2.214.4 (wir1p): 4. Eisenbahnerstreik.

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4. Eisenbahnerstreik.

Der Reichskanzler führt aus, die Behandlung des Eisenbahnerstreiks sei infolge der gesamtpolitischen Bedeutung der Bewegung seinerzeit von dem Kabinett in die Hand genommen worden. Hierdurch sei es unvermeidbar geworden, daß das Ressort zeitweise in die zweite Linie gerückt sei. Die Reichsgewerkschaft der Eisenbahnbeamten habe dies als einen Sieg gefeiert und es[587] so dargestellt, als ob insbesondere der Reichsminister Groener eine Niederlage erlitten habe6. Ferner sei die Reichsgewerkschaft wiederholt in der Reichskanzlei vorstellig geworden und habe Beschwerden vorgebracht, daß in Elberfeld, Essen und Münster die Richtlinien über die Maßregelungen, die seinerzeit im Kabinett aufgestellt worden wären, nicht angewendet worden seien7. Es sei aber Aufgabe des Kabinetts, über die Durchführung der Richtlinien zu wachen. Daher habe er, der Reichskanzler, die Pflicht, Beschwerden in dieser Hinsicht entgegenzunehmen. Er enthalte sich jedoch jeder materiellen Entscheidung, sondern habe das Material lediglich mit der Bitte um Äußerung dem Reichsverkehrsminister zugeleitet. Der Reichskanzler bemerkt ausdrücklich, daß der Reichskanzler dabei nicht etwa eine obere Instanz sei. Nichtsdestoweniger trete aber in solch schwierigen Lagen, die die Gesamtpolitik beeinflußten, der Reichskanzler ohnehin mehr in den Vordergrund, als es im allgemeinen entsprechend der Verfassung vorgesehen sei. Er halte es jedoch nicht für zweckmäßig, die Kompetenzen zwischen Reichskanzler und den Ministerien zur Zeit grundsätzlich festzulegen. Er, der Kanzler, habe bereits 5 Kabinetten angehört und feststellen müssen, daß man die Frage noch nicht habe hinreichend klären können. Diese Klärung müsse einer späteren Zeit vorbehalten bleiben. Er bitte nunmehr den Reichsverkehrsminister, zu dieser Frage Stellung zu nehmen.

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Darüber hatte der RVM bereits mit Schreiben vom 10.2.1922 an den RK berichtet: „Wie ich von zuverlässiger Seite höre, geben die radikalen Führer der Reichsgewerkschaft ihr Spiel nicht verloren. In dem beiliegenden Aufruf erklären sie den Streik als einen vollen Erfolg und verweisen unter Ziffer 4 insbesondere auf die Tatsache, daß ihre Vertreter vom Reichskanzler zu den Abschlußverhandlungen empfangen worden sind. Es muß damit gerechnet werden, daß die Reichsgewerkschaft versuchen wird, eine neue Streikbewegung schon in aller kürzester Zeit hervorzurufen. Es scheint, daß sie sich zu diesem Zweck der Postgewerkschaft bedienen will, die einen Streik der unteren Postbeamten herbeiführen soll, der dann in die Eisenbahner- und in eine allgemeine Beamtenbewegung übergeleitet werden würde. – Ich will nicht unterlassen, auf die immer noch bestehende Gefahr ernstlich aufmerksam zu machen und darauf hinzuweisen, daß es dringend notwendig ist, in keiner Weise von den Richtlinien abzugehen, die das Gesamtkabinett für die Streikfolgen festgesetzt hat. Zu diesem Hinweise sehe ich mich um so mehr veranlaßt, als weiter vertraulich zu meiner Kenntnis gelangt ist, daß heute wiederum ein Vertreter der Reichsgewerkschaft von dem Herrn Reichskanzler empfangen worden ist, dem Zusicherungen im Sinne einer mit den Richtlinien nicht zu vereinbarenden milden Erledigung der Disziplinarfälle gemacht worden sein sollen.“ (Schreiben des RVM und Veröffentlichung der Reichsgewerkschaft in R 43 I /2124 , Bl. 254 f.). Mit Begleitschreiben des RVM vom 12.2.1922 war dem RK ein Schreiben der Reichsgewerkschaft an alle Fachgewerkschaften, Direktionsbezirke, Landesstellen und Reichsgewerkschaftsortsgruppen vom 6.2.22 zum Ergebnis des Streiks, zur Information zugegangen; in einem Schreiben ähnlichen Inhalts unter dem 15.2.1922 benannte der RVM u. a. die Reichsgewerkschaft als Verfasser der von Dittmann im RT zum Streik gehaltenen Rede (RT Bd. 352, S. 5873  B; alle genannten Dokumente in R 43 I /2124 , Bl. 257-261, 337).

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Zu den vom Kabinett erstellten Richtlinien über die Disziplinierungen siehe Dok. Nr. 204 Anm. 3; über die Kontakte der Rkei mit der Reichsgewerkschaft siehe Dok. Nr. 208, insbes. Anm. 1.

