise, sich der Teilnahme an den Reparationsleistungen irgendwie entziehen zu wollen. Das, was uns im Geiste vorschwebt, ist ein bayerisches Netz in einem bayerischen System, welches seinen Teil der Reparationen natürlich voll aufbringt. Darüber kann es gar keinen Zweifel geben.

Nochmals aber möchte ich bitten, das eine Wort in § 26, das mir Verhandlungsmöglichkeiten zu verbauen scheint, „insbesondere“ opfern zu wollen. Ich gebe zu, die Reichsverfassung spricht von einem einheitlichen Netz. Aber es ist kein Anlaß, in diesem Eisenbahngesetz, das ja die Beziehungen mit dem Organisationskomitee regelt, das zu wiederholen und weiterzugehen als das Sachverständigengutachten. […]

Hessischer Staatspräsident Ulrich: Ich halte es doch für sehr bedenklich, wenn Bayern ein besonderes Huhn gebraten bekommt. Dann würden auch sofort die anderen kommen. Ich habe schon gehört, daß man sich auch in Preußen dann sofort melden würde. Ich habe weiter mitzuteilen, daß wir uns in Hessen, die wir unsere alten Ludwigsbahnverhältnisse im Auge haben, natürlich auch melden müßten. Das wäre ein Unglück. Deshalb möchte ich nicht, daß sich die Reichsregierung etwa in der Weise breitschlagen ließe, den Bayern etwas Besonderes zukommen zu lassen. Wird das geschehen, dann haben wir nachher den Salat, und dann müßten wir von neuem anfangen. Ob dann unsere Vertreter in der internationalen Kommission in der Lage sein werden, mit dem Erfolg zu arbeiten, wie sie bisher gearbeitet haben, halte ich für sehr fraglich. Ich möchte deshalb schon bitten, so gern ich sehen möchte, daß wir selber eine größere Eisenbahnrolle spielen könnten, darauf nicht einzugehen, daß wir mit[850] Bayern eine Ausnahme machen; denn das hält sich nicht und kann sich nicht halten.

Bayerischer Handelsminister v. Meinel: Damit kein Mißverständnis aufkommt, selbstverständlich gönnt Bayern jedem anderen Lande, das das Bedürfnis hat, wenn ich mich so ausdrücken darf, die gleiche Portion Salat, wie es selbst für sich erbitten möchte. Was wir wollen ist, daß für die Verhandlungen mit den Ländern, die wahrscheinlich einheitlich geführt werden, in aller Offenheit hier nicht Wege unnötig verbaut werden. Der Herr Reichsverkehrsminister hat ja von seiner Absicht gesprochen, auch auf finanziellem Gebiet zu dezentralisieren. Auch das wird natürlich keineswegs allein für Bayern gefordert und auch nicht für Bayern allein eintreten. Über all diese Dinge muß man zwischen dem Reich und den Ländern sprechen. Ich habe eingangs schon gesagt, etwas Besonderes will Bayern nicht, aber in den Grenzen der durch die außenpolitischen Interessen des Reiches und durch das einheitliche tarifarische und finanzielle Vorgehen gebotenen Möglichkeiten möchten wir tunlichste Berücksichtigung aller Länder erbitten. Dadurch wird eine freudige Zusammenarbeit auf diesem Verkehrsgebiete garantiert, und nach meiner Ansicht nur dadurch.

ReichsverkehrsministerOeser: Was der Herr Staatspräsident von Hessen gesagt hat, ist richtig. Auch die Preußische Regierung hat bereits angemeldet, daß sie wegen der Realisierung des Sachverständigengutachtens zwar keinerlei Schwierigkeiten zu machen gedenke, daß sie aber in dem Falle, daß irgendeinem Lande auf Eisenbahngebiete Zugeständnisse gemacht würden, dieselben Zugeständnisse für sich in Anspruch nimmt136.

136

Vgl. das Schreiben des PrMinPräs. an den RK vom 20. 6.: Dok. Nr. 228, Anm. 14.

