2.182 (bau1p): Nr. 180 Bericht der Reichszentrale für Heimatdienst über die Lage in Ostpreußen vom 3. März 1920

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[639] Nr. 180
Bericht der Reichszentrale für Heimatdienst über die Lage in Ostpreußen vom 3. März 19201

1

Zu den Aufgaben der der Rkei unterstellten Reichszentrale für Heimatdienst gehörte die sachliche überparteiliche Aufklärung der Bevölkerung über politisch relevante Themenbereiche. Am 20. 1. hatte der ostpr. OPräs. Winnig bei der RReg. unter Hinweis auf die „Ungunst der Verhältnisse“, die es mit sich bringe, „daß die Sache der Regierungspolitik fort und fort in der Provinz an Boden verliert“, eine Erhöhung des Propagandafonds der Landesabteilung Ostpreußen der Reichszentrale für Heimatdienst beantragt (R 43 I /1847 , Bl. 79). Der hier zum Abdruck gelangende Bericht ist die Rückäußerung der Reichszentrale auf die Bitte des UStSRkei vom 25. 1., zu Winnigs Antrag Stellung zu nehmen. Der Bericht war dem UStSRkei mit Anschreiben vom 4. 3. vom Leiter der Reichszentrale, Strahl, übersandt worden (ebd., Bl. 149).

R 43 I /1847 , Bl. 150–163

Der Grundton der Stimmung der Bevölkerung des deutsch verbleibenden Teiles Ostpreußens ist, soweit es sich von der Reichszentrale für Heimatdienst aus persönlichen Eindrücken und den ihr zugegangenen Berichten übersehen läßt, Verärgerung und Mutlosigkeit. Diese Stimmung ist das Resultat der außen- und innenpolitischen Lage der Provinz. Die Abspaltung durch den polnischen Korridor läßt das Gefühl des Verlassenseins vom Reiche immer mehr aufkommen. Die Bevölkerung ist der Meinung, daß sie nur noch durch eigene Hilfe sich halten kann. Für ängstliche Gemüter ist dabei die Einschätzung der ungeheuren Gefahr, die der Erhaltung des Deutschtums in Ostpreußen droht gegen die gewaltige slawische Gefahr, die von allen Seiten gegen diesen Außenposten des Deutschtums anbrandet, ein Ding der Unmöglichkeit. Die maßlose, von den verschiedenen Vereinigungen zur Bekämpfung des Bolschewismus mit allen Mitteln der Reklame getriebene Agitation trägt jetzt ihre traurigen Früchte. Mit riesenhaften, alle Greuel des russischen Bolschewismus in den grellsten Farben schildernden Bildern, die unterstützt wurden durch eine Flut von Greuelbroschüren und Flugblättern, sind die bürgerlichen besitzenden Kreise verängstigt worden. Die vielfachen Erzählungen der durch diese Grenzgebiete gehenden Flüchtlingsscharen lassen der Fantasie auch die neu entstandenen Staaten an der Ost-, Süd- und Westgrenze der Provinz als Bolschewistenstaaten erscheinen. In den Grenzkreisen wird diese Beunruhigung noch durch die drohenden Einfälle lettischer und litauischer Banden, die ja zum Teil schon leider Wahrheit geworden sind, noch erhöht. Wie diese Lage auch seitens der militärischen Kreise angesehen wird, geht aus dem in der Anlage beigefügten Schreiben des Wehrkreiskommandos I […] vom 30. Dezember besonders klar hervor2.

2

Nach der Lagebeurteilung in dem hier nicht abgedruckten Schreiben mußte im Frühjahr 1920 mit stärkeren bolschewistischen Angriffen aus den Anliegerstaaten Ostpreußens gerechnet werden. Da für die Abwehr die vorhandenen Reichswehrtruppen zu schwach seien, müsse auf die Einwohnerwehren zurückgegriffen werden. Die Reichszentrale wurde deshalb um deren Unterstützung ersucht, die nach außen hin privat organisiert werden sollte (R 43 I /1847 , Bl. 164 f.).

