1.1.4 (ma31p): 4. Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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4. Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik

Die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der Reichsregierung wurde weitgehend durch eine schwere Wirtschaftskrise bestimmt, die im Herbst 1925 eingesetzt hatte und sich in einer rapiden Zunahme der Betriebszusammenbrüche und der Arbeitslosigkeit äußerte. Auf dem Höhepunkt der „Reinigungskrise“ im Februar 1926 stieg die Zahl der von der Erwerbslosenfürsorge unterstützten Arbeitslosen auf mehr als zwei Millionen, und im Mai 1926, als das dritte Kabinett Marx die Regierungsgeschäfte übernahm, gab es immer noch 1,8 Millionen unterstützte Vollarbeitslose und etwa ebensoviele Kurzarbeiter. Zur Ankurbelung der Wirtschaft, zur Belebung von Produktion und Nachfrage hatte das zweite Kabinett Luther auf Initiative des Reichsfinanzministers Reinhold ein Steuersenkungsprogramm durchgeführt. Das nach mühevollen Kompromißverhandlungen mit den Parteien zustande gekommene Steuermilderungsgesetz vom 31. März 1926 brachte eine Senkung der Umsatzsteuer auf 0,75%, steuerliche Erleichterungen für wirtschaftlich gebotene Betriebszusammenschlüsse, eine Verminderung der Vermögensteuer in den unteren Stufen, die Beseitigung der Luxus- und Weinsteuer; auf dem Verordnungswege wurde außerdem die Börsenumsatzsteuer halbiert43.

43

Zur Steuersenkungsaktion siehe diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, S. LX ff.; Blaich, Die Wirtschaftskrise 1925/26 und die Reichsregierung, S. 106 ff.

Um den als Folge der Steuersenkungen erwarteten Einnahmeausfall von ca. 500 Millionen RM aufzufangen und den Haushalt für 1926 zu balancieren, griff Reinhold auf den hohen Einnahmeüberschuß zurück, den die Reichsfinanzverwaltung im Haushaltsjahr 1924 erzielt hatte und der 1925 größtenteils „thesauriert“ worden war. Es gehörte zu den Maximen des von Reinhold vertretenen Konzepts, die – auch reparationspolitisch bedenklichen – Überschüsse der Vorjahre mittels konjunkturbelebender Steuererleichterungen in den Wirtschaftskreislauf zurückzuleiten, die Ansammlung neuer Überschüsse nach Möglichkeit zu vermeiden und dergestalt eine Finanzpolitik „hart am Rande des Defizits“ zu treiben. Auch ging Reinhold dazu über, Ausgaben des außerordentlichen Haushalts durch Anleiheermächtigungen zu decken, die er sich von den gesetzgebenden Körperschaften bewilligen ließ.

Da die Wirtschaftsdepression jedoch während des Frühjahrs 1926 weiter anhielt, schmolzen die liquiden Kassenreserven des Reichs, die im Februar noch ca.[XXX] 1 Milliarde RM betragen hatten, vor allem wegen steigender Ausgaben für die Erwerbslosenfürsorge rasch zusammen. In dieser Situation sandte Reinhold am 21. Mai, wenige Tage nach dem Amtsantritt des Kabinetts Marx, an sämtliche Reichsminister ein Schreiben, in dem er davor warnte, die bisherige Praxis der Stützung notleidender Unternehmen und Wirtschaftszweige fortzusetzen, sonst gerate die Regierung bei den zu erwartenden Berufungen in eine verhängnisvolle „Subventionspolitik“; zugleich forderte Reinhold die Minister auf, den vom Reichstag vorbereiteten Anträgen auf Bewilligung neuer Ausgaben mit dem Hinweis auf die prekäre Lage der Reichsfinanzen entschieden entgegenzutreten; weitere Ausgabenerhöhungen würden den mit der Steuersenkungsaktion verfolgten Zweck beeinträchtigen, zu einem Haushaltsdefizit und einem „Schuldenmachen gefährlichster Art“ führen, zu dem er „unter gar keinen Umständen“ seine Hand bieten könne44.