Ich darf ferner aus den Verhandlungen im Organisationsausschuß vertraulich mitteilen, daß Herr William Acworth gesagt hat: Wenn die Reichsregierung irgendeine selbständige Betriebsgesellschaft schafft, bin ich von meiner Regierung beauftragt, dasselbe für die Ruhr zu verlangen. Eine Erklärung, die für uns doch von erheblicher Bedeutung ist. Aber ich entnehme aus den Ausführungen des verehrten bayerischen Landesministers, daß auch Bayern diese außenpolitischen Belange seinerseits anerkennt. Ich bin meinerseits selbstverständlich bereit, in Beratungen mit den Ländern über die weitere Gestaltung in Verhandlungen einzutreten. Wir müssen diese Verhandlungen möglichst führen, bevor die Vorlage an den Reichstag gekommen ist. Bisher ist es nicht möglich gewesen, die Vorlagen, die ja in der zweiten Lesung erst heute fertiggestellt worden sind, den Herren zugänglich zu machen. Erfahrungsgemäß ist die Vertraulichkeit sehr schwer zu wahren, wenn derartige Schriftstücke in den Geschäftsgang gegeben werden. Wir haben die lebhafte Besorgnis, daß, wenn diese Dinge heute an die Öffentlichkeit kommen, sich in Frankreich, in Belgien oder sonstwo ein Widerspruch gegen diese Bestimmungen regen könnte, der für uns äußerst unerwünscht wäre. Wir möchten deshalb die Vorlage gern[851] durch die Reparationskommission gebracht haben, bevor wir die Öffentlichkeit direkt oder indirekt unterrichten. Es ist uns zugesagt worden, daß, wenn das Organisationskomitee einstimmig seine Beschlüsse faßt, dann die Reparationskommission die Vorlagen sehr schnell erledigen wird und ihrerseits kein Bedenken mehr zu erheben beabsichtigt. Auch das ist von großem Werte.

Wir werden die Gelegenheit finden, die vorhandenen Wünsche zu debattieren. Hier kommen § 8 des Ländervertrages137 und Art. 89 der Reichsverfassung in Betracht. Hierüber haben wir ein Gutachten des Reichsjustizministeriums einverlangt. Dieses Gutachten soll, wie ich eben höre, fertig sein138. Ich habe es noch nicht gesehen. Sie dürfen aber versichert sein, daß die Reichsregierung diese Frage in voller Objektivität und voller Loyalität prüfen wird und daß sie durchaus das Bestreben hat, mit den Ländern zu einer Verständigung auf einer auch für die Reichsregierung annehmbaren Basis zu kommen, und daß wir nicht die Absicht haben, irgendwie über das Votum der Länder hinwegzugehen.

137

§ 8 des Gesetzes betr. den Staatsvertrag über den Übergang der Staatseisenbahnen auf das Reich vom 30.4.20 bestimmt, daß das Reich zu einer Veräußerung oder Verpfändung der Eisenbahnen die Zustimmung der Landesregierungen einholen muß (RGBl. S. 777 ).

138

In R 43 I nicht ermittelt.

ReichskanzlerMarx: Ich glaube, es wird sich empfehlen, wenn über diese Dinge die Besprechung zwischen den Ländern und den dafür in Betracht kommenden Herren jetzt stattfindet. Wir haben das ja in Aussicht gestellt. Wo eben die zweite Lesung zu Ende ist, wird sich in absehbarer Zeit schon Gelegenheit finden. […]

