2.152.2 (ma31p): 2. Innenpolitische Lage.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

RTF

[441]2. Innenpolitische Lage.

Der Reichskanzler führte aus, daß er eine historische Darstellung der ganzen Entwicklung der jetzigen innenpolitischen Lage geben wolle. Nach seiner Auffassung solle man heute noch keine Beschlüsse fassen, sondern sich zunächst über die jetzige Lage aussprechen. Das Reichskabinett sei nach seiner Auffassung in eine immer schwierigere Lage gekommen, nachdem die Deutsch-nationale Volkspartei zu erkennen gegeben habe, daß sie bei jeder ihr passenden Gelegenheit gegen das Reichskabinett stimmen würde. Infolgedessen habe das Reichskabinett mit Mehrheit den Beschluß gefaßt, mit der Sozialdemokratischen Partei zu verhandeln, und zwar mit dem Ziele der Großen Koalition. Die Sozialdemokratie habe erklärt, daß man zunächst versuchen solle, sich über einige besonders wichtige Probleme zu einigen. Das Reichskabinett habe sich hiermit einverstanden erklärt5. Der Interfraktionelle Ausschuß habe sich gleichfalls hiermit einverstanden erklärt mit Ausnahme des Reichsministers a. D. Dr. Scholz, der hiergegen protestiert und erklärt habe, man müsse auch die Möglichkeit haben, mit den Deutschnationalen zusammenzugehen.

5

Vgl. Dok. Nr. 113 und Nr. 114, P. 5.

Gegen diese Auffassung habe er (der Reichskanzler) Stellung genommen und habe es nur in Ausnahmefällen als möglich bezeichnet, mit den Deutschnationalen gemeinsam vorzugehen.

In einem Teil der Presse sei immer wieder betont worden, irgendwelche Vereinbarungen mit der Sozialdemokratie lägen nicht vor. Durch die Rede von Dr. Scholz in Insterburg sei die Situation erheblich zugespitzt worden. Die Rede selber sei wohl als vertrauliche Rede in einer Wählerversammlung aufzufassen. Sie sei jedoch später in einem größeren Kreise in Königsberg wiederholt worden6. Gegenüber der von Dr. Scholz vertretenen Auffassung müsse er betonen, daß die Reichsregierung in der Tat mit der Sozialdemokratie im Sinne der im Reichskabinett getroffenen Abmachungen über wichtige Fragen schon seit längerer Zeit in Verhandlungen stehe, z. B. über das Arbeitsnotgesetz7 und über Reichswehrangelegenheiten8. Nach der Scholz’schen Rede habe nun die Sozialdemokratie den Beschluß gefaßt, daß ihre mit ihm (dem Reichskanzler) getroffenen Vereinbarungen als hinfällig anzusehen seien9. Eine Entscheidung darüber, wie die Regierung künftighin aussehen solle, sei jetzt nötig. Daß während der Genfer Verhandlungen eine Krisis unbedingt zu vermeiden sei, habe auch die Sozialdemokratie sofort eingesehen. Sie sei auch damit einverstanden, daß zunächst die Rückkehr des Reichsministers Dr. Stresemann abgewartet werden müsse.

6

Siehe Dok. Nr. 141, Anm. 15.

7

Gemeint ist der Entwurf eines Arbeitszeitnotgesetzes; vgl. Dok. Nr. 141, Anm. 14.

8

Vgl. Dok. Nr. 138.

9

Siehe Dok. Nr. 141, Anm. 15, zweiter Absatz.

Es bestünden nun nach seiner (des Reichskanzlers) Auffassung drei Möglichkeiten:

a)

Die Reichsregierung bleibe im Amte und lasse es darauf ankommen, eventuell gestürzt zu werden, [442]

b)

die Reichsregierung trete möglichst bald zurück,

c)

die Regierungsparteien kämen zu dem Beschluß, es solle mit der Sozialdemokratie verhandelt werden, um die Große Koalition zu bilden.