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Dok. Nr. 7; dazu Dok. Nr. 16, P. 5.

Mit seinem Eintreten für strikte Ausgabenbegrenzung hatte Reinhold jedoch nur wenig Erfolg. Der von Parteien, Verbänden und Landesregierungen, aber auch von verschiedenen Reichsressorts erhobenen Forderung nach Durchführung von Stützungsmaßnahmen glaubte sich das Kabinett nicht verschließen zu dürfen. So ist die von früheren Reichsregierungen eingeleitete Politik der Subventionierung notleidender Großbetriebe, Erwerbszweige, Wirtschaftsregionen und Bevölkerungsgruppen mit Krediten, Ausfallgarantien und verlorenen Zuschüssen vom Kabinett Marx III fortgeführt worden, wobei neben ökonomischen und sozialen Motiven vielfach auch national-, wehr- und außenpolitische Argumente den Ausschlag gaben. So entschied sich das Kabinett, um einige Beispiele herauszugreifen, für die Subventionierung des Mannesmann-Konzerns, des Siegerländer Erzbergbaus, der Wirtschaft an der Saargrenze, der Schiffahrt und des Schiffbaus sowie der deutschen Minderheiten im ausland45. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das persönliche Engagement, mit dem Stresemann die Stützung der verschuldeten Werke der Brüder Mannesmann durchsetzte.

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Zur Stützung der Mannesmann-Werke: Dok. Nr. 5, P. 4; 27, P. 6; 39, P. 2; 45, P. 2; 75, P. 6; der Wirtschaft an der Saargrenze: Dok. Nr. 26, P. 4; des Siegerländer Erzbergbaus: Dok. Nr. 12, P. 1; der Schiffahrt und des Schiffbaus: Dok. Nr. 30, P. 3; 115, P. 1; 199, P. 2; des Deutschtums im europäischen Ausland: Dok. Nr. 174, P. 3.

Auf Betreiben des Wirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amts wurde die Exportförderung verstärkt in Angriff genommen. Im Juni 1926 konnten die Verhandlungen über das „Russengeschäft“ erfolgreich abgeschlossen werden, das die kreditfinanzierte, durch Reichs- und Ländergarantien abgesicherte Lieferung industrieller Ausrüstungen in die Sowjetunion im Gesamtwert von 300 Millionen RM vorsah46. Außerdem bewilligten Kabinett und Reichstag Kreditgarantien bis zu 175 Millionen RM zur Steigerung der Ausfuhr und zur Abdeckung von Exportrisiken47.

46

Dok. Nr. 8, P. 1; 26, P. 1; 37, P. 2.

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Dok. Nr. 124, P. 5.

Das Jahr 1926 markiert auch den Beginn einer verstärkten siedlungs- und grenzlandpolitischen Aktivität der Reichsregierung. Nachdem Verhandlungen zwischen dem Kabinett Luther und dem preußischen Staatsministerium über eine finanzielle Beteiligung des Reichs an der Ostsiedlung wegen verfassungsrechtlicher[XXXI] und organisatorischer Meinungsverschiedenheiten in eine Sackgasse geraten waren, bot eine Reichstagsentschließung vom 1. Juli 1926 die Grundlage für eine Verständigung: Die Reichsregierung wurde aufgefordert, für die landwirtschaftliche Siedlung in den bevölkerungsarmen Ostgebieten – vor allem Preußens – in den nächsten Jahren jeweils 50 Millionen RM bereitzustellen und diese Mittel in Zusammenarbeit mit den zuständigen Landesbehörden durch die Rentenbankkreditanstalt zu vergeben. Von den Reichs- und preußischen Ressorts wurden daraufhin Richtlinien über die Verteilung der Siedlungskredite vereinbart; trotzdem kam die Aktion erst nach einem erneuten, sich über mehrere Monate hinziehenden Kompetenzstreit in Gang48.

48

Dok. Nr. 34, P. 4; 92, P. 2 c; 192, P. 9.