[640] Hinzu kommt noch eine weitgehende Demoralisation durch den immer weiter um sich greifenden Schmuggel- und Schleichhandel. Behauptet wird, daß eine sicher wirkende Grenzsperre gegen Litauen und Polen nicht mehr bestände, und daß die Ausfuhr wichtiger Nahrungsmittel und anderer lebensnotwendiger Erzeugnisse Formen angenommen hätte, die die größte Gefahr für die Sicherstellung der Ernährung sogar der ostpreußischen Bevölkerung selbst in sich berge, ganz zu schweigen davon, daß die Überschußprovinz Ostpreußen ihren Verpflichtungen gegenüber dem Reiche noch werde nachkommen können. Immer wieder hört man, daß die Verhinderung der Ausfuhr oftmals deshalb unmöglich sei, weil die Schieber mit ordnungsmäßig ausgestellten Ausfuhrerlaubnisscheinen des Reichskommissars für Ein- und Ausfuhrbewilligung versehen seien. Der Reichszentrale für Heimatdienst ist es bisher nicht gelungen, hierfür Beweise in ihre Hand zu bekommen. Diese Erzählungen mögen übertrieben sein; Tatsache ist aber, daß überall diese Gerüchte kursieren und zur Beunruhigung und zu einer sich immer tiefer fressenden Demoralisation beitragen. […]

Aus diesem Stimmungsuntergrund erwächst der demagogischen Agitation gegen die jetzige Regierungsgewalt, die mit allen Mitteln von rechts und von links betrieben wird, die reichste Saat. Die Agitation von rechts kann dort besonders erfolgreich schon deshalb arbeiten, weil für sie die Geschichte des ostpreußischen Landes spricht und die Erinnerung an eine Regeneration aus dem Osten, wie sie 1813 schon einmal erfolgte, den geschichtlichen Hintergrund liefert. Ostpreußen ist als vorwiegendes Agrarland schon an und für sich einer reaktionären Agitation sehr zugänglich. Es wäre falsch, sich durch den Ausfall der Wahlen zur Nationalversammlung den Blick trüben zu lassen. Die ungeheure Stimmenzahl für die Mehrheitssozialisten zu jener Zeit3 erklärt sich zum Teil daraus, daß die großen Truppenmassen, die damals in Ostpreußen lagen, ihre gewaltige Stimmenzahl in die Waagschale der zu jener Zeit den revolutionären Gedanken tragenden Partei warfen. Das Bild hat sich, wie aus den Wahlen zur Landesversammlung und den Kreistagen hervorgeht, stark zu Gunsten der Rechtsparteien verschoben4. In diesen Kreisen lebt auch der Gedanke der staatlichen Autonomie Ostpreußens, der durch die Hoffnung genährt wird, daß das Polenreich durch den Bolschewismus zerfressen werden wird und nicht zu Stande kommt, und daß dann die bisherigen deutschen Provinzen eine Anlehnung an den ostpreußischen Staat suchen werden, um so den autonomen Oststaat zu bilden5. Das sind Agitationsmomente, die,[641] wenn auch jetzt in der Öffentlichkeit klugerweise nicht hervorgekehrt werden, so doch nicht zu unterschätzen sind. Hinzu kommt noch das Desaster, mit dem das baltische Unternehmen geendet hat. Durch Verschiebung und Verdrehung der die Reichsregierung in dieser Hinsicht treibenden Motive ist es leicht, aus diesen Vorgängen reichen Stoff gegen die jetzige Regierung zu sammeln.

3

Bei den Wahlen zur NatVers. am 19.1.19 entfielen im Wahlkreis 1 (Provinz Ostpreußen) 46,1% der gültigen Stimmen auf die Wahlvorschläge der SPD; von den übrigen Parteien errang die DDP 18,8%, die DNVP 11,9%, die CVP 10,3%, die DVP 7,9% und die USPD 5,0% der gültigen Stimmen (Alfred Milatz: Wähler und Wahlen in der Weimarer Republik. S. 35).

4

Da aus dem Text nicht eindeutig erkennbar ist, welche Wahlen gemeint sind (zur PrLV bezw. zum ProvinzialLT), wird auf nähere Angaben verzichtet. Die Ergebnisse der am 26.1.19 stattfindenden Wahlen zur verfassungsgebenden PrLV lassen die behauptete Tendenz noch nicht deutlich erkennen. Einzelheiten über das Wählerverhalten in Ostpreußen s. bei Dietrich Hertz-Eichenrode: Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930. S. 65 ff.

5

Vgl. Dok. Nr. 102, insbesondere Anm. 5.