Der Reichspostminister führte aus, daß nach seiner Auffassung das Kabinett der sogenannten stillen Koalition nicht zugestimmt habe, jedenfalls nicht in einer Sitzung, an der er (der Reichspostminister) teilgenommen habe.

Der Reichsminister des Innern betonte, daß jetzt eine Entschließung darüber gefaßt werden müsse, wie man vorgehen wolle. Die Endentscheidung müsse nach seiner Auffassung bis nach Weihnachten vertagt werden.

Der Reichskanzler teilte mit, daß auch die Sozialdemokratie ihm gegenüber zu erkennen gegeben habe, daß die endgültige Entscheidung nicht beschleunigt gefällt werden müsse. Er wisse, daß auch in deutschnationalen Kreisen diese Auffassung vertreten werde.

Was im übrigen seine Besprechungen mit der Sozialdemokratie wegen der stillen Koalition anlange10, so habe er seinerzeit auch der Sozialdemokratie erklärt, daß einige Gesetzentwürfe mit der Rechten zusammen gemacht werden müßten, wie z. B. das Schulgesetz und das Schund- und Schmutz-Gesetz. Die Sozialdemokratie habe erklärt, daß sie das hinnehmen wolle.

10

Über diese Besprechungen des RK mit der SPD waren weder in den Akten der Rkei noch in den Nachlässen von Marx und Pünder Aufzeichnungen zu ermitteln.

Der Reichswirtschaftsminister führte aus, daß ihm diese letzte Mitteilung des Reichskanzlers völlig neu sei. Als Ergebnis der maßgebenden Ministerbesprechung11 habe er aufgefaßt: eine Begegnung mit der Sozialdemokratie von Fall zu Fall, keine Dauerverbindung. Die Auffassung der Deutschen Volkspartei glaube er nochmals präzisieren zu sollen:

11

Gemeint ist wohl die Ministerbesprechung vom 11.11.26 (Dok. Nr. 114, P. 5).

a)

Die Fraktion der Deutschen Volkspartei glaube, daß eine Koalition der Mitte mit wechselnden Mehrheiten fortbestehen müsse,

b)

die Fraktion der Deutschen Volkspartei sei der Auffassung, daß eine sogenannte stille Koalition nicht bestehe,

c)

zu Verhandlungen über die Große Koalition sei die Fraktion bereit.

Der Reichsarbeitsminister unterstrich im wesentlichen die Darstellung des Reichskanzlers. Als wesentlich an der stattgehabten Besprechung mit der Sozialdemokratie bezeichnete er das Ziel, daß der Reichsregierung überhaupt das Regieren ermöglicht werden sollte. Die Abmachungen mit der Sozialdemokratischen Partei schlössen natürlich nicht aus, daß auch ab und zu mal mit den Deutschnationalen verhandelt würde. Die wichtigsten Fragen lägen zur Zeit jedoch auf dem Gebiete des Arbeitsrechts; es handle sich vor allen Dingen um die Arbeitslosenversicherung und um das Arbeitsnotgesetz12. Diese Fragen könne man nach seiner Ansicht nur zusammen mit der Sozialdemokratie befriedigend lösen. Er sehe eine Entwicklung auf das Ziel der Großen Koalition hin. Am besten würde es sein, wenn die Abstimmung über das Schicksal der Regierung auf die erste Lesung des Etats 1927 verschoben werden könne.

12

Richtig: Arbeitszeitnotgesetz.

Der Reichsminister der Justiz vertrat im wesentlichen denselben Standpunkt wie der Reichskanzler und der Reichsarbeitsminister.

[443] Auch der Reichswehrminister trat der Auffassung des Reichskanzlers bei und berichtete dann noch über einige Fragen, die im besonderen das Reichswehrministerium interessierten.

Der Reichskanzler führte zum Schluß aus, daß die Regierungsparteien sich bis zum Donnerstag, den 16. Dezember, darüber schlüssig werden müßten, ob sie mit der Sozialdemokratie in Verhandlungen wegen Bildung der Großen Koalition eintreten wollten.

Extras (Fußzeile):