Auf Antrag der preußischen Regierung und auf Drängen des Ostausschusses des Reichstags erklärte sich das Kabinett außerdem zur Finanzierung eines Ostprogramms bereit, das zur Beseitigung wirtschaftlicher und kultureller Notstände in den von der Versailler Grenzregelung besonders betroffenen preußischen Provinzen Ostpreußen, Schlesien und Grenzmark Posen-Westpreußen bestimmt war. Die für dieses „Sofortprogramm“ bewilligten Reichsgelder sollten zum Bau von Wohnungen, Schulen und Chausseen, zur Förderung sozialer und kultureller Einrichtungen sowie für Landwirtschafts- und Gewerbekredite eingesetzt werden. Bei den parlamentarischen Haushaltsberatungen hatte dann Finanzminister Reinhold erhebliche Mühe, die von den Parteien geforderte Erhöhung der Ausgaben für das Ostprogramm 1926 auf ein ihm vertretbar erscheinendes Maß zu reduzieren. Den Landesregierungen von Bayern, Sachsen und Baden, die eine Subventionierung auch ihrer Grenzgebiete aus Reichsmitteln verlangten, mußte Reinhold zusichern, daß ihre Wünsche im Grenzprogramm des nächsten Haushaltsjahres so weit wie möglich berücksichtigt würden49.

49

Dok. Nr. 81; 86; 152, P. 5 b; 154, P. 1 und 2.

Die bedeutendste, auch finanziell aufwendigste Aktion zur Krisenbekämpfung bildete zweifellos das vom Kabinett Marx in Angriff genommene Arbeitsbeschaffungsprogramm50. Die Regierung Luther hatte die Massenarbeitslosigkeit zunächst mit dem traditionellen Instrument der „produktiven Erwerbslosenfürsorge“, der Beschäftigung Arbeitsloser mit öffentlichen Notstandsarbeiten einzudämmen versucht. Dank zusätzlicher Reichskredite an die Länder und Gemeinden konnten die Notstandsarbeiten auch erheblich ausgeweitet werden. Da indes die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise im Frühsommer 1926 trotz saisonal günstiger Umstände fast unvermindert andauerte, sah sich das Kabinett Marx, nicht zuletzt auf Drängen des Reichstags, zu wirksameren beschäftigungspolitischen Initiativen veranlaßt. An Vorschläge des volkswirtschaftlichen Reichstagsausschusses sowie an Vorarbeiten der Regierung Luther anknüpfend, entwickelte Reichsarbeitsminister Brauns am 28. Juni im Kabinett und vor dem Reichstag die Grundzüge eines umfangreichen Arbeitsbeschaffungsprogramms, das auch die Zustimmung der Minister und des Parlaments fand. Es zielte darauf ab, durch vermehrte Aufträge der öffentlichen Hand insbesondere an die Schlüsselindustrien brachliegende Produktionskapazitäten[XXXII] auszulasten. Auf diese Weise hoffte man, in größerem Umfang neue Arbeitsplätze schaffen und darüber hinaus die Investitionstätigkeit der gesamten Wirtschaft anregen zu können. Das Programm umfaßte zusätzliche oder