Von den Folgen des Abbruchs des Baltikumunternehmens profitiert aber nicht nur die Reaktion, sondern vor allem die Opposition von links. Dieser Agitation erwächst durch den zunehmenden Flüchtlingsstrom aus dem Baltikum eine große Menge von freiwilligen und unfreiwilligen Agitatoren. Wie immer wieder betont wird, ist zum mindesten in den Grenzkreisen eine Überflutung mit Flüchtlingen festzustellen. Die offiziellen Zahlen über die hereinkommenden Flüchtlinge, die sich nur auf einige tausend beziffern, sollen insofern der Wahrheit nicht entsprechen als sie nur diejenigen Flüchtlinge erfassen, die durch die Läger gehen. Über die „grüne Grenze“, die schon durch den reichen Waldbestand besonders unübersichtlich ist, soll ein Hin- und Herströmen von allem möglichen Gesindel unaufhaltsam sein. Unter diesem Volk befindet sich eine Unzahl bolschewistischer Agenten und zum Umsturz geneigter Elemente. Die große Menge dieser Einwanderer ist mittellos und trägt dazu bei, daß eine starke Unsicherheit in diesen Gebieten einsetzt. […] Es wird behauptet, daß die jüngere männliche Bevölkerung der bolschewistischen Agitatìon sehr zugänglich sei. Die Rückwirkung auf die ältere Generation ist dann die, daß diese vollkommen kopfscheu wird und den Kampf gegen die Umsturzideen kaum noch aufzunehmen wagt. Als Beweis dafür wird angeführt, daß vielfach die für die Einwohnerwehren ausgegebenen Waffen zurückgegeben würden, da die Sorge besteht, daß die Bolschewisten diejenigen, die mit Waffen versehen wären, sofort bei ihrem Einrücken niederschießen würden. […] Man sagt sich, wir können uns allein doch nicht helfen, das Reich kann und darf uns nicht helfen, dann lassen wir den Karren laufen, wie er eben läuft. Die überall verbreiteten Greuelgeschichten der Bolschewisten im Zusammenhang mit dem zweifachen russischen Einmarsch versetzt die Familienväter und Besitzer auch der kleinsten Anwesen in solche Angst, daß ihre innere Widerstandskraft vollkommen gebrochen ist. […]

Das gesamte Stimmungsbild gibt also für die die jetzige Regierung stützenden Parteien zu den schwersten Befürchtungen berechtigten Anlaß. Eine ruhige sachgemäße Überlegung kommt bei den mit fanatischen Argumenten arbeitenden Agitatoren von rechts und von links nicht mehr auf. Alle Agitationsmittel befinden sich in deren Hand, und man muß daher über kurz oder lang mit der Zerreißung der Mittelparteien rechnen, wenn es nicht gelingt, wieder eine ruhige Stimmung in die Bevölkerung hineinzutragen.

Durch eine planmäßig einsetzende Propaganda muß dies bei der an und für sich ruhigen und nüchtern denkenden agarischen Bevölkerung gelingen, freilich muß diese Propaganda von entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen seitens der Reichs- und Staatsregierung begleitet sein. Welches diese Maßnahmen sind, ob sie auf politischem Gebiet in einer weitgehenden[642] Autonomie Ostpreußens, auf militärischem in einem stärkeren Schutz der Grenze durch aktive Truppen und auf wirtschaftlichem in einer Revidierung der Zwangswirtschaft bestehen, steht der Reichszentrale für Heimatdienst nicht zu, hier entscheiden zu wollen6.

6

Die vorstehende Aufzählung spiegelt, wenn auch nicht erschöpfend, die im Frühjahr 1920 mit zunehmender Intensität von maßgeblichen Kräften des öffentlichen Lebens der Provinz vorgetragenen Sonderinteressen wider, die neben dem Schutz nach außen darauf abzielten, die wirtschaftliche Selbständigkeit der Provinz zu institutionalisieren und sie von Eingriffen der Berliner Zentralbehörden weitgehend zu befreien. Ungeachtet der offensichtlichen Strukturschwächen der ostpr. Wirtschaft wurde als Begründung und zum Nachweis der Benachteiligung der Provinz ihre territoriale Exponiertheit und die seit dem Kriege die Lebensmittelversorgung regulierende Zwangswirtschaft angeführt. Über die Forderungen wird vom 9.–11. 3. in Berlin zwischen Vertretern des Reichs, Preußens und der Provinz verhandelt (vgl. Dok. Nr. 182, P. 1.).

