1.61.1 (ma12p): [Ruhrräumung.]

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RTF

[Ruhrräumung.]

Der Reichspräsident teilte mit, daß er mit dem Vizekanzler übereingekommen sei, mit Rücksicht auf die Entwicklung der Verhandlungen in London diese Besprechung zu veranlassen.

Der Vizekanzler berichtete über die Lage. Die Frage der militärischen Räumung sei in ein akutes Stadium getreten2. Herriot habe erklärt, daß er an einer einjährigen Räumungsfrist festhalten müsse und Zugeständnisse bezüglich der Art der Räumung während dieser Zeit nicht machen könne. Die Deutsche Delegation habe diesen Vorschlag für unannehmbar erklärt und den französisch-belgischen Delegierten mitgeteilt, daß sie sich an den Reichspräsidenten mit der Bitte um Entscheidung wenden werde.

2

Mit Telegramm Nr. 52 vom 13. 8. aus London an AA für Rkei, RPräs. und Kabinett hatte der RK über die Besprechungen mit der frz. und belg. Delegation am 13. 8. (s. Anhang, Dok. Nr. 5 und 6) berichtet: In der Vormittagsbesprechung habe Herriot erklärt, daß er keinerlei Verpflichtung zur Räumung des Ruhrgebiets vor Ablauf eines Jahres übernehmen könne; die einzige Bedingung, auf die er sich einlassen könne, laute: „Maximum-Frist ein Jahr“. In der Nachmittagssitzung habe die dt. Delegation erwidert, daß diese Frist zu lang sei und daß alsbald mit einer Teilräumung begonnen werden müsse. Die Aussprache sei jedoch ergebnislos geblieben. Herriot habe wiederholt betont, daß er z. Zt. nicht weiter entgegenkommen könne. Die dt. Delegation habe erklärt, daß sie den Herriotschen Vorschlag nicht annehmen könne und nach Berlin berichten müsse (R 43 I /266 , Bl. 162).

Mit Telegramm Nr. 55 vom 13. 8. übermittelte der RK eine vertrauliche Erklärung Herriots zur Ruhrräumung (s. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 43).

In Telegramm Nr. 56 vom 13. 8. (London ab: 14. 8., 0.20 Uhr) faßt der RK die Stellungnahme der Delegation wie folgt zusammen: „Delegation ist der Überzeugung, daß Vorschlag Herriots in dieser Form unannehmbar ist. Verhandlungen dürfen aber nicht abgebrochen werden.“ Der RAM werde voraussichtlich noch heute mit MacDonald die Lage besprechen. Nach dieser und anderer Fühlungnahme werde die Ausarbeitung von Gegenvorschlägen erwogen, die sich innerhalb der vom Kabinett und RPräs. erteilten Richtlinien bewegen würden. „Bitte um Ermächtigung, vorliegenden Vorschlag von Herriot im Namen des RPräs. ablehnen und die nach der Situation gebotenen Verhandlungen von hier aus innerhalb der Richtlinien weiterführen zu können.“ (R 43 I /266 , Bl. 164-166).

Der Reichsarbeitsminister glaubte, daß es taktisch richtig sei, wenn die Deutsche Delegation die handelspolitischen Fragen nicht zum Schacherobjekt für die Ruhrräumung mache3. Dieser Standpunkt sei möglich mit der Begründung, daß in demselben Augenblick, wo wir Frankreich Konzessionen machten, auch anderen Ländern auf diesem Gebiete Konzessionen gemacht werden müßten.[953] Bei diesem Vorgehen bleibe nur noch die eigentliche Räumungsfrage übrig. Er glaube, daß in der Terminfrage ein Nachgeben möglich sei, wenn es gelänge, die Besatzung unsichtbar zu machen, die Besatzungsmethoden also zu ändern. Zu einem Vergleich müßten wir kommen. Dabei sei es taktisch vielleicht richtig, wenn die deutschen Delegierten den Herriotschen Vorschlag zunächst ablehnten. Gleichzeitig müsse allerdings eine andere Stelle um Vermittlung angegangen werden. Unter dieser Voraussetzung könnte das Kabinett auch mit der Ablehnung einverstanden sein.