Reichsminister Groener führt aus: Er erkenne an, daß der Reichskanzler in Fragen der großen Politik unzweifelhaft das Recht habe, gewisse Richtlinien an die Ressortminister zu geben. Tatsache sei es, daß im gegenwärtigen Falle des Eisenbahnerstreiks die Reichsgewerkschaft in breiter Öffentlichkeit den Reichsverkehrsminister gegen den Reichskanzler ausspiele. Dieses Spiel gehe jetzt[588] noch weiter. Er wisse, daß erneut Veröffentlichungen in dieser Richtung seitens der Reichsgewerkschaft beabsichtigt seien. Durch weitere derartige Verhetzungen könne nur neues Unheil entstehen. Die Reichsgewerkschaft gebe ihren Kampf noch nicht verloren. Vorbereitungen zu neuem Kampf würden getroffen. Man wolle eingehende Vorbereitungen treffen, um zu verhindern, daß beim nächsten Male wiederum ein vorzeitiger Abbruch des Streiks notwendig würde. Man wolle auch auf den Reichsverkehrsminister so einwirken, daß dieser aus Furcht nachgeben müsse. Bei dieser neuen Machtprobe, die in Vorbereitung sei, soll sich die gesamte Arbeitnehmerschaft unter der Fahne der Reichsgewerkschaft sammeln. Jede Zusage, die die Reichsregierung an die Reichsgewerkschaft gemacht habe, würde gegen den Ressortminister ausgespielt. Es heiße immer, er, der Reichsverkehrsminister, habe ein System der Rache verfolgt. Dies liege ihm aber durchaus fern. Er halte fest an seiner Verpflichtung, daß entsprechend den von dem Reichskabinett aufgestellten Richtlinien gegen die Urheber des vergangenen Streiks das Disziplinarverfahren durchgeführt werde. Er verwahre sich dagegen, daß seine Autorität in Beamtenfragen noch weiter erschüttert werde, so daß es schließlich den Anschein habe, als ob der Reichskanzler eine höhere Instanz sei.

Der Reichskanzler führt aus, er nehme die Drohungen der Reichsgewerkschaft nicht allzu ernst, er halte es jedoch für zweckmäßig, daß der Staatskommissar für Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung einmal die politische Vergangenheit der Führer des Streiks feststelle. Menne habe zweifellos schon früher eine politische Rolle gespielt. Man wisse auch gar nicht, ob Menne der mehrheits-sozialdemokratischen Partei angehöre oder ob er noch weiter links stehe8.

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Der StKom. Weismann berichtet unter dem 18.3.1922 an die Rkei: „Der Eisenbahninspektor Ernst Menne ist am 18.3.1877 in Essen geboren und in Erfurt wohnhaft. Seit dem Eisenbahnerstreik hält er sich mit kurzen Unterbrechungen, die er zum Besuche seiner Familie in Erfurt benutzte, in Berlin auf. – Menne war bis Frühjahr 1919 Eisenbahnunterassistent und bis dahin, soweit hier bekannt, weder gewerkschaftlich noch parteipolitisch tätig. Erst bei den mitteldeutschen Unruhen im Jahre 1919 ist er politisch hervorgetreten. Als Führer linksradikaler Elemente hat er zusammen mit dem Rechnungsrat Schütze den Eisenbahndirektionspräsidenten Kindermann in Erfurt abgesetzt und dessen Amt mehrere Tage selbst verwaltet. Er soll von General Maerker, welcher die Entwaffnung in Erfurt vornahm, das Angebot erhalten haben, einen höheren Posten im Ministerium zu bekleiden. Er hat dieses Anerbieten abgelehnt. Bei seinem großen Anhange ist ihm immerhin das Aufrücken in bessere Dienststellen erleichtert worden. Menne hat dementsprechend die Assistenten, sowie die Sekretärprüfung in kurzen Zwischenräumen bestanden. – Menne ist dem Vernehmen nach eingetragenes Mitglied der USPD. Er strebt danach, Gewerkschaftssekretär zu werden oder eine andere einflußreiche gewerkschaftliche Tätigkeit zu erlangen, um sich parteipolitisch mehr durchsetzen zu können. Es steht fest, daß er während der Streiktage in enger Fühlung mit den Kommunisten gestanden hat. Er gilt als besonders geschickter radikaler Agitator und ist recht überheblicher Natur. – Während des Jahres 1921 agitierte Menne in der Reichsgewerkschaft Deutscher Eisenbahnbeamter und Anwärter für einen Streik und bekämpfte die damalige Leitung der Reichsgewerkschaft wegen ihrer angeblichen Schlappheit. Seine Bestrebungen führten im November 1921 zum Erfolg, als ein neuer radikaler Vorstand gewählt und zum Vorsitzenden Menne selbst bestimmt wurde. Von diesem Augenblick an datierte die Streikstimmung in der Reichsgewerkschaft. Menne muß nach alledem als ein gefährlicher, unverantwortlicher Agitator bezeichnet werden. Seine Stellung in der Reichsgewerkschaft ist vorläufig unerschüttert, doch machen sich Anzeichen bemerkbar, daß die gemäßigteren Elemente mit dem Vorgehen Mennes nicht einverstanden sind.“ (R 43 I /2125 , Bl. 31).

[589] Vizekanzler Bauer erklärt, daß Menne schon bei dem Eisenbahnerstreik in Erfurt als Drahtzieher mitgewirkt habe. Es sei nicht bekannt, daß Menne der mehrheitssozialdemokratischen Partei angehöre. Menne sei mittlerer Beamter und fühle sich aus irgend einem Grunde besonders gekränkt und erbittert. Was die übrigen Fragen anlange, so sei auch er der Ansicht, daß der Ressortminister die erste Stelle in Fragen seines Ressorts einnehme. Aber bei Fragen allgemeiner, politischer Natur könne es auch anders sein, und das hätte man ja in der vergangenen Zeit gesehen. Über die Richtlinien hätte sich ja das Kabinett in seiner Gesamtheit geeinigt. Er halte es für richtig, daß der Reichskanzler Beschwerden entgegennehme und an die zuständige Stelle weiterleite. So sei es ja auch seinerzeit zugesagt worden. Er halte auch eine fortlaufende Unterrichtung des Reichsverkehrsministers über diese Beschwerden für notwendig. Dagegen empfehle er nicht, den Reichsverkehrsminister unmittelbar hinzuzuziehen. Gegen die falschen Nachrichten der Reichsgewerkschaft könne letzten Endes nur eine Richtigstellung durch den Reichskanzler helfen. Er erkenne an, daß durch diese falschen Nachrichten die Lage des Reichsverkehrsministers sehr erschwert sei.

Der Reichskanzler weist darauf hin, daß eine Aufklärung hinsichtlich der Nachrichtenverbreitung der Reichsgewerkschaft im Lande bereits erfolgt sei. Eine letzte Abordnung, die zu ihm gekommen sei, habe er an den Reichsverkehrsminister verwiesen. Er betone nochmals, daß er bei Beschwerden niemals materielle Stellung nehmen werde.

Reichsminister Groener geht auf die Frage des Abbruchs des Streiks ein und bemerkt, daß sein erster Schritt nach Abbruch des Streiks die Fühlungnahme mit der Reichsgewerkschaft der Eisenbahnbeamten gewesen sei. Er sei stets bereit gewesen, Vertrauensleute der Reichsgewerkschaft zu empfangen. Jedoch habe er sich dagegen verwahrt, Beamte zu empfangen, gegen die das Disziplinarverfahren eingeleitet sei. So sei denn auch eine Abordnung, bestehend aus den Herren Döbling und Faber, bei ihm erschienen, die ihm Beschwerdematerial übermitteln wollten. Dies sei jedoch nicht geschehen, so daß er auch nichts habe veranlassen können. Er habe überhaupt die Auffassung, daß alles darauf abziele, den Reichskanzler gegen den Reichsverkehrsminister auszuspielen. Wenn die Vertreter der Reichsgewerkschaft zum Herrn Reichskanzler kämen, so kämen sie im wesentlichen nicht wegen der Beschwerden, sondern um sich an den Rockschößen des Herrn Reichskanzlers festzuklammern. Er sei damit einverstanden, daß der Reichskanzler ihn in Fällen, in denen er Beschwerden entgegennehme, nicht hinzuziehe. Er bitte jedoch, ihn stets zu informieren. Über die jüngsten Vorgänge bemerke er, daß ihn am 22. abends die Reichsgewerkschaft antelephoniert habe, ob er zum Empfang ihrer Vertreter bereit sei. Er habe zugesagt, jedoch mit der Einschränkung, daß ein Empfang solcher Beamter, gegen die das Disziplinarverfahren schwebe, nicht möglich sei. Er habe diese seine Stellungnahme auch noch in einer schriftlichen Erklärung formuliert, als trotzdem Beamte, gegen die das Disziplinarverfahren eingeleitet sei, von ihm empfangen zu werden wünschten.

Der Reichskanzler bemerkt, daß man die Besprechung jetzt nicht weiter fortsetzen könne, da er mit den Parteiführern noch über den Steuerkompromiß[590] verhandeln wolle9. Er bemerke noch, daß der Reichsverkehrsminister es selbst in der Hand habe zu entscheiden, wen er empfangen wolle und wen nicht. Darauf geht er noch kurz auf die Stellung der Staatssekretäre in den Ministerien ein, die unter keinen Umständen eine selbständige Politik, die mit der Politik der Minister und des Kabinetts nicht vereinbar sei, betreiben dürften.

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Siehe Dok. Nr. 212.

Die Kabinettssitzung wird alsdann abgebrochen.

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