Seitens der Reichszentrale für Heimatdienst wird hiermit der Plan unterbreitet, wie die Propaganda, die auf eine Beruhigung der Bevölkerung und Festigung der Stimmung hinzielt, organisatorisch aufgezogen werden kann.

Der Kampf muß mit zweifacher Front geführt werden:

1. gegen die extremen Elemente von rechts, die ohne Berücksichtigung der innen- und außenpolitischen Folgen, auf Grund fantastischer, aus der alten militärischen Machtperiode entnommenen Ideen einen Sturz der jetzigen Regierungsform mit allen Mitteln erstreben;

2. gegen den im Augenblick wohl noch stärkeren Feind, der seine Waffen aus dem bolschewistischen Ideenkreis nimmt. Die Gefahr, die sich hieraus ergibt, ist wiederum eine doppelte,

a) eine äußere, die sich in den Übergriffen von Banden aus Lettland [!] auswirkt und hinter der die Möglichkeit steht, daß im Frühjahr die bisher allerdings nur in der Fabel bestehenden großen Armeen auf [!] Ostpreußen einrücken werden,

b) die innere Gefahr des Bolschewismus, durch die unsere Front gegen den äußeren Bolschewismus von hinten erschüttert werden kann.

Aus den von der Reichszentrale für Heimatdienst entworfenen Plänen muß die Gefahr von außen von vornherein, wenigstens soweit ihre eigenen und die ihr hierfür zur Verfügung gestellten Mittel in Frage kommen, ausscheiden. […]

Es ist von Anfang an darauf Bedacht zu nehmen, daß diejenigen Kreise, auf die die Reichszentrale für Heimatdienst sich stützen muß, durch keinerlei parteipolitische oder andere Gesichtspunkte beschränkt werden dürfen. Nur vom parteipolitischen Gesichtspunkt geführte Agitationen werden auf so starke Widerstände in den verschiedenen Kreise stoßen, daß das zu erreichende Ziel, die Sammlung aller für ruhige Entwicklung bereiten Elemente unmöglich gemacht werden wird. Dabei ist es selbstverständlich, daß die Parteien nicht ausgeschaltet werden können; es muß hier dasselbe System angewendet werden, das sich in der Agitation für die Abstimmungsvorbereitung so erfolgreich bewährt hat. Das Geheimnis der dort erzielten Erfolge liegt darin, daß eine auf parteipolitisch neutralem Boden erwachsene Organisation unter tatkräftigster Unterstützung der Parteikräfte alle Elemente gesammelt hat, die[643] sich in dem Kampfe zur Erhaltung des Deutschtums zusammenfinden lassen wollen. Durch eine sinngemäße Verkuppelung der verschiedenen Parteien in der Verwaltung der aufzubauenden Organisation muß verhindert werden, daß eine bestimmte Richtung das Übergewicht bekommt und den aufzubauenden Apparat für seine Zwecke dienstbar macht.

Gleichzeitig muß der Gedanke verwirklicht werden, daß nur in einer kräftigen Selbsthilfe des Volkes das Heil zu suchen ist. Wenn dieser Gedanke Boden gefaßt hat, so wird damit auch erreicht, daß das Vertrauen in die eigene Kraft und zur Abwehr innerer und äußerer Gefahr geweckt wird. Ist dieses Vertrauen da, so ist das Spiel gewonnen. Eine von oben eingesetzte Organisation wird nicht den Boden finden in der Bevölkerung, der notwendig ist zur vertrauensvollen engen Zusammenarbeit aller Bevölkerungskreise.

Die Verwirklichung dieses Gedankens ist im Großen in der verschiedensten Weise zum Ausdruck gekommen, z. B. in Volksräten, Arbeitsgemeinschaften und Heimatvereinen. In Ostpreußen haben besonders die Heimatvereine Boden gefaßt. Die Ausbreitung des Gedankens der Zusammenfassung der Bevölkerung in solchen Vereinen ist vor allem unter der Notwendigkeit des Zusammenschlusses des Deutschtums bei der kommenden Volksabstimmung in die Tat umgesetzt. Träger dieses Gedankens ist der Ostpreußische Heimatdienst, der für das Abstimmungsgebiet in Allenstein und für das freie Gebiet in Königsberg seinen Sitz hat.

