1.120.1 (wir2p): Wirtschafts- und Ernährungslage.

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 2Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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Wirtschafts- und Ernährungslage.

Der Reichskanzler betont zu Beginn seiner Ausführungen, daß die Regierung vor einer ernsten politischen Lage stehe. Die Zersetzung des staatlichen Geistes sei weit vorgeschritten, und es werde überaus schwierig sein, zur Linderung der Notlage des deutschen Volkes die erforderlichen Maßnahmen zu treffen beziehungsweise durchzuführen. Es sei geplant, morgen einen Ministerrat bei dem Herrn Reichspräsidenten abzuhalten, und er erwarte bis dahin, daß die Ressorts sich mit den in der gestrigen Sitzung von den Gewerkschaften überreichten Vorschlägen beschäftigt hätten und bestimmte Anträge zu stellen in der Lage wären1.

1

Zu den Gewerkschaftsvorschlägen siehe Dok. Nr. 352 Anm. 2 und unten Anm. 3, 4 und 6. Über den Ministerrat beim RPräs. vom 26.8.1922 zur Ernährungslage liegt ein hektographiertes Protokoll Meissners in den Akten (R 43 I /1132 , Bl. 241-248).

Des ferneren sei geplant, für die kommende Woche die Ministerpräsidenten und Innenminister der Länder nach Berlin zu berufen, um mit ihnen die Lage und die zu treffenden Maßnahmen zu besprechen2.

2

Siehe Dok. Nr. 357.

Die von den Gewerkschaften bezüglich der Steuern vorgebrachten Wünsche hätten gestern durch die von Staatssekretär Zapf gegebenen Auskünfte zum größten Teil ihre Erledigung gefunden. Er halte es jedoch für angezeigt, daß das Reichsfinanzministerium die Gewerkschaften mündlich über den Stand der Steuerfragen genau unterrichtet, damit Mißverständnisse über unsere Steuerlage nach Möglichkeit vermieden werden.

Daran anschließend wurden die Vorschläge der Gewerkschaften kurz durchgegangen, und zwar wurde mit den Vorschlägen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes begonnen.

Im einzelnen ist folgendes zu bemerken:

[1054] Zu 1: Reichsminister Schmidt erklärte, daß das Kabinett dem Vorschlage des Reichswirtschaftsministeriums, der auf Drosselung der Einfuhr hinzielte, ja bereits zugestimmt habe3. Das Reichswirtschaftsministerium wolle nur noch die Stellungnahme der Emser Stelle abwarten, um evtl. Hand in Hand mit dieser Stelle arbeiten zu können.

3

Der ADGB hatte in seiner Eingabe (siehe Anm. 1) unter I,1 gefordert: „Einschränkung der Einfuhr auf das geringstmögliche Maß. Insbesondere Unterbindung der Einfuhr von Luxusartikeln durch Verbot oder scharfe Anspannung der Einfuhrzölle. Als Luxusartikel gelten u. a.: Zigarren, Zigaretten, Tabake, Bier, Tee, Schokolade, Pelze, Seide; ob und inwieweit auch Kaffee darunter fallen soll, bedarf besonderer Erwägungen.“ (R 43 I /1132 , Bl. 233).

Ministerialdirektor Dr. Trendelenburg sei morgen dieserhalb in Koblenz. Anfang nächster Woche könnten die geplanten Maßnahmen in Kraft treten.

Die Frage der Kontrolle des Devisenhandels wurde nicht weiterbehandelt.

Zu den Ernährungsfragen (2)4 nahm Staatssekretär Heinrici wie folgt Stellung:

4

Unter II hatte der ADGB in dem in Anm. 1 gekennzeichneten Dokument folgende Forderungen aufgestellt, die Grundlage dieser Chefbesprechung sind: „1. Maßnahmen zur hinreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Kartoffeln. Kontrolle und evtl. schärfste Maßnahmen zur Unterbindung bzw. schärfste Überwachung des Fleischexports und Viehhandels. – 2. Verbot der Herstellung von Trinkbranntwein; eventuell Verbot der Verwendung von Kartoffeln, Getreide, Mais, Reis und sonstiger zur menschlichen Ernährung geeigneter Produkte zur Herstellung von Branntwein. – 3. Einschränkung der Bierbrauerei; Verbot der Herstellung von Bier mit mehr als 8 vom Hundert Stammwürze; Verbot der Verwendung von Zuckerrüben für die Bierbrauereien. – Wiedereinführung der öffentlichen Bewirtschaftung des Zuckers. Verbot der Verwendung von Zucker zur Herstellung von Konfitüren, Likören, Schnaps, Schaum- und Obstwein, Einschränkung des Zuckerverbrauchs bei der Herstellung von sonstigen Luxus-, Süß- und Backwaren; ferner Begrenzung der Herstellung von Kunsthonig, Marmelade und Obstkonserven nach Menge und Zuckergehalt. Beibehaltung des Ausfuhrverbots für Erzeugnisse der letzteren Art. – 5. Verschärfung der Bestimmungen, die die Erfassung der Milch und Milchprodukte lediglich für die Zwecke der Volksernährung sichern. – 6. Schärfere Ausmahlung des Brotgetreides. – 7. Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Seefischen, Bestrafung derjenigen Fischereiunternehmungen, eventuell durch Beschlagnahme der Fahrzeuge, die mehr als einen noch festzusetzenden Teilbetrag ihres Fanges an ausländische Märkte absetzen. – 8. Maßnahmen gegen den unmäßigen Aufwand in den Gast- und Speisewirtschaften, insbesondere Wiedereinführung der Bestimmung, daß nur zwei Fleischgerichte zur Auswahl stehen und nur ein solches verabreicht werden darf. Ferner Anweisung an die Kommunalbehörden, die Luxusvergnügungsstätten wie Dielen, Bars, Kabaretts, gewisse Konzertkaffees in schärfster Weise zu besteuern. – 9. Durchgreifende Maßnahmen auf dem Gebiete des Bau- und Wohnungswesens, insbesondere nach der Richtung einer gemeinwirtschaftlichen Regelung der Baustoffwirtschaft. – 10. Verschärfung der Strafbestimmungen gegen den Wucher, insbesondere auch gegen die Zurückhaltung von Waren aus gewinnsüchtiger Absicht. – 11. Für die Arbeitslosen, die Sozial- und verarmten Kleinrentner, die rentenlosen Erwerbsunfähigen und die Empfänger von Armenunterstützung sind vom Reich, den Ländern und Gemeinden besondere Einrichtungen zu treffen, um eine weitere wirtschaftliche und physische Verelendung dieser Schichten zu verhindern.“ (R 43 I /1132 , Bl. 234).

1) Die Ausfuhr von Vieh und Fleisch sei allgemein verboten, nur ganz geringe Mengen von Nutzvieh würden herausgelassen. Dies System habe sich bewährt, und er bäte, hieran nicht zu rütteln.

Was die Kartoffelversorgung anlange, so bestehe heute keine Zwangswirtschaft für Kartoffeln. Das Angebot in Kartoffeln sei zur Zeit ausreichend und auch der Preis im allgemeinen nicht als zu hoch anzusehen. Er rate, schon wegen der technischen Schwierigkeiten, von einer erneuten Einführung der Zwangswirtschaft für Kartoffeln ab.

[1055] Der Kanzler unterbrach und betonte, daß es sich hier nicht um eine normale Entwicklung handele, sondern daß der Sturz der Mark zweifellos die allgemeine Notlage ins Ungemessene vergrößere und zwangsläufig eine gewaltige Erhöhung aller Preise, auch der Kartoffelpreise, zur Folge haben werde. Infolgedessen müsse man sich jetzt schon darüber klar werden, wie man der kommenden Kartoffelnot, die wohl hauptsächlich eine Preisfrage sein werde, steuern wolle. Man müsse eventuell eine großzügige Hilfsaktion in die Wege leiten, um den Unbemittelten und weniger Bemittelten die Kartoffelversorgung zu erleichtern. Der Preußische Minister Wendorff erklärte, er könne die Ausführungen des Staatssekretärs Heinrici unterstreichen, die dahin gingen, daß es zur Zeit keine Kartoffelnot gäbe.

Der Kanzler bat die Preußischen und die Reichsressorts, sich in der Frage zu besprechen, um in der Lage zu sein, morgen genaue Vorschläge in der Richtung zu machen.

Staatssekretär Freund erklärte, auch er halte eine großzügige Notstandsorganisation für unbedingt geboten.

Ministerialdirektor Bracht machte davon Mitteilung, daß die Preußische Regierung den Gemeinden bereits Beträge zur Verfügung gestellt habe, um der kommenden Not abzuhelfen.

Der Kanzler betonte nochmals, daß eine Beratung der Ressorts ihm erforderlich erscheine und daß das Ergebnis der morgigen Beschlüsse des Ministerrats spätestens am Montag der Presse zugänglich gemacht werden müßte.

Zu 2 und 3 bemerkt Staatssekretär Heinrici, daß in der Brennereifrage vor allem das Finanzministerium beteiligt sei. Im Vorjahr seien für Branntwein 170 000 t Kartoffeln und 180 000 t Mais zur Verwendung gelangt, für Bier 660 000 t Getreide. Er könne der Anregung des Herrn Reichskanzlers entsprechend einem Verbot von Starkbier zustimmen.

Herr Reichskanzler stellt in Aussicht, über diese Herabsetzung der Stammwürze für Bier mit den Ländern zu verhandeln.

Zu 4: Was den Zucker anlange, so meint Staatssrektär Heinrici, daß man hier wohl dazu kommen müsse, das Verteilungssystem wieder einzuführen. Ob es sich empfehle, den bei den Fabriken und Betrieben lagernden Zucker voriger Ernte zu beschlagnahmen, lasse er dahingestellt. Eine im Mai vorgenommene Bestandsaufnahme habe ergeben, daß dieser gesamte Zucker höchstens den Bedarf der deutschen Bevölkerung für einen Monat decken würde. Für die kommende Ernte empfehle er die schärfsten Erfassungsmaßnahmen.

