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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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2. Sachsen.

Der Reichswehrminister trug den Entwurf eines Schreibens vor, das er dem sächsischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner zu übersenden beabsichtige4. Die Lage in Sachsen sei derart, daß ein sofortiges Eingreifen notwendig sei5. Geschehe solches nicht, so würde insbesondere die Lage der Reichswehr in Sachsen unerträglich. Als Staatskommissar, dem die Ausübung der Regierungsgewalt bis zur Bildung einer neuen Regierung ohne Kommunisten zu übertragen sei, habe er den ehemaligen Chef der sächsischen Staatskanzlei, Ministerialdirektor Schulze, in Aussicht genommen. Er wolle durch die Wahl eines parteilosen Beamten zum Ausdruck bringen, daß es sich bei dieser Aktion um ein völlig unparteiisches Vorgehen handle6.

4

Der genannte Entw. hat sich weder in R 43 I noch im NL Geßlers  im BA ermitteln lassen. Offensichtlich war darin – wie aus dem folgenden ersichtlich ist – die Absicht ausgedrückt worden, die sächs. Reg. abzusetzen.

5

In Sachsen war es zu Zusammenstößen zwischen der Dresdner Reg. nahestehenden Demonstranten und der vorrückenden Reichswehr gekommen (Schultheß 1923, S. 200 f., 206), außerdem hatten die sächs. Bergarbeiter als Reaktion auf Verhaftungen durch die Reichswehr einen Streik begonnen, durch den die Elektrizitätswerke stillgelegt werden sollten (Die Zeit, Nr. 248 v. 26.10.23).

6

Schulze, ehem. Chef der sächs. Staatskanzlei, galt als „der ungekrönte König Sachsens“; s. a. W. Fabian, Klassenkampf um Sachsen, S. 146.

Der Reichsjustizminister äußerte verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Vorschlag des Reichswehrministers. Nach Maßgabe des Artikel 48 der Reichsverfassung sei es nicht möglich, auf Grund der darin gegebenen Befugnisse eine Länderregierung abzusetzen. Im übrigen sei er aber auch der Ansicht, daß die Reichswehr in Sachsen nicht richtig vorgegangen sei, und daß diese Tatsache zum großen Teil die jetzige Lage hervorgerufen habe.

Der Reichsminister des Innern regte an, auf Grund des 1. Absatzes des Art. 48 vorzugehen. Hierbei müsse die Initiative vom Herrn Reichspräsidenten ausgehen.

Der Reichskanzler erklärte, daß er auf Grund der gegebenen Sachlage den Vorschlag des Reichswehrministers als die richtige Lösung ansehe und bereit sei, die Verantwortung dafür zu tragen. Eine Regierung mit kommunistischen Mitgliedern, wie gegenwärtig in Sachsen bestehend, könne er als verfassungsmäßig nicht anerkennen. Besonders dringlich sei jedoch die Lage durch die Zuspitzung der Verhältnisse in Bayern. Die Reichsregierung dürfe es nicht dahin[855] kommen lassen, zwischen dem Rechtsradikalismus Münchens und dem Linksradikalismus Sachsens erdrückt zu werden. Die Frage sei, ob der Reichswehrminister einen Beschluß des Kabinetts wünsche.

Der Reichswehrminister erwiderte, daß er die Verantwortung politisch und rechtlich selber zu tragen bereit sei. Er wolle sie auch insbesondere nicht auf den Herrn Reichspräsidenten abwälzen. Er halte es nur für seine Pflicht, das Kabinett, wie bisher geschehen, von wichtigen politischen Maßnahmen, die er auf Grund der ihm übertragenen Vollmachten treffe, rechtzeitig zu unterrichten.

Was die verfassungsrechtlichen Bedenken des Reichsjustizministers anbelange, so schlage er vor, den Ministerialdirektor, Dr. Meissner als einen der hervorragendsten Kenner der deutschen Reichsverfassung zu hören.

Ministerialdirektor Dr. Meissner führte aus, daß er die Bedenken des Reichsjustizministers nicht teilen könne. Gemäß Artikel 48 der Reichsverfassung könnten sowohl der Herr Reichspräsident als auch der Inhaber der vollziehenden Gewalt alle Maßnahmen treffen, die erforderlich seien. Es bestünden dabei nur 2 Schranken: 1) von den Grundrechten könnten nur gewisse, besonders bezeichnete aufgehoben werden, 2) gewisse für den Bestand der Reichsregierung unentbehrliche Organe, wie Reichskanzler und Reichstag, könnten nicht angetastet werden. Die in Artikel 17 enthaltene Vorschrift sei als Grundrecht im Sinne von Artikel 48 Abs. 2 nicht anzusehen; somit stände nach seiner Auffassung der genannte Artikel 17 dem Vorschlage des Reichswehrministers nicht entgegen7.

7

Freistaatliche Verfassung der Länder und Verhältniswahlrecht bei Wahlen zu Landesparlamenten.

Der Reichskanzler betonte die unbedingte Notwendigkeit, im Rahmen der Reichsverfassung zu verbleiben, wo es sich gerade um Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände handle8. Die Durchsetzung der Verfassung Sachsen gegenüber würde die Stellung des Reichs Bayern gegenüber erheblich verstärken und somit einen Konflikt vermeiden lassen, dessen Folgen nicht abzusehen seien.