In diesem Zusammenhang muß vorläufig das Abstimmungsgebiet ausscheiden, da eine unmittelbare Einwirkung auf die Bevölkerung dort seitens der besetzenden Behörden wohl kaum zugelassen wird. Bei einer stärker anschwellenden bolschewistischen Gefahr, mit der sicher zu rechnen sein wird, wenn in Warschau die radikalen Strömungen ans Ruder kommen, werden die Entente-Kommissionen sicher eine Gegenagitation und Propaganda begünstigen. Da aber vorläufig die polnische und bolschewistische Agitation in Wirklichkeit identisch sind und die Entente-Behörde im Anfang kaum diese Identizität der beiden Agitationen erkennen wird, so wird sie sicher eine von deutscher Seite einsetzende Gegenagitation nur als einen schlechten Deckmantel zur Agitation gegen das Polentum betrachten und deshalb mit allen Mitteln hintertreiben.

Die Grundidee, welche zur Ausbreitung der Heimatvereine hauptsächlich beigetragen hat, ist die Liebe zur Heimatscholle, die in dem Agrarland Ostpreußen ganz besonders Wurzel schlägt. Die Stärkung dieses Gedankens ist die höchste Pflicht der Staatsgewalt und deckt sich, wenn die Organe richtig geleitet werden, mit den politischen Interessen des deutschen Reiches, obwohl die Gefahr des Einschleichens reaktionärer Elemente hier besonders groß ist. Es kommt also darauf an, den Gedanken der Heimatvereine für die Konsolidierung und Festigung der jetzigen Staatsverfassung zum Aufbau des Wirtschafts- und politischen Lebens des deutschen Volkes zu benutzen.

Für jeden Kreis sind Heimatvereine zu gründen, resp[ektive] die schon vorhandenen zu stärken, die dann wieder in jeder Ortschaft ihren Unterverein haben resp. Vertrauensleute, denen das Propagandamaterial überwiesen wird,[644] um so die propagandierenden Gedanken ins Volk hineinzutragen. Es wird hierbei das Schwergewicht auf die Mundpropaganda gelegt, da die Wirkung des geschriebenen resp. gedruckten Wortes auf die bäuerliche Bevölkerung nur von geringem Einfluß sein kann. Will man aber eine wirklich intensive Aufklärungstätigkeit erreichen und die Vertrauensleute immer fest in der Hand behalten, so ist es notwendig, sie öfters in den Kreisstädten zusammenzunehmen und ihnen mündlich das Material zu geben. Gleichzeitig wird es notwendig sein, kürzere Ausbildungs- und Belehrungskurse in den Kreisstädten abzuhalten, um in diesen die wirtschaftlichen und politischen Fragen zu besprechen. Zusammengehalten wird der ganze Apparat durch Propagandisten, die von Ort zu Ort fahren, um dort werbend für den Gedanken des Heimatvereins zu wirken. Diese Arbeiten können aber nur bei Aufwendung entsprechender Geldmittel verwirklicht werden. Eine ehrenamtliche Tätigkeit ist, außer für die Propagandisten, für sämtliche Kreis-, Ob- und Vertrauensleute vorgesehen, aber nur soweit, als diesen keine besonderen Kosten erwachsen; alle Reisekosten und Diäten müssen bezahlt werden. Eine Nichtbezahlung der entstehenden tatsächlichen Unkosten würde dazu führen, daß nur die besitzenden Kreise sich mit der Erfüllung der Obliegenheiten dieser Posten befassen können. Das wäre eine Wirkung, die dem Geiste der Verfassung nicht entspräche.

[Es folgt eine Aufstellung der entstehenden Kosten; vgl. dazu den Antrag am Schluß des Berichts.]

Wie bereits oben ausgeführt ist, kommt für die Ausübung der vorstehend skizzierten Aufklärungstätigkeit nur eine Organisation in Frage, die nicht mit einer einseitigen parteipolitischen Bindung belastet ist. Gleichzeitig muß diese Organisation durch eine neutrale amtliche Stelle kontrolliert werden, damit dadurch verhindert wird, daß sie in ein einseitiges parteipolitisches Fahrwasser gerät. Die Organisation des Ostpreußischen Heimatdienstes bringt diese Vorbedingungen mit. Wie aus der in der Anlage beigefügten Skizze hervorgeht, ist die Organisation des Heimatdienstes bereits über das ganze ostpreußische Gebiet ausgedehnt7. Eine Kontrolle über die Maßnahmen dieses Vereins läßt sich sehr leicht durch die Landesabteilung der Reichszentrale für Heimatdienst Königsberg durchführen; denn diese bietet durch ihre personelle Besetzung die Garantie, daß die aufgewandten Gelder nicht in anderem als Regierungssinne verwandt werden, zumal, da diese Landesabteilung durch enge Fühlungnahme des Landesabteilungsleiters8 mit dem Herrn Oberpräsidenten Winnig und das persönliche Freundschaftsverhältnis zwischen[645] dem Herrn Oberpräsidenten und dem in der Landesabteilung tätigen sozialdemokratischen Vertrauensmann sichergestellt ist. Durch diese Verbindung ist auch die Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsapparat gewährleistet.