zeitlich vorgezogene Bau- und Beschaffungsaufträge der Reichsbahn und der Reichspost, den verstärkten Bau von städtischen Kleinwohnungen und von Landarbeitersiedlungen, von Kanälen und Straßen, außerdem die Fortführung der öffentlichen Notstandsarbeiten; nachträglich wurden auch Maßnahmen zur Förderung des Industrieexports wie das bereits erwähnte „Russengeschäft“ in das Programm aufgenommen. Mit der Ingangsetzung und Überwachung der Aktion beauftragte das Kabinett eine besondere Ministerialkommission unter der Leitung des Reichsarbeitsministeriums. Das Finanzierungsproblem wurde in der Weise gelöst, daß sich das Reich an den Investitionen der Reichsbahn, der Länder und anderer Träger der arbeitschaffenden Projekte durch Gewährung von Krediten oder Zuschüssen beteiligte51. Die Geldmittel, die allein das Reich im Haushaltsjahr 1926 aufzubringen hatte, wurden auf mehr als 600 Millionen RM veranschlagt52. Dieser für damalige Verhältnisse erhebliche Betrag ist jedoch nicht voll in Anspruch genommen worden, weil das Arbeitsbeschaffungsprogramm nicht in allen Teilbereichen im geplanten Umfang verwirklicht wurde. Die Gründe hierfür sind in Rentabilitätsbedenken, in bürokratischen Hemmungen und Ressortstreitigkeiten, vor allem aber in dem Umstand zu suchen, daß beim Anlaufen der Aktion im Herbst 1926 bereits ein neuer Konjunkturaufschwung einsetzte, der, nach einem saisonbedingten Rückschlag im folgenden Winter, in die industrielle Hochkonjunktur des Jahres 1927 einmündete. Infolgedessen erschienen massive staatliche Produktionsanreize zunehmend überflüssig. Über das Resultat des Arbeitsbeschaffungsprogramms von 1926, des einzigen dieser Art zwischen Währungsstabilisierung und Weltwirtschaftskrise, gingen die Meinungen auseinander. Während der volkswirtschaftliche Ausschuß des Reichstags in einer Resolution53 die schleppende und unvollständige Ausführung bemängelte, wertete die offizielle Denkschrift des Reichsarbeitsministers54 die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als erfolgreichen, wenn auch nicht exakt quantifizierbaren Beitrag zur schnelleren Überwindung der Depression und zur Entlastung des Arbeitsmarkts. Mit Recht hob die Denkschrift hervor, daß die sich abzeichnende konjunkturelle Erholung durch eine Reihe verschiedener Faktoren begünstigt worden sei. Hierzu gehörten – neben der Steuersenkungs- und Arbeitsbeschaffungspolitik der Reichsregierung – der von Mai bis November 1926 dauernde englische Bergarbeiterstreik, der kräftige Zustrom ausländischen Kapitals, die Ermäßigung des deutschen Zinsniveaus und die stufenweise Herabsetzung des Reichsbankdiskonts von 9% im Januar 1926 auf nur 5% im Januar 192755.