3

Vgl. Anhang, Dok. Nr. 3.

Der Reichsverkehrsminister glaubte ebenfalls sich Formen denken zu können, unter denen eine weitere Besatzung noch tragbar wäre. Wenn er die Wahl habe zwischen einer kürzeren Besatzung und weitgehenden politischen Zugeständnissen und einem längeren Verbleiben der Besatzung ohne diese Zugeständnisse, so würde er den letzteren Weg wählen. Die Delegation verfahre allerdings richtig, wenn sie zunächst einmal den Herriotschen Vorschlag ablehne. Für diese Ablehnung müßten wir unsere Unterstützung geben.

Der Reichspostminister Die Öffentlichkeit betrachte die Räumungsfrage rein gefühlsmäßig. Er fürchte, daß daher eine zu lange Räumungsfrist von der öffentlichen Meinung nicht ertragen werde. Gleichwohl sei er der Meinung, daß die großen wirtschaftlichen Zugeständnisse vermeidbar wären, wenn man sich mit einer etwas längeren Räumungsfrist einverstanden erklärte. Die Besatzungsmethoden müßten dabei allerdings geändert werden. Er empfehle, der Delegation zu erkennen zu geben, daß das Kabinett dem Herriotschen Vorschlag nicht zustimme, daß aber die Verhandlungen unter allen Umständen weitergeführt werden müßten.

Der Vizekanzler war der Auffassung, daß die von der Delegation gewünschte Ermächtigung erteilt werden müsse. An einen Abbruch der Verhandlungen denke auch die Delegation nicht. Gegenvorschläge von hier aus könnten nicht gemacht werden. Bezüglich der Art der künftigen Besatzung sei er skeptischer als der Reichsarbeitsminister. Ihm scheine es vor allem darauf anzukommen, daß zunächst einmal kurze und feste Räumungsfristen festgelegt würden. Solange die Besatzung bliebe, werde auch der unerträgliche Zustand bleiben. Wirtschaftliche Konzessionen würden wir auch dann zu machen haben, wenn die Besatzung bleibe. Wenn es nicht gelänge, einen absehbaren Räumungstermin festzulegen, würden wir aus dem Elend nicht herauskommen. Er sei der Meinung, daß das Faktum der Räumung auch unter wirtschaftlichen Opfern herbeigeführt werden solle.

Der Reichswirtschaftsminister stimmte dem Vizekanzler zu. Die Auffassung, lieber Verlängerung der Besatzung als wirtschaftliche Zugeständnisse, könne er nicht teilen. Wenn die Franzosen mit der weiteren Besatzung nicht dauernd einen Druck ausüben wollten, hätte ja diese Besatzung keinen Sinn. Daß London nicht scheitern dürfe und wohl auch gar nicht scheitern könne, das sei gemeinsame Auffassung. Wenn eine Anregung nach London gegeben werden könne, so vielleicht die, daß man nochmals darauf hinweise, daß die militärische Räumung nicht durch zu hohe wirtschaftliche Zugeständnisse erkauft werden dürfe und weiter, entsprechend der Auffassung des Reichsarbeitsministers, daß unter allen Umständen die Besatzungsmethoden geändert werden müßten.

[954] Der Reichsarbeitsminister war auch der Meinung, daß es sich nur darum handeln könne, nach London Anregungen mitzuteilen. Zum Ausdruck kommen müsse allerdings die Auffassung des Kabinetts, daß an der Terminfrage die Konferenz nicht scheitern dürfe. Die Delegation müsse wissen, daß das Kabinett sie auf den 15. April nicht festgelegt habe. Die Räumungsfristen müßten unter allen Umständen definitiv und zwar bedingungslos festgelegt werden.

Staatssekretär Joel glaubte, daß es sich jetzt noch nicht um die letzte Entscheidung handle. Der Delegation müsse die Handlungsfreiheit gelassen werden, die sie für sich in Anspruch nehme. Die im Verlauf der Debatte angedeuteten Gegenvorschläge der Delegation zu übermitteln, halte er für bedenklich, vor allem den Vorschlag der unsichtbaren Besatzung. Um die handelspolitischen Konzessionen würden wir so oder so nicht herumkommen. Innenpolitisch halte er die Erstreckung der Räumungsfrist auf längere Zeit für nicht tragbar. Die Dreiviertelmehrheit im Reichstag sei dadurch gefährdet. Die außenpolitische Situation in dieser Frage sei für Deutschland sehr günstig. Frankreich werde es sich nicht leisten können, mit der Besatzungsfrage die Konferenz zum Scheitern zu bringen. Dem Standpunkt der Delegation sei ohne weiteres beizutreten; Konzessionsmöglichkeiten seien dabei von hier aus nicht anzudeuten.