7

Als Zusammenfassung der mit nationaler und antibolschewistischer Aufklärungs- und Werbetätigkeit befaßten ostpr. „Heimatdienst“-Vereinigungen war am 12.7.19 unter Anwesenheit von Mitgliedern aller Parteien von der SPD bis zur DNVP der „Ostdeutsche Heimatdienst, Landesverband Ostpreußen“ auf die Rechtsgrundlage eines eingetragenen Vereins mit Sitz in Königsberg gestellt worden (vgl. Rudolf Klatt: Ostpreußen unter dem Reichskommissariat 1919/1920. S. 150 ff.). – Der beigefügten, hier nicht abgedruckten Skizze ist die organisatorische Einteilung des Landesverbandes in 8 Bezirks- und weitere Kreisstellen zu entnehmen. Unter den namentlich aufgeführten 29 Organisationsleitern überwiegen die Vertreter des Schul- und Lehrerberufes (R 43 I /1847 , Bl. 166).

8

Dr. von Scheubner-Richter; er war auch im „Heimatdienst“ führend tätig.

Es besteht die Gefahr, daß der ganze Apparat des Ostpreußischen Heimatdienstes in die Hände der einseitig nach rechts gerichteten Parteipolitik tritt. Die Gefahr ist deshalb so groß, weil sich in Ostpreußen ein neuer „Heimatbund“ bildet, der sich selbst als eine politische Kampforganisation hinstellt. Träger dieses Heimatbundes sind die reaktionär gerichteten Kreise Ostpreußens. Dieser Bund ist deshalb ein so gefährlicher Gegner, weil ihm geradezu unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung stehen. Die Landwirte haben meistens durch die hohen Preise sehr viel flüssige Mittel zur Verfügung und geben diese Gelder lieber jetzt schon an diejenige Stelle, von der sie hoffen können, daß ihre wirtschaftlichen und politischen Ideale tatkräftig vertreten werden, als daß sie auf das Notopfer warten. Das Wort „Dieser Regierung und Erzberger keinen Pfennig“ hat unter diesen Kreisen eine gewaltige Werbekraft. In einer einzigen Versammlung in Insterburg wurden für den Heimatbund M 175 000,– gezeichnet. Gerüchtweise ist der Reichszentrale für Heimatdienst zu Ohren gekommen, daß die Abgabe von ⅓ des freien Vermögens verlangt und gezahlt wird. In der Anlage wird ein der Reichszentrale für Heimatdienst zugegangener Bericht über den Heimatbund übersandt9.

9

Der „Heimatbund Ostpreußen“ war 1919 von dem ostpr. Generallandschaftsdirektor Kapp, zunächst als militanter antirepublikanischer Geheimbund konzipiert, gegründet worden. In dem hier nicht abgedruckten Bericht werden Ziele, Aufbau und geplante Aktionen des Heimatbundes skizziert. Eine Aufzählung „geistesverwandter Organisationen“ nennt als zur Zusammenarbeit mit dem Bund bereite Kräfte die Rechtsparteien, ihnen nahestehende Sammlungsbewegungen sowie Angehörige der hohen Beamtenschaft, des Offizierskorps, der Wirtschaftsvereinigungen, des Großgrundbesitzes usw. Angesichts der den Bund als ostpr. Selbstschutz- und Interessenverband auffassenden Mehrheit der Mitglieder unter Führung des 2. Vorsitzenden, Landeshauptmann von Brünneck, ist dem Berichterstatter die Haltung des Bundes gegenüber dem Reich und seiner Regierungsform „noch nicht ganz klar“. Auf jeden Fall mache sich der „Heimatbund“ zum „Anwalt Ostpreußens vor Regierung und Öffentlichkeit“. Seine