50

Eingehende Darstellung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Kontext der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Reichsregierung bei: Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung.

51

Dok. Nr. 40; 41; 53, P. 2; 62, P. 5; 67, P. 4; 92, P. 2.

52

Nach der „Denkschrift über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Reichsregierung“, die der RArbM am 19.1.1927 dem RT vorlegte: RT-Bd. 413 , Drucks. Nr. 2921 .

53

Mündl. Bericht des 8. Ausschusses des RT vom 17.2.1927: RT-Bd. 413 , Drucks. Nr. 2993 .

54

Siehe oben Anm. 52.

55

Zur Entwicklung des Geld- und Kapitalmarkts und zur Reichsbankpolitik siehe die Ausführungen Schachts in Dok. Nr. 195.

Die Mehrausgaben für das Arbeitsbeschaffungsprogramm, das Grenzsiedlungs- und Ostprogramm und für Sozialleistungen machten die Vorlage eines Nachtragshaushalts[XXXIII] für 1926 erforderlich. Das besondere Merkmal dieses von Finanzminister Reinhold eingebrachten Nachtragsetats waren die – vor allem durch das Arbeitsbeschaffungsprogramm bedingten – hohen Ausgaben des außerordentlichen Haushalts, die im Anleihewege finanziert werden sollten56. Das entsprach der von Reinhold bereits beim Beginn des Etatjahres wiedereingeführten Praxis, „produktive“ Ausgaben des Extraordinariums nicht wie bisher aus Steuermitteln, sondern durch Aufnahme von Anleihen zu decken. Von den ihm erteilten Anleiheermächtigungen machte der Finanzminister jedoch wegen der ungünstigen Kapitalmarktkonditionen und mit Rücksicht auf den Kapitalbedarf der Privatwirtschaft zunächst keinen Gebrauch; statt dessen bestritt er die fälligen Ausgaben des außerordentlichen Haushalts vorläufig aus Kassenreserven bzw. aus laufenden Einnahmen, die infolge der Konjunkturbelebung während der zweiten Jahreshälfte 1926 wieder reichlicher flossen. Indessen blieben die bewilligten Anleiheermächtigungen weiterhin in Kraft, und mit der Verabschiedung des Nachtragsetats für 1926 stieg der offene Anleihebedarf, d. h. der Betrag der nicht realisierten Ermächtigungen auf 940 Millionen bei einem Jahresetat von rd. 8,4 Milliarden RM. Im Januar 1927, nachdem der Reichsbankdiskont auf 5% gesenkt worden war, erwirkte Reinhold die Genehmigung des Kabinetts zur Auflegung einer inneren Reichsanleihe mit einem Nominalbetrag von 500 Millionen RM. Die im Februar emittierte Anleihe brachte zwar 450 Millionen in die Kassen des Reichs, doch mußte sie bald wegen ihres Kursrückgangs durch eine nachträgliche Hinaufsetzung des Zinsfußes gestützt werden57. Das 1926 eingeführte Verfahren, Ausgaben des außerordentlichen Haushalts durch Anleiheermächtigungen zu decken, die wegen der begrenzten Aufnahmefähigkeit des deutschen Kapitalmarkts nur in einem verhältnismäßig geringen Umfang realisiert werden konnten, hat zu den Haushaltsschwierigkeiten der folgenden Jahre nicht unwesentlich beigetragen58.

56

Zu den Beratungen über den Nachtragshaushalt 1926: Dok. Nr. 92, P. 2; 94, P. 1; 152, P. 5.

57

Dok. Nr. 174, P. 2; 182, P. 5.

58

Vgl. Dok. Nr. 330.

Bei den Zeitgenossen löste die Finanzpolitik Reinholds ein unterschiedliches Echo aus. Die von ihm durchgeführten Steuersenkungen bei gleichzeitigem Abbau der öffentlichen Finanzreserven fanden den Beifall der Wirtschaft und, innerhalb der Regierungskoalition, die Zustimmung vor allem der DDP und der DVP. Nach Auffassung Brünings, des Haushaltsexperten des Zentrums, trug Reinholds Kurs dagegen den Stempel der Leichtfertigkeit; insbesondere mißbilligte Brüning die Art, wie der rhetorisch brillante Finanzminister seine Konzeption in der Öffentlichkeit propagierte. Als Reinhold in einer Rede vom 3. September 1926 vor dem Reichsverband der Deutschen Industrie die Fiskalpolitik der Jahre 1924/25 kritisierte, den Erfolg der von ihm 1926 initiierten Steuersenkungsaktion hervorhob und weitere Steuerermäßigungen in Aussicht stellte, schrieb Brüning einen geharnischten Beschwerdebrief an den Reichskanzler: Reinhold zeichne ein völlig verkehrtes Bild der vom Zentrum mitgetragenen Finanzpolitik von 1924 und 1925, die mit ihrer weitsichtigen Planung erst die Voraussetzung für die Steuersenkungen Reinholds geschaffen habe; und wenn Reinhold jetzt weitere Steuerermäßigungen verspreche, würde es künftig schwerfallen, „bei den deutschen parlamentarischen Verhältnissen“[XXXIV] eine Mehrheit für notwendige Steuererhöhungen zusammenzubringen, wenn die vorhandenen Überschüsse verbraucht und die Anleihemöglichkeiten erschöpft seien. „Es ist oft genug in den Jahren bis zur Stabilisierung unmöglich gewesen, in entscheidenden Augenblicken für Steuererhöhungen genügend verantwortungsbereite Mehrheiten im Reichstag zu finden, ein Umstand, der uns in katastrophale Situationen hineingebracht hat und der als Warnung für jeden späteren Finanzminister dienen sollte“59.

59

Dok. Nr. 76; dazu Dok. Nr. 77. Zu Brünings Kritik an der Finanzpolitik Reinholds vgl. Brüning, Memoiren, S. 117 f.