Der Vizekanzler ging davon aus, daß nunmehr auch die Banken mit in die Verhandlungen eingeschaltet würden. Er schlug folgendes Telegramm vor: Reichspräsident und Kabinett mit dortigem Standpunkt einverstanden. Gewünschte Ermächtigung wird erteilt, legen jedoch entscheidenden Wert auf festen Räumungstermin, unabhängig von Bedingungen und Versprechungen, auch für Sanktionsgebiet.

Der Reichspräsident wünschte in dem Telegramm zum Ausdruck zu bringen, daß das Kabinett entscheidenden Wert darauf lege, daß die Verhandlungen nicht zum Scheitern kämen.

Der Reichsverkehrsminister empfahl die Antwort so zu stilisieren, daß sie offen vorgelegt werden könne. Daneben könne ein zweites Telegramm abgehen, das die nähere Stellungnahme des Kabinetts enthalte.

Ministerialdirektor Köpke teilte mit, daß die Handelsvertragsverhandlungen zunächst nicht mehr in Verbindung mit der Räumungsfrage geführt würden. Eine Änderung der Besatzungsmethode werde ohne Wirkung sein, da die Militärs selbständig handelten. Eine schiedsgerichtliche Entscheidung in der Räumungsfrage herbeizuführen halte er für ausgeschlossen, da es sich um Prestigefragen handele.

Der Reichsarbeitsminister trat der Anregung des Reichsverkehrsministers bei.

Der Reichspräsident glaubte, daß mit taktischen Ratschlägen von hier aus nicht gut operiert werden könne. Wie die sicherlich sorgfältig erwogenen taktischen Gesichtspunkte eingesetzt werden müßten, das müßte man der Delegation überlassen. In der Frage der Räumungsfrist halte sich Herriot durch den Ministerrat gebunden; die staffelweise Räumung scheine er sich allerdings noch vorzubehalten, und zwar für Verhandlungen über die Kontingentsfrage. Bei Abfassung des Telegramms müßte die innenpolitische Wirkung in Betracht[955] gezogen werden. Es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, daß es auf Biegen und Brechen stehe. Was an Anregungen vorgebracht worden sei, könne als besondere Information nach London gegeben werden.

Nach weiterer Aussprache über die Formulierung des Telegramms wurde beschlossen, zwei Telegramme abzusenden. Das erste soll folgenden Wortlaut haben:

Nach Anhörung des Reichskabinetts billige ich Stellungnahme der Delegation. Der vorliegende Vorschlag Herriots unannehmbar. Reichspräsident Ebert4.

4

Dieses Telegramm geht unchiffriert am 14. 8., 9.25 Uhr an den RK in London ab (R 43 I /266 , Bl. 75).

In dem zweiten Telegramm soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Verhandlungen nicht abgebrochen werden dürfen, ferner, daß feste Räumungstermine unter allen Umständen gefordert werden müssen und daß die Methoden der Besatzung erträglicher zu gestalten seien. Die erste Etappe der Räumung müsse in kürzester Zeit erfolgen5.

5

Dieses zweite, chiffrierte Telegramm, das am 14. 8., 11.55 Uhr an den RK und RAM in London abgeht, lautet: „Kabinett ist folgender Ansicht: Ablehnung Vorschlag Herriot hindert nicht Fortführung der Verhandlungen. Feste Termine für Räumung unter allen Umständen erforderlich. Jedenfalls während Dauer der Besatzung Erleichterung der Besatzungsmethoden anzustreben. Von größter Bedeutung ist, daß eine Etappe alsbald geräumt wird.“ (Pol. Arch. des AA: Büro RM, 5n, Londoner Konferenz 1924, Bd. 2).

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