8

S. Aufzeichnung über die verfassungsrechtlichen Maßnahmen gegen ein Land auf Grund Art. 48 (Dok. Nr. 187).

Er sei durchaus ein Freund der Verständigung, halte aber ein energisches, klares Handeln im gegenwärtigen Augenblick für unerläßlich. Gerade bei der jetzigen Verbesserung der außenpolitischen Lage9 sei es unbedingt erforderlich, die Autorität der Reichsregierung zu stärken.

9

Wahrscheinlich bezieht sich Stresemann damit auf die Imperial Conference in London, auf der Kritik am frz. Verhalten gegenüber Deutschland geübt worden war.

Der Reichsminister für Wiederaufbau schlug vor, Sachsen gegenüber ebenso zu verfahren, wie mit Beziehung auf Bayern beschlossen10 und gleichzeitig mit allen Mitteln auf die sächsische Regierung einzuwirken zu suchen, um einen freiwilligen Rücktritt derselben oder eine sonstige geeignete Lösung zu ermöglichen.

10

S. Dok. Nr. 184.

[856] Der Reichskanzler verlas die Note, welche am gleichen Tage in München namens der Reichsregierung übergeben werde11.

11

S. Dok. Nr. 185.

Der Reichswirtschaftsminister erklärte, daß er, sofern die tatsächlichen Angaben des Reichswehrministers über die innerpolitische Lage zutreffend seien, sich dem Vorschlage des Reichswehrministers anschließe.

Der Reichsarbeitsminister erklärte sich ebenfalls mit dem vom Reichswehrminister beabsichtigten Vorgehen einverstanden und wies insbesondere auf die Notwendigkeit des beschleunigten Handelns hin. Man dürfe sich dabei nicht durch formale Bedenken aufhalten lassen. Er verspreche sich insbesondere von einem energischen Vorgehen gegen den unerträglichen Terror von links, der in Sachsen herrsche, eine günstige Einwirkung auf die sehr bedenkliche Lage in Bayern und eine Isolierung der dortigen rechtsradikalen Bestrebungen.

Der Reichskanzler übergab infolge anderweitiger Behinderung den Vorsitz dem Reichsminister für Wiederaufbau.

Der Reichswehrminister legte dar, daß der von ihm gewählte Weg gerade darauf abziele, ein gewaltsames Vorgehen zu vermeiden.

Der Reichsminister des Innern äußerte seine Bedenken, ob bei einer Durchführung der Maßnahmen die Koalition im Reiche sich noch erhalten lasse. Es sei zu befürchten, daß ein solches einseitiges Vorgehen gegen Sachsen von der Mehrzahl der Arbeiterschaft im Reiche mißverstanden und von den sozialdemokratischen Abgeordneten nicht gebilligt werde. Dadurch würden die Sozialdemokraten gerade zu den Kommunisten hingetrieben, während es doch das Ziel sei, die Kommunisten in Mitteldeutschland zu isolieren, ebenso wie die Rechtsradikalen in Bayern.

Der Reichsernährungsminister erklärte seine Zustimmung zu dem Vorschlage des Reichswehrministers und unterstrich die Notwendigkeit, sofort zu handeln und die Entscheidung nicht weiter aufzuschieben. Gerade das werde von der Regierung erwartet und weite Kreise des Bürgertums und der gemäßigten Rechtsparteien sähen ein solches energisches Handeln als Voraussetzung für den Fortbestand einer Regierung, zu welcher sie Vertrauen hätten.

Der Reichswehrminister wies darauf hin, daß durch die bereits erfolgte Übergabe der Note der Reichsregierung in München die Sache schneller in Fluß gekommen sei, als er erwartet habe. Infolgedessen sei keine Zeit mehr zu verlieren. Es dürfe nicht dazu kommen, daß die Reichsregierung das Einschreiten in Sachsen aufschiebe bis ultimative Bedingungen von München her nach dieser Richtung hin gestellt würden. Käme es erst so weit, so würden große Teile des Bürgertums auch im übrigen Deutschland sich dem bayerischen Vorgehen anschließen und die Lage der Reichsregierung unmöglich machen.

Der Reichsarbeitsminister schloß sich den Ausführungen des Reichswehrministers an und wies darauf hin, daß der gefährlichste Feind für den Bestand der Reichsregierung der Kommunismus sei; gegen diesen müsse man sich daher zuerst wenden.

Der Reichsminister des Innern regte an, vor der endgültigen Entscheidung mit dem Herrn Reichspräsidenten Fühlung zu nehmen.

[857] Der Reichsminister für Wiederaufbau bat, die Sitzung zu unterbrechen, damit er und die anderen sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts sich die Sachlage in Ruhe überdenken und gegebenenfalls mit ihren Parteifreunden darüber sich beraten könnten.

Nach einer Pause eröffnete der Reichsminister für Wiederaufbau erneut die Sitzung und schlug vor, die noch unerledigten Punkte der Tagesordnung für die Kabinettssitzung zu beraten.

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