Auf dem Gebiet der Sozialpolitik kam es im Herbst 1926 wegen der Regelung der Arbeitszeit und der Erwerbslosenfürsorge zu Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition und zur Wiederaufrollung der Koalitionsfrage. Im sozialpolitischen Ausschuß des Reichstags beantragten Kommunisten und Sozialdemokraten eine 50prozentige Erhöhung der Erwerbslosenunterstützung, während ein sozialdemokratischer Eventualantrag eine Erhöhung um 30 Prozent verlangte. Das Kabinett und die bürgerlichen Parteien hielten eine derartige Steigerungsrate für indiskutabel, nicht nur wegen der finanziellen Auswirkungen auf die öffentlichen Haushalte und die Wirtschaft, sondern auch deshalb, weil bei dem geltenden Fürsorgesystem die Sätze der Erwerbslosenunterstützung in zahlreichen Fällen das Niveau der Arbeitslöhne erreicht oder sogar überschritten hätten60. Gegen den Widerspruch des Reichswirtschaftsministers Curtius fand sich das Kabinett nach Verhandlungen mit den Regierungsparteien auf Drängen des Zentrums schließlich bereit, die Unterstützungssätze um 10 bzw. 15% zu erhöhen und eine Reihe weiterer Verbesserungen in der Erwerbslosenfürsorge durchzuführen. Dieser Regierungsvorschlag wurde auch vom sozialpolitischen Ausschuß akzeptiert, aber im Plenum des Reichstags verhalfen die Deutschnationalen am 8. November dem weitergehenden sozialdemokratischen Antrag durch ihre Zustimmung zur Annahme. Die DNVP-Fraktion, deren gemäßigter Flügel nach dem inzwischen vollzogenen Völkerbundseintritt Deutschlands eine erneute Regierungsbeteiligung anstrebte, wollte mit ihrem Abstimmungsmanöver dem Minderheitskabinett Marx klarmachen, daß die Zeit des Regierens mit wechselnden Mehrheiten vorüber und daß eine Öffnung der Koalition nach rechts die wirtschafts- und sozialpolitisch zweckmäßigste Lösung sei. Die Rechnung der Deutschnationalen ging vorerst nicht auf. Das Kabinett erklärte die durch eine unechte Oppositionsmehrheit zustande gekommene Reichstagsentschließung für undurchführbar, und der Reichsarbeitsminister machte von seinem Verordnungsrecht Gebrauch, indem er die Verbesserung der Erwerbslosenfürsorge in dem vom Kabinett gebilligten Ausmaß mit Zustimmung des Reichsrats in Kraft setzte61.

60

Nach den geltenden Bestimmungen über die Erwerbslosenfürsorge waren die Fürsorgesätze nach Alter, Familienstand, Wirtschaftsgebieten und Ortsklassen gestaffelt, berücksichtigten dagegen nicht die Höhe des zuletzt verdienten Arbeitslohns. Ein bereits im Frühjahr 1926 ausgearbeiteter Vorschlag des RArbMin., eine Differenzierung der Erwerbslosenfürsorge nach Lohnklassen einzuführen, konnte nicht verwirklicht werden; siehe Dok. Nr. 1, P. 2 a; 30, P. 5. Dagegen war das „Lohnklassensystem“ im Entwurf des Arbeitslosenversicherungsgesetzes vorgesehen, den das Kabinett Luther dem Reichsrat zugeleitet hatte und der während der Amtszeit des Kabinetts Marx IV verabschiedet wurde; siehe unten S. LXVII.

61

Dok. Nr. 93; 97; 100; 101; 104; 109.