Bayerischer Ministerpräsident Held: Ich bin etwas unangenehm überrascht über die Tatsache, daß in dem Augenblick, als von Bayern ein meiner Auffassung nach durchaus berechtigter Wunsch ausgesprochen wird, sofort von meinen Herren Kollegen aus anderen süddeutschen Ländern dagegen Sturm gelaufen wird. Man muß auch die Erfahrung etwas in Betracht ziehen, die wir seit dem Übergang der Eisenbahn in Bayern gemacht haben. Da ich Mitglied des Reichseisenbahnrates und auch des Ständigen Ausschusses war, kann ich vielleicht am besten darüber Auskunft geben. Ich will das heute nicht tun, sondern nur das eine sagen: Da nach dem Übergangsvertrag die Zustimmung der einzelnen Staaten zu dem Akt, der vorgenommen werden soll, zweifellos notwendig ist, dürfen Sie doch angesichts der Erfahrung, die wir bisher schon gemacht haben, als das Reich noch an der Stelle der Aktiengesellschaft stand, die in der Zukunft kommen soll, verstehen, daß wir alle Vorsicht walten lassen müssen, damit wir nicht bei uns in schwierigere Verhältnisse hineinkommen, als wir ohnehin in den letzten drei Jahren schon gekommen waren. Wenn wir heute an den bayerischen Landtag herantreten und von ihm verlangen müssen, der Regierung die Ermächtigung zur Zustimmung zu geben, dann wird uns im bayerischen Landtage, ich möchte meinen, fast einmütig unter den Erfahrungen der letzten Jahre gesagt werden: Wenn die und die Voraussetzungen nicht für[852] unsere Sicherheit getroffen sind, sind wir nicht in der Lage, Euch die Ermächtigung zu geben.

Deshalb bitte ich, den Wunsch recht ernst zu nehmen, den der Herr Handelsminister hier geltend gemacht hat. Wir sind der besten Absicht, aber wir können diese Absicht hier nicht durchführen, wenn wir nicht in der Lage sind, unserem Landtage gewisse Garantien zu geben, und diese Garantien scheinen mir nach dem bisherigen Gang der Verhältnisse uns nicht gegeben werden zu sollen. Denn würden sie gegeben werden wollen, dann würde ich es für richtig halten, daß wenigstens dem einen Wunsche Rechnung getragen wird, daß in der neuen Bestimmung des Statuts nicht unterschieden wird einmal, daß die allgemeine Einheitlichkeit des Verkehrssystems in Deutschland gewahrt werden muß, sondern aber auch noch speziell auf die Tarife und auf den Betrieb selbst abgehoben ist. Damit scheint man gerade das, was wir in Bayern wollen, von vornherein verbauen zu wollen. Dagegen haben wir uns gewandt.

Es handelt sich gar nicht um eine Sache, die etwa partikularistisch eingestellt ist, sondern bei uns in Bayern handelt es sich um Leben und Sterben im Verkehr und um den Aufbau unserer ganzen Wirtschaft. Wir haben in den letzten Jahren als peripher gelegenes Land am allerschwersten unter der ganzen Frachtentwicklung gelitten, vielleicht als einziges Land in Deutschland noch Ostpreußen, was auch gelitten hat, aber von dort kommen genau dieselben Klagen. Wenn Sie dazunehmen, daß wir eine ganz andere geschichtliche Entwicklung haben, bis 1921 vollständig Herr über unsere Bahnen waren und unabhängig von der übrigen Bahn im Reich eine ganze Reihe von kleineren Vergünstigungen in der Frachtgewährung unserer Wirtschaft zugestehen konnten, die heute alle genommen sind, dann werden Sie doch begreifen, in welcher Lage sich unsere gesamte Wirtschaft befindet. Es ist nicht so, daß die Dinge von uns politisch betrachtet werden. Wenn Sie genau unterrichtet wären, wüßten Sie, daß in Bayern gerade aus den Wirtschaftskreisen heraus die allerschwersten Bedenken geltend gemacht werden, und daß die gesamte Wirtschaft es ist, die Großindustrie, die Landwirtschaft und die mittlere Wirtschaft, die von uns dringend verlangt, diese Sicherheiten zu erreichen und die sagen wird: Wenn dieses Mindestmaß von Sicherheiten für die Zukunft nicht erreicht wird, begeht ihr den größten Verrat an eurem eigenen Lande und an eurer Wirtschaft, wenn ihr die Zustimmung gebt. Ich sage das ganz offen, damit die Herren sehen, wie bei uns die Verhältnisse sind. Nicht aus einer inneren Abneigung gegen die DRB oder weil wir verkennen, in welcher Zwangslage sich das Reich im Augenblick befindet, sondern weil wir wissen, was für unser eigenes Land auf dem Spiele steht einem neuen Partner gegenüber, deshalb müssen wir dringend wünschen, daß uns alle Garantien gegeben werden, die es uns ermöglichen, von unserem Landtage mit einiger Aussicht auf Erfolg diese Ermächtigung zu erbitten.