Der Kanzler erwiderte, daß es ihm undenkbar erscheine, die Schokoladenfabriken im Besitz von inländischem Zucker zu belassen, solange das deutsche Volk den Zucker entbehren müsse.

Zu 5: Staatssekretär Heinrici führte aus, es sei bedauerlich, daß in letzter Zeit die Milcherzeugung zurückgegangen sei. Bestimmte Vorschläge könne er zu dieser Frage heute noch nicht machen.

Zu 6: Die schärfere Ausmahlung des Brotgetreides, meinte Staatssekretär[1056] Heinrici, hätte gewisse volkswirtschaftliche Nachteile, über die er morgen nähere Angaben machen werde5.

5

Das Protokoll der in Anm. 1 gekennzeichneten Ministerratssitzung vermerkt dazu nur die folgende Feststellung Heinricis: „Gegen die schärfere Ausmahlung von Brotgetreide bestehen z. Zt. noch Bedenken, die Frage muß bei weiterer Verschärfung der Situation erneut geprüft werden.“ (R 43 I /1132 , Bl. 241-248, hier: Bl. 243).

Zu 7: Die Versorgung der Bevölkerung mit Seefischen sei vor allem eine Kohlenfrage. Ein großer Teil der Fischereiflotte liege auf, und zwar aus Mangel an Kohle. Liefere man den Fischern genügend Kohle, so käme in zweiter Linie die Frage der Kontrolle des Fanges, da die Gefahr bestehe, daß entweder die Fischer mit ihrem Fang fremde Häfen anliefen oder, wenn das unmöglich gemacht werde, auf hoher See ihren Fang abgeben. In seinem Ressort sei ein Referent ständig in Fühlung mit dem Kohlenkommissar, und er werde die Frage der besseren Versorgung der Fischer mit deutscher Kohle näher erörtern lassen.

Zu 8: Die zu treffenden Maßnahmen seien, wie Staatssekretär Freund betonte, in der Hauptsache Sache der Länder beziehungsweise Gemeinden. Preußen werde eine Polizeiverordnung ins Auge fassen, die den bestehenden Mißständen abhelfen solle.

Zu 9 wurde beschlossen, heute von einer Erörterung abzusehen.

Zu 10 betonte Reichsminister Radbruch, daß außer der Todesstrafe und der lebenslänglichen Zuchthausstrafe gegen Wucherer mit allen Strafen vorgegangen werde. Er sei der Auffassung, daß hier eine Verschärfung der Bestimmungen zwecklos sei.

Zu 11 wurde ebenfalls eine Hilfsaktion ins Auge gefaßt, für deren nähere Einzelheiten die Ressorts noch Vorschläge machen werden.

Im Anschluß hieran wurden die Vorschläge der Christlichen Gewerkschaften durchgesprochen, die im allgemeinen mit den Vorschlägen des ADGB parallel laufen. Die Vorschläge unter e) sollen in dem morgigen Ministerrat nicht eingehend besprochen werden, sondern einer späteren Beratung vorbehalen werden6.

6

Die Forderungen der Christlichen Gewerkschaften zählen unter E. Maßnahmen zur Produktionssteigerung auf: „a) in der Landwirtschaft 1. Ausgestaltung der am Kalisyndikat befindlichen Kreditorganisation zur Kreditierung von künstlichen Düngemitteln für die Landwirtschaft und Übernahme einer gewissen Reichsgarantie. – 2. Maßnahmen zur Erhöhung der Stickstoffproduktion. – 3. Ausnutzung der heimischen Phosphatvorkommen. – 4. Unterstützung des landwirtschaftlichen Hilfswerks. – b) in Industrie und Gewerbe. 1. Einwirkung der Regierung auf die deutschen Wirtschaftskreise, die Betriebe sowohl betriebstechnisch wie organisatorisch auf die größtmögliche Leistungsfähigkeit zu bringen. – 2. Weiterführung von Verhandlungen mit den in den Schlüsselindustrien tätigen Arbeitnehmern zwecks Erzielung freiwilliger Überarbeit, um von diesen Betrieben abhängigen Arbeitnehmern die Möglichkeit der vollständigen Ausnutzung der achtstündigen Arbeitszeit zu verschaffen. – 3. Vermeidung schematischer Erhöhungen der Eisenbahntarifsätze. Anpassung an die besonderen Absatzmöglichkeiten der einzelnen Produkte.“ (R 43 I /1132 , Bl. 219-222, hier: Bl. 222).

Zum Schluß bat der Herr Reichskanzler die Ressorts nochmals eindringlich, morgen kurze und bestimmte Vorschläge zu den einzelnen Punkten zu machen.

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