1.116.1 (ma32p): 1. Bericht des Reichsaußenministers über die bevorstehende Völkerbundstagung und die auswärtige Lage.

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1. Bericht des Reichsaußenministers über die bevorstehende Völkerbundstagung und die auswärtige Lage.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete zunächst über die auf der Tagesordnung stehenden Angelegenheiten. In erster Linie werde sich der Völkerbundsrat2 mit dem Streit zwischen Litauen und Polen zu beschäftigen haben3. Die Situation sei außerordentlich gespannt. Zwar sei nicht anzunehmen, daß Pilsudski Litauen militärisch angreifen werde, wohl aber erscheine es möglich, daß auf polnisches Betreiben in Litauen von innen heraus eine Umwälzung stattfinde, die die Verhältnisse zugunsten Polens ändere, oder aber daß die zahlreichen aus Litauen geflüchteten Emigranten durch Einmarsch einen Umsturz hervorrufen würden. Erschwert werde diese Lage durch die wankende Stellung des Diktators Woldemaras, der im Parlament gar keinen Rückhalt habe – von den 87 Abgeordneten seien nur 3 seine Anhänger – und der auch außenpolitisch infolge seines unmöglichen Verhaltens auf allen Seiten nur Feinde hätte. Polen werde beantragen, daß Litauen vom Völkerbunde dahin gebracht werden solle, den Kriegszustand mit Polen aufzugeben. Die Stimmung im Völkerbundsrat sei diesem polnischen Antrage günstig, und auch Deutschland werde der Beseitigung des Kriegszustandes nicht widersprechen dürfen. Man könne aber von Litauen nicht verlangen, daß es hierbei seinen Anspruch auf die litauische Souveränität über das Wilnagebiet aufgebe. Dies würde Gefahren für den Bestand des litauischen Staatswesens in sich schließen, und Deutschland sei an der Existenz Litauens außerordentlich interessiert, damit nicht Ostpreußen zu einer Insel im polnischen Gebiet werde. Auch Rußland sei auf das lebhafteste an der Erhaltung Litauens interessiert. Litwinow habe hier mitgeteilt, daß er auch vor militärischen Maßnahmen nicht zurückschrecken werde4. Der Reichsminister des Auswärtigen erklärte, daß er daran allerdings nicht glaube. Im Völkerbundsrat werde voraussichtlich ein Ausschuß gebildet werden, dem außer Villegas die Vertreter Deutschlands, Englands, Frankreichs und Italiens angehören würden.

2

48. Tagung des Völkerbundsrats vom 5. bis 12.12.27.

3

Zum Konflikt zwischen Litauen und Polen siehe: ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 109, 115, 116, 121, 123, 140, 142, 143, 145, 154, 156, 158, 160, 164, 165.

4

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 140.

[1128] Der Reichsminister des Auswärtigen erbat die Ermächtigung des Reichskabinetts, in der litauischen Frage folgenden Standpunkt einzunehmen:

1.

Deutschland beteiligt sich an den Bemühungen, einen Verzicht Litauens auf den Kriegszustand mit Polen herbeizuführen;

2.

Deutschland unterstützt Litauen in seinem Bestreben, seinen Anspruch auf das Wilna-Gebiet erneut ausdrücklich festzustellen.

Der Reichsminister des Auswärtigen bat ferner, in Ostpreußen dahin zu wirken, daß gegenüber den sehr unerfreulichen Vorgängen im Memelgebiet, von denen er allerdings hoffe, daß sie durch Bildung des Direktoriums in diesen Tagen bereinigt würden5, die außerordentlich große Bedeutung der staatlichen Existenz Litauens für Deutschland und gerade für Ostpreußen gewürdigt werde. Er selbst wolle gelegentlich einer Reise, die er am 16. und 17. Dezember nach Königsberg zu unternehmen gedenke, in dieser Richtung wirken6.

5

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 156, Anm. 5; Schultheß 1927, S. 395 ff.

6

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 212.

Bezüglich des sonstigen offiziellen Programms erwähnte der Reichsminister des Auswärtigen folgendes: Über die Westerplatte, Danzig, liege jetzt ein günstiger Bericht vor7. Ferner werde über die Überwinterung polnischer Kriegsschiffe im Danziger Hafen verhandelt werden8. In der oberschlesischen Schulfrage sei ein neuer deutscher Vorstoß erforderlich9. Die Objektivität des die Untersuchung führenden Beauftragten des Rates Urrutia sei anzuzweifeln. Vielleicht werde es sich empfehlen, den Haager Gerichtshof anzurufen. Im Falle Salamis habe Griechenland einen Vergleich angeboten10. Voraussichtlich werde es sich nicht empfehlen, hierauf einzugehen, da dies wohl nur ein neues Verschleppungsmanöver der griechischen Regierung sei. Zweckmäßigerweise würde die Frage an den Haager Schiedsgerichtshof zurückzuverweisen sein. Die englische, französische und holländische Stimme würde voraussichtlich für Deutschland abgegeben werden.

7

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 133, dort bes. Anm. 8.

8

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 118 und 133.

9

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 99.

10

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 180.

Außerhalb der offiziellen Tagesordnung werde eine große Rolle die Aussprache über den Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Jugoslawien11 und das italienisch-albanische Abkommen12 spielen. Man sei in England über die Zuspitzung des französisch-italienischen Gegensatzes sehr besorgt und habe in Deutschland bereits angefragt, wie dieses sich verhalten werde. Angeblich würden auf beiden Seiten ernsthafte Vorbereitungen getroffen.

11

Vom 11.11.27; siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 149, 153, 161; Schultheß 1927, S. 310 ff.

12

Bündnisvertrag vom 22.11.27; siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 146, 161, 168; Schultheß 1927, S. 430.

Der Reichsminister des Auswärtigen teilte mit, daß eine ungarische Persönlichkeit in führender offizieller Stellung ihre Vermittlung zur Bereinigung des deutsch-italienischen Verhältnisses angeboten habe13. Dies erkläre auch einige Äußerungen des Bundeskanzlers Seipel bei der letzten Anwesenheit des Reichskanzlers[1129] und Außenministers in Wien14. Man werde versuchen, in Genf über die Erzielung eines Freundschaftsverhältnisses zwischen Italien und Deutschland zu verhandeln, wobei die Autonomie oder Rückgabe Südtirols an Österreich eine Rolle spielen solle. Der Reichsminister des Auswärtigen äußerte die Meinung, daß Deutschland solchen Angeboten gegenüber mit äußerster Vorsicht vorgehen müsse. Man könne die Bereitschaft zu unverbindlichen Gesprächen zugestehen, müsse aber sorgfältig darauf achten, daß Deutschland keinerlei Bindung eingehe. Italien habe im Falle eines Konflikts zwischen der italienischen und der französischen Mächtegruppe Deutschland nur sehr wenig Beistand zu bieten. Im übrigen sei jeder Krieg in Europa mit den allergrößten Gefahren für die gesamte Weltgeltung Europas verbunden.

13

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 66, 67 und 72.

14

Siehe die Aufzeichnung des österr. Generalsekretärs Peter über die politischen Besprechungen des RK und RAM in Wien am 14.11.27, in: ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 106; eine ausführliche Niederschrift des StS Pünder über diese Wiener Besprechungen befindet sich in R 43 I /109 , Bl. 391–400.

Der Reichsminister des Auswärtigen erbat demgemäß die Ermächtigung des Kabinetts, weiteren italienisch-ungarischen Annäherungsversuchen gegenüber als politische Richtlinie zu verfolgen, daß Deutschland zwar den Faden in vorsichtiger Weise fortspinne, allen Versuchen, ihm irgendeine Bindung aufzuerlegen, aber sich entziehe und strikte Neutralität zwischen beiden Gruppen bewahre.

Hierzu bemerkte der Reichsarbeitsminister er hoffe, der Reichsminister des Auswärtigen werde keiner von beiden Parteien die deutsche Neutralität allzu billig zugestehen.

Der Reichsminister des Auswärtigen pflichtete dem Gedankengang des Reichsarbeitsministers bei.

Auch der Reichswehrminister gab der Meinung Ausdruck, daß die Westpolitik Deutschland nur dann Vorteil bringen werde, wenn Frankreich, das noch immer unter dem Frieden mit Deutschland den Frieden von Versailles verstehe, den Eindruck erhalte, daß die deutsche Neutralität bezahlt werden müsse.

Der Reichsminister der Justiz stellte fest, daß die vom Reichsminister des Auswärtigen vorgezeichnete Richtlinie nicht für alle Zukunft gelten solle und Deutschland letzten Endes freie Hand lasse.

Das Reichskabinett erklärte sich hierauf mit den vom Reichsminister des Auswärtigen für die polnisch-litauische wie auch für die italienische Frage beantragten Ermächtigungen einverstanden.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete anschließend über die Abrüstungsfrage und teilte mit, er beabsichtige, als deutschen Vertreter in dem neuzubildenden Sicherheitsauschuß zunächst Ministerialdirektor Gaus zu benennen.

Die Aussprache über die auswärtige Politik wurde hierauf abgeschlossen.

[Die Tagesordnungspunkte 2 bis 4 wurden abgesetzt.]

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