[XXXV] Damit waren die Schwierigkeiten aber keineswegs behoben. Als kurz danach ein Regierungsentwurf über die Einführung einer Krisenfürsorge zugunsten der langfristig Erwerbslosen im sozialpolitischen Ausschuß zur Debatte stand, setzten die Deutschnationalen ihr taktisch motiviertes Zusammenspiel mit der Linksopposition fort und votierten mit den Sozialdemokraten für einen kommunistischen Gegenantrag, der für die Reichsregierung unannehmbar war. In den folgenden Kabinettsberatungen über einen Ausweg aus der verfahrenen parlamentarischen Situation schlug Reichskanzler Marx nach Rücksprache mit der SPD-Fraktionsführung den Ministern eine engere Kooperation mit den Sozialdemokraten vor: Eine Koalition oder Arbeitsgemeinschaft mit der SPD komme zunächst nicht in Betracht, doch empfehle sich künftig bei strittigen Materien eine rechtzeitige Fühlungnahme mit der SPD „von Fall zu Fall“; dadurch lasse sich unter Umständen eine Kabinettskrise vermeiden, und für die von den Kommunisten bedrängten Sozialdemokraten biete ein solcher Modus vivendi den Vorteil, daß sie „gehört“ würden, „ohne eine Verantwortung übernehmen zu müssen“. Stresemann machte Bedenken geltend: An die Stelle der Regierungspolitik träte eine „Kompromißpolitik“, die „sich ein Stück nach links verschiebe“. Doch stimmte offenbar die Mehrheit des Kabinetts dem Vorschlag des Kanzlers zu, durch Kompromißverhandlungen mit den Sozialdemokraten der Regierung das Weiterarbeiten zu ermöglichen. Welche konkreten Vereinbarungen danach zwischen Vertretern der Koalition und der SPD-Fraktion über die beiderseitige Zusammenarbeit getroffen wurden, ob etwa Marx den Sozialdemokraten die Große Koalition in Aussicht gestellt hat, läßt sich mangels authentischer Besprechungsprotokolle nicht einwandfrei klären. Zunächst hatten jedenfalls die Verhandlungen mit der SPD den Erfolg, daß der von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf über die Krisenfürsorge nach geringfügigen Änderungen am 13. November im Reichstag mit den Stimmen der Koalition und der SPD verabschiedet werden konnte62.

62

Dok. Nr. 113; 114, P. 5; dazu Dok. Nr. 152, P. 2; vgl. Stürmer, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik, S. 162 ff.

Eine schwere Gefahr für den Zusammenhalt der Koalition erwuchs aus der Diskussion über die Verkürzung der Arbeitszeit. Ende Oktober 1926 forderten die Gewerkschaften sämtlicher Richtungen in einer gemeinsamen Entschließung den sofortigen Erlaß eines Notgesetzes zur Wiederherstellung des Achtstundentages; das Notgesetz sollte, von eng umgrenzten Ausnahmen abgesehen, die langen Arbeitszeiten beseitigen, welche die noch immer gültige Arbeitszeitverordnung vom 21. Dezember 1923 gestattete. Diese Forderung wurde von den Spitzenverbänden der Arbeitgeber in einer Gegenerklärung sogleich als wirtschaftlich untragbar abgelehnt. In Besprechungen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmervertreter mit der Reichsregierung trat der Gegensatz zwischen den Auffassungen der Gewerkschaften und der Unternehmer offen zutage. Die Gewerkschaften sahen in der generellen Wiedereinführung des Achtstundentages das wirksamste Mittel zur Bekämpfung der immer noch hohen Arbeitslosigkeit, die vor allem ältere Arbeiter und Angestellte betraf und sich zu einem strukturellen Dauerphänomen auszuwachsen drohte; es schien den Gewerkschaften sozial ungerecht und ökonomisch widersinnig, daß infolge der Rationalisierungs- und Kartellierungsmaßnahmen der Industrie[XXXVI] ständig Arbeitnehmer entlassen wurden, während gleichzeitig in zahlreichen Betrieben bis zu 60 Stunden in der Woche gearbeitet wurde und wichtige Wirtschaftszweige wie etwa die Eisenindustrie weiterhin am Zweischichtensystem festhielten. Dagegen behaupteten die Unternehmer, eine „schematische“ Reduzierung der geltenden Arbeitszeiten würde die beginnende Wirtschaftsbelebung hemmen, die Produktionskosten steigern, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der mit hohen Löhnen, Sozialabgaben und Steuern belasteten deutschen Wirtschaft beeinträchtigen und im Endergebnis nicht zur Verringerung, sondern zu einer Verstärkung der Arbeitslosigkeit führen. Mit den gleichen Argumenten wie die Arbeitgeber wandte sich Reichswirtschaftsminister Curtius entschieden gegen eine „überstürzte“ Verkürzung der Arbeitszeit auf gesetzlichem Wege. Arbeitsminister Brauns hatte, um eine flexible Kompromißlösung bemüht, dem Kabinett den seit längerem vorbereiteten Entwurf eines Arbeitsschutzgesetzes vorgelegt, das die Zahl der zulässigen Überstunden herabsetzen, einen 25prozentigen Überstundenzuschlag einführen und das deutsche Arbeitsrecht dem internationalen Washingtoner Abkommen angleichen wollte. Brauns drängte die Reichsregierung, den Arbeitsschutzgesetzentwurf möglichst bald zu verabschieden, um dem von den Sozialdemokraten angekündigten Initiativgesetz über den Achtstundentag zuvorzukommen. Gegen den hinhaltenden Widerstand von Curtius wurde das Arbeitsschutzgesetz in einer abgeschwächten Fassung Ende November vom Kabinett beschlossen und dem Reichswirtschaftsrat sowie dem Reichsrat zugeleitet63.