ReichsverkehrsministerOeser: Ich weiß nicht, ob es angemessen ist, jetzt in Einzelheiten einzutreten. Ich glaube, das wird besser einer besonderen Verhandlung vorbehalten, zu der wir durchaus bereit sind. Wir sind auch bereit, mit der Entente noch einmal über den § 26 zu verhandeln, ob eine andere[853] Fassung gegeben werden kann. Ich muß aber bemerken, daß das Verlangen nach einer finanziellen und tarifarischen Einheit von den ausländischen Sachverständigen gefordert worden ist, weil sie sagen: Für uns handelt es sich darum, die Reparationslasten sicherzustellen; und sie können nur sichergestellt werden, wenn die finanzielle und tarifarische Einheit der Reichsbahn gegeben ist.

ReichskanzlerMarx: Ich möchte dem durchaus zustimmen, was der Reichsverkehrsminister gesagt hat. Diese Fragen werden wir am besten auf die Verhandlungen zwischen der Verkehrsverwaltung und den einzelnen Ländervertretern beschränken. Wenn wir uns jetzt auf diese Einzelheiten einlassen, werden wir uns auf Irrwege begeben, die nicht zum Ziele führen. Es ist aber gut, daß der Standpunkt klargestellt worden ist. Zugleich ist dargetan worden, welchen Widerspruch sofort eine Sonderbehandlung bei den übrigen beteiligten Ländern erfahren wird. Das ist die Schwierigkeit, die mit diesen Dingen verknüpft ist.

Wir wären dann am Schluß unserer Besprechung, wenn nicht noch jemand irgend noch etwas vorzubringen hat. Ich habe die Empfindung, daß diese Besprechung uns doch einen bedeutenden Schritt weiter geführt hat. Ich kann nur wiederholen, was ich schon bei früherer Gelegenheit gesagt habe. Auch wenn wir über diese schwierigen Fragen hinweg sind, ist es dringend notwendig, daß wir von Zeit zu Zeit, auch wenn die Herren im Reichsrat zusammenkommen, uns in diesem Kreise öfter zusammenfinden, um laufende politische Fragen zu erledigen. Es kann sein, daß das meinem Temperament und meiner Auffassung als jetzt schon silbergrauem Parlamentarier entspricht, aber ich muß sagen, mit Besprechungen kommt man immer weiter, wenn man sich einmal mit Männern zusammensetzt, die dasselbe Ziel im Auge haben, für unser armes Reich und Volk zu sorgen. Wenn sich vielleicht auch in manchen Punkten die Meinungen gegenüberstehen, aber man versteht sich gegenseitig, und es werden immer sehr wertvolle Anregungen aus solchen Zusammenkünften gezogen. Für die Reichsregierung ist die Empfindung zweifellos außerordentlich beruhigend, daß wir, wenn ich vielleicht den mecklenburgischen Herrn Vertreter ausnehmen darf, alle darin einig sind, daß der Reichsregierung aus diesem Kreise beigestimmt wird, daß wir auf dem richtigen Wege gewesen sind und daß wir jetzt alles daran setzen, um möglichst bald die Entwürfe fertigzustellen, um das Gutachten zur Ausführung zu bringen. Ich muß es als eine Selbstverständlichkeit für die Reichsregierung betrachten, wie ich es auch im Reichstag als ganz selbstverständlich hingestellt habe139, daß die Fragen, die uns allen gleichmäßig am Herzen liegen, die Frage der Freiheit der Ruhr, der Erledigung der Kriegsschuld und was damit in Verbindung steht, von der Reichsregierung und von den Vertretern, die wir nach London schicken werden, mit der größten Entschiedenheit, wenn eben eine Möglichkeit dazu vorhanden ist, vertreten werden. Das ist[854] ganz selbstverständlich. Aber ich will immer wieder als ganz offener Mann sagen: Es darf unter keinen Umständen daran irgendwie das Zustandekommen des Gutachtens scheitern. Es muß den Verhandlungen überlassen werden, den Zeitpunkt und die Art und Weise zu finden, um diese Wünsche darzustellen. Aber in dem Ziel sind wir durchaus einig. Es muß eben den einzelnen Herren, die das Reich zu vertreten haben, überlassen werden, nach der Entwicklung der Dinge dort den besten Weg zu suchen, um zu diesem Ziel zu gelangen. Ich glaube, Herr Dr. Stresemann hat eine Reihe von Möglichkeiten angegeben, um auch auf dem Gebiete der Kriegsschuldfrage zu einem allseitig befriedigenden Resultat zu kommen.

139

Vgl. die Erklärungen des RK vor dem RT am 4. und 5. 6., RT-Bd. 381, S. 103  ff., 117.

Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin Freiherr v. Brandenstein: Bezüglich der Vertraulichkeit möchte ich mir noch ein Wort erlauben. Es ist für mich unendlich schwer, die Vertraulichkeit zuhause so absolut zu wahren, daß ich kein Wort über das, was hier besprochen worden ist, sage. Ich muß doch wohl dazu berechtigt sein, im engsten Rahmen auch im vertrauten Kreise der Landtagsparteien mich über meine Stellungnahme, die ich eingenommen habe, zu äußern. Ich nehme an, daß da keine Bedenken bestehen. Ich werde selbstverständlich die Vertraulichkeit aufs weitgehendste beachten. Ich bin mir bewußt und ganz klar darüber, daß die Vertraulichkeit auch nach dieser Richtung hin in ganz wesentlichen Punkten gewahrt werden muß, aber ich möchte jedenfalls für mich in Anspruch nehmen, meine Stellungnahme hier in meinem Kreise zuhause zum Ausdruck bringen zu können.

ReichskanzlerMarx: Ich möchte darauf folgendes erwidern: Das ist ja alles mit der nötigen Unterscheidung zu verstehen. Unter allen Umständen muß Wert darauf gelegt werden, daß nicht über diese Mitteilungen von den Ländern und über eine ganze Reihe von Mitteilungen, die der Herr Reichsaußenminister gemacht hat, gesprochen wird. Dann muß man auch vermeiden, daß von Einzelpersonen geredet wird, daß der und der das und das gesagt habe. Aber wenn z. B. der Herr Baron von Brandenstein seine eigene Meinung dort vorträgt, so kann dem m. E. durchaus kein Bedenken entgegengestellt werden. Sie können auch die Gründe anführen, die von der Reichsregierung vorgebracht worden sind. Das ist ja der Zweck der Übung. Darauf bezieht sich also die Vertraulichkeit nicht. Das muß dem Ermessen der einzelnen Beurteilung überlassen bleiben. Das muß natürlich mit dem nötigen Geschick gemacht werden. Die absolute Vertraulichkeit möchte nur gewahrt werden bezüglich der die Außenpolitik betreffenden Maßnahmen und auch in der Bezugnahme auf die einzelnen Persönlichkeiten. Das ist das, was dem Gang der Dinge schädlich entgegensteht. Aber die sachliche Berichterstattung über das, was sachlich behandelt worden ist, kann mit der nötigen Vertraulichkeit geschehen, namentlich in den verschiedenen Gesichtspunkten, die hier in Betracht gezogen woden sind.

[Über die Frage der Vertraulichkeit schließt sich eine längere Debatte an. Es wird nochmals klargestellt, daß die als vertraulich bezeichneten Ausführungen, besonders über außenpolitische Vorgänge, nicht weitergegeben werden[855] dürfen. Die Presse werde von der RReg. eine Mitteilung erhalten140. Der RK schließt die Sitzung um 18 Uhr.]

140

Über diese Besprechung wird folgende WTB-Meldung verbreitet: „Die RReg. beriet in eingehenden Erörterungen mit den Staats- und Ministerpräsidenten der Länder die politische Lage unter besonderer Berücksichtigung der Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens. Mit Ausnahme des Vertreters von Mecklenburg-Schwerin erkannten alle Chefs der Landesregierungen trotz schwerwiegender Bedenken gegen manche in dem Gutachten enthaltenen Forderungen erneut das Vorgehen der RReg., die baldige Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens zu erreichen, als richtig an.“ (nach DAZ Nr. 310 vom 4. 7.).

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