2.105.1 (str1p): Politische Lage.

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Politische Lage.

Der Reichskanzler bittet um Mitteilung der Entscheidung der Fraktion [!].

VizekanzlerSchmidt: In seiner Fraktion sei nur die Frage des Achtstundentages besprochen worden. Die Demokraten hätten einen [!] vorgeschlagen, daß früher vom Arbeitsministerium ausgearbeitete Arbeitszeitgesetz aufzunehmen und durch den Reichstag annehmen zu lassen. Diese Lösung würde für die Sozialdemokratie tragbar sein. Die Frage der Demobilmachung und andere soziale Maßnahmen würden dann durch die zu erteilende Vollmacht in wirtschaftlichen Fragen mit erfaßt werden1.

1

Der GesEntw. über die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter war im August 1921, der GesEntw. für die Arbeitszeit der Angestellten im Mai 1922 dem RWiR und dem RR vorgelegt worden. Da zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im RWiR keine Einigung hatte erzielt werden können, war am 29.12.22 vom RWiR ein Mehrheits- und ein Minderheitsgutachten vorgelegt worden. Weitere Verhandlungen waren am 16.1.23 ausgesetzt worden, um – allerdings vergeblich – eine gemeinsame Grundlage auszuhandeln. Weitere Verhandlungen wurden dann aufgegeben, um die Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht zu vertiefen (Schreiben des RArbM vom 1.2.23; R 43 I /2058 , Bl. 162; vgl. ferner Hauschild, Der vorläufige Reichswirtschaftsrat, S. 300 ff.). Von den Demokraten war das ruhende Arbeitszeitgesetz vermittelnd in der Form zur Diskussion gestellt worden, daß es gemeinsam mit dem Ermächtigungsgesetz verabschiedet werden sollte. „Die Sozialdemokraten erklärten sich bereit, diesen Vermittlungsvorschlag zu unterstützen. Die Volkspartei dagegen hielt ihre Beschlüsse aufrecht. Damit war die Krise auf den Stand zurückgeworfen, auf dem sie sich am frühen Morgen befunden hatte“ (DAZ, Nr. 457 vom 4.10.23).

[456] Weitere Zugeständnisse seiner Fraktion seien nicht [zu] erreichen. Stelle man sich auf diesen Boden, so würde die Kanzlerrede leicht zu formulieren sein.

Der Reichsarbeitsminister Diesen Vorschlag höre er in dieser Form zum erstenmal. Die nötige Änderung am Arbeitszeitgesetz könnte in seinem Ministerium gemacht werden. Wenn er den Minister Schmidt richtig verstehe, würde das Gesetz dann unter Ablehnung von etwaigen Abänderungsanträgen der sozialdemokratischen Fraktion angenommen werden. Wenn die Dinge sich so entwickelten, so schiebe die Sozialdemokratie damit die Verantwortung auf die bürgerlichen Parteien ab. Er müsse erst seine Fraktion fragen, ob sie dem zustimme2.

2

S. dazu u. Anm. 6.

Der Reichskanzler Wenn das Kabinett in seiner jetzigen Form erhalten bleibe, so würde die Deutschnationale Partei Obstruktion machen3. Das Arbeitszeitgesetz würde dann fallen, wenn die Sozialdemokratie dagegen stimme. Daher schiene ihm der von Schmidt vorgeschlagene Weg nicht möglich.

3

S. Dok. Nr. 128, A: Vorgänge im Reichstag.

Der Reichsminister der Finanzen ist der Ansicht, daß der vom Minister Schmidt vorgeschlagene Weg gangbar sei.

Der Reichsminister des Innern Wenn das Arbeitszeitgesetz im Reichstag beraten würde, so würde seine Partei sicherlich Verbesserungsanträge stellen. Er glaube nicht, daß der Vorschlag des Vizekanzlers das Richtige träfe. Die sozialdemokratische Partei könne dann seines Erachtens das Gesetz nicht ablehnen, denn hierdurch würde die Koalition dann doch zerrissen werden. Die sozialdemokratischen Minister müßten in diesem Sinne in ihrer Fraktion wirken.

Der Reichsminister für Wiederaufbau Der Gegensatz innerhalb der Koalitionsparteien würden bei diesem Gesetz sich unvermeidlich offenbaren. Die Stimmung in der Partei sei nun einmal so.

Der Reichsverkehrsminister Bei der von Minister Schmidt vorgeschlagenen Behandlung der Dinge sei eine Verschleppung des Arbeitszeitgesetzes zu befürchten. Man müßte daher mindestens eine Frist setzen, innerhalb deren es anzunehmen sei.

Der Reichsarbeitsminister Er könne sich zu diesem Wege nicht entschließen. Bliebe das Kabinett zusammen, so trage es das Odium der Rechten. Das Kabinett müsse dann den ganzen Weg ehrlich zusammengehen. Seines Erachtens genüge dann auch nicht eine annehmende Schlußabstimmung der Sozialdemokratie.

Der Reichsminister des Innern Der Reichsarbeitsminister spitze die Frage zu sehr zu. In seiner Fraktion würden Bedenken bestehen, aber niemand würde diese Frage agitatorisch ausnützen. Eine solche Agitation würde auch erfolglos sein. Ihre grundsätzliche Anschauung müsse die Sozialdemokratie in ihren Anträgen niederlegen.

[457] Der Reichspostminister In der Frage der Arbeitszeit solle nach Wunsch der Sozialdemokratie der Reichstag sprechen, während die anderen Fragen durch Verordnung entschieden werden sollten4. Dies würde niemand begreifen, denn es widerspräche dem Grundgedanken des Ermächtigungsgesetzes. Seines Erachtens müsse das Kabinett eine Formulierung suchen, die die Grundlage für eine zu erlassende Verordnung über die Arbeitszeit bilden. Der Kanzler könne sich dann in seiner Rede auf eine mehr allgemein gehaltene Formulierung beschränken.

4

S. Anm. 3 zu Dok. Nr. 104.

Der Reichskanzler Diesen Weg habe er gestern vorgeschlagen, er sei aber gescheitert5.

5

S. Dok. Nr. 99.

Der Reichsminister für Wiederaufbau Der Reichspostminister ginge von falschen Voraussetzungen aus. Seine Fraktion gebe die Ermächtigung in dieser Frage nicht.

Der Reichsarbeitsminister Vielleicht könne die Sozialdemokratie in den Fragen, die ihr grundsätzlich schienen, einen ideellen Protest einlegen. Es sei aber nicht möglich, daß sie sich überstimmen ließe, auch nicht in Einzelheiten. Er jedenfalls könne diesen Weg nicht mitmachen.

Der Reichsernährungsminister Der vom Reichsminister für Wiederaufbau vorgeschlagene Weg lähme auch die Maßnahmen auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiete. Im Arbeitszeitgesetz handle es sich nur um Überstunden und Arbeitsbereitschaft. Damit würden also die geforderte grundsätzliche Verlängerung fallen. Käme es im Reichstag zur Debatte, so würde unzweifelbar auch gefragt werden, wie die Regierung die anderen Dinge zu regeln gedenke.

Mit dem Vorschlag des Reichsministers für Wiederaufbau würde der Kern des Gedankens herausbrechen.

Der Reichskanzler Er habe über diesen neuen Vorschlag mit seiner Fraktion nicht gesprochen. Die Hauptschwierigkeit läge für seine Fraktion im Ausschluß der sozialpolitischen Dinge aus dem Verordnungsweg. Dies sei für die Partei wegen der Preisbildungsfragen und der Besitzsteuern schwer zu tragen. Das Herausbrechen würde in der Fraktion starken Widerspruch finden.

Der Reichsarbeitsminister Er halte es für untragbar, daß die Sozialdemokratie in dieser Frage eigene Anträge stelle und eigene Wege gehe. Dies widerspräche dem Gedanken der Koalition.

Der Reichsminister des Innern Wenn die Sozialdemokratie in der Schlußabstimmung das ganze Gesetz annehme, so läge nach seiner Ansicht keinerlei Agitationsgefahr vor.

Der Reichspostminister widerholt seine oben ausgesprochenen Gedanken.

Der Reichsarbeitsminister Die Schwierigkeiten würden bei den wirklich ernsten Fragen kommen, wie beispielsweise der Achtstundenschicht im Bergbau. Die Kommunisten würden entsprechende Anträge stellen, die die Sozialdemokratie annehmen würde.

Der Reichswehrminister Die Scheidung in Gesetzgebung und Verordnung ergäbe Schwierigkeiten. Was gegen den Besitz gerichtet sei, solle im Verordnungswege,[458] was gegen die Arbeiterklasse gehe, solle durch Gesetz angenommen werden. Dadurch würden die Schwierigkeiten im Lande größer werden.

Der Reichspostminister Wenn der Arbeitsminister es für gangbar halte, die eine Frage der Arbeitszeit durch Gesetz zu regeln, so würde er einverstanden sein. Aber ausgeschlossen sei, auch alle anderen sozialpolitischen Dinge durch Gesetz zu regeln. Das sei unmöglich. Hierin müsse Schmidt nachgeben.

Der Reichsminister für Wiederaufbau Die sozialistischen Minister würden das in der Fraktion versuchen.

Der Reichskanzler Er halte es für ausgeschlossen, daß seine Fraktion dem Herausbrechen zustimme. Dies sei eine Durchbrechung der drei zusammenhängenden Dinge. Er würde die Zustimmung der Fraktion dazu nicht bekommen.

Der Reichsminister der Finanzen Der Weg der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit sei also ungangbar, weil die Deutsche Volkspartei ihn nicht mitmache.

Der Reichskanzler Er sei bereit, es zu versuchen.

Der Reichsminister der Finanzen Bei dieser Lage schiene ihm der Fortbestand des Kabinetts also nur möglich, wenn folgendes erreicht würde:

1.

Annahme des Ermächtigungsgesetzes auch in sozialen Fragen;

2.

Regelung der Arbeitszeit nach der gestrigen Formulierung des Reichsarbeitsministers;

3.

Regelung der Personalfragen in einzelnen Ministerien.

Die sozialdemokratischen Minister müßten also ihre Fraktion vor diese drei Fragen stellen6.

6

Über die Fraktionssitzung der SPD zeichnete der Abg. Giebel auf: „Schm. (Kabinettsbericht) Dem[okratische] Mitglieder waren von Vorschlag der Dem Fraktion an uns (Arbeitszeitgesetz) nicht unterrichtet. – Brauns auch gegen diese Lösung, weil Soz.Dem ihre weitergehenden Anträge stellen würden. Daraus für Zentrum unmögliche Situation. Schm. habe in Aussicht gestellt, unter Verwahrung würden wir für Arbeitszeitgesetz stimmen. - Sollmann: Gleichzeitig sei Kabinett zugesagt, zu gleicher Zeit starke Belastung der Landwirtschaft (Erhöhung und Verlängerung der Landabgabe) und dann sofort auch Eingriff in die Substanz.“ Es folgt ein Pressezitat: „Die D. V. Fraktion spricht Stresemann nach Absage der S.D. Stresemann [!] sein [!] Vertrauen aus.“ Danach scheint die Abstimmung der Fraktion erfolgt zu sein, die sich mit 61:54 Stimmen gegen die Aufnahme sozialpolitischer Fragen in das Ermächtigungsgesetz entschied (Arch. soz. Dem.: NL Giebel  Kass. II, Mappe III, S. 245).

Der Reichskanzler Eine Verzögerung sei nicht mehr möglich.

Der Reichsarbeitsminister (auf eine Frage des Reichsministers des Innern): Mit der Verordnung über die Arbeitszeit nach seiner Formulierung gehe man über die Bestimmung des Arbeitszeitgesetzes hinaus7.

7

Vor der Fraktion des Zentrums berichtete Brauns, das Zentrum sei der SPD so weit entgegengekommen, „daß die Regelung des Achtstundentages nicht im Ermächtigungsgesetz, sondern in dem schleunigst zu verabschiedenden Arbeitszeitgesetz erfolgen solle. Durch das Ermächtigungsgesetz sollten im wesentlichen finanzpolitische Angelegenheiten und auf wirtschaftlichem Gebiete die Demobilmachungsverordnungen geregelt werden. Ausgeschlossen sein sollten vom Ermächtigungsgesetz ausdrücklich die sozialpolitischen Angelegenheiten, worunter zu verstehen seien die Fürsorgesachen, allerdings einschließlich der Arbeitslosenunterstützung bezw. Versicherung. Diese letzteren Angelegenheiten sollten eventuell im 6. Ausschuß beschleunigt erledigt werden. Bezüglich der Arbeitszeitgesetze ergab sich nun die Schwierigkeit, daß die Sozialdemokraten dieses Gesetz durchgehen lassen, aber in der Einzelberatung Gegenanträge und für diese mit den Kommunisten auch stimmen wollten. Die Fraktion war der Ansicht, daß es für die christliche Arbeiterbewegung untragbar sei, daß die Sozialdemokratie sich in der Öffentlichkeit gegen das Arbeitszeitgesetz und auf Aufhebung des Achtstundentages stelle. Wenn aber die christliche Arbeiterschaft sich auch gegen die Gesetze stelle, so wäre mit der Möglichkeit einer Ablehnung zu rechnen. Minister Brauns wurde deshalb nochmals beauftragt, von der Sozialdemokratie zu verlangen, daß die sozialdemokratischen Minister sich hinter dieses Gesetz stellten und die sozialdemokratische Fraktion, abgesehen von sachlichen Abänderungsanträgen, keine Opposition und Agitation dagegen treibe“ (BA: NL ten Hompel  15).

[459] Der Reichsminister des Innern Wenn in den sachlichen Fragen eine Verständigung möglich sei, müßte dann die Personalfrage noch unbedingt aufgerollt werden?

Der Reichskanzler Seine Fraktion wolle die in Frage stehenden 2 Posten anders besetzt haben. Herr von Raumer sei zur Demission gezwungen worden. Darum könne seine Fraktion ihren Standpunkt bezüglich des Reichsfinanzministeriums nicht ändern8.

8

In einer durch den genauen Zeitpunkt nicht näher gekennzeichneten Sitzung des Fraktionsvorstandes der DVP war am 3.10.23 als erster Punkt behandelt worden: „1) Feststellung des Wortlauts einer Erklärung in Sachen Raumer […] 2) Dr. Scholz berichtet über seine Verhandlungen mit den Deutschnationalen, Aussprache über den Verlauf der letzten Verhandlung. 3) Aussprache über die Kabinettsbildung“ (BA: R 45 II /66 ). Vgl. dazu Anm. 20 zu Dok. Nr. 103.

Der Reichsminister des Innern fragt, ob es möglich sei, gleichzeitig mit der Arbeitszeitverordnung auch starke Besitzsteuern sichtbar zu machen.

Der Reichswehrminister bejaht dies9. Es würde hiernach nichts anderes möglich sein, daß für alle diese Fragen nur wenige Tage übrig seien10.

9

S. dazu o. Anm. 1.

10

Zur weiteren Entwicklung berichtete die DAZ am 4.10.23 (Nr. 457): „Inzwischen waren die Gewerkschaften auf den Plan getreten, um von sich aus eine Formel für die Arbeitszeitfrage zu finden, von der sie glaubten, daß sie eine parlamentarische Mehrheit auf sich vereinigen könnte. Diese Beratungen, an denen Vertreter der freien und der christlichen Gewerkschaften teilnahmen, waren jedoch in demselben Augenblick gegenstandslos, wo die sozialdemokratrische Fraktion ihre Beschlüsse faßte.“ Zum Fortgang s. Dok. Nr. 106.

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