63

Dok. Nr. 102; 105; 110; 117; 123; 125, P. 3; 126, P. 1; 127.

Es war jedoch vorauszusehen, daß die parlamentarische Beratung des außerordentlich umfangreichen und komplizierten Arbeitsschutzgesetzes viel Zeit beanspruchen würde. Da aber die Gewerkschaften und die SPD auf einer baldigen gesetzlichen Einschränkung der Mehrarbeit bestanden, waren die Koalitionsparteien trotz Sträubens der DVP schließlich genötigt, sich mit dem von Brauns vorgelegten Entwurf eines interimistischen „Arbeitszeitnotgesetzes“ zu befassen, das einige Vorschriften der Arbeitszeitverordnung von 1923 zugunsten der Arbeitnehmer abändern sollte. Am 1. Dezember einigten sich die Regierungsparteien auf eine Formulierung, die den Einwänden der DVP teilweise Rechnung trug, und übermittelten den Entwurf des Arbeitszeitnotgesetzes den Sozialdemokraten zur Stellungnahme64. Noch bevor Gespräche mit der SPD in Gang kommen konnten, führte eine Rede des DVP-Fraktionsvorsitzenden Scholz in Insterburg am 5. Dezember zum Eklat. Scholz warf dem Zentrum und der DDP eine „frühlingshafte Verliebtheit für die Sozialdemokratie“ vor und bezeichnete eine Zusammenfassung „aller bürgerlichen Parteien und Kräfte“ als das „Ideal“ der DVP; die vom Zentrum und den Demokraten angestrebte Große Koalition wäre dagegen nur ein kurzlebiges Gebilde, weil eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten in den entscheidenden Fragen des Arbeitszeitgesetzes und der Reichswehrpolitik unmöglich sei. Trotz nachträglicher Abschwächungs- und Beschwichtigungsversuche faßte die SPD-Fraktion die Rede von Scholz als Kampfansage auf und erklärte die mit dem Reichskanzler getroffene Vereinbarung über die „Fühlungnahme“ mit den Regierungsparteien für[XXXVII] hinfällig65. Während der weiteren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die latente in die offene Regierungskrise umschlug, trat die Arbeitszeitfrage gegenüber der Reichswehrproblematik in den Hintergrund66 und wurde erst nach der Neuformierung des Kabinetts und der Koalition wieder aufgegriffen67.

64

Dok. Nr. 128, P. 1; 132; 133.

65

Dok. Nr. 141, Anm. 15.

66

Zur Reichswehrpolitik siehe unten S. XLII f.

67

Zur Weiterbehandlung der Arbeitszeitfrage siehe unten S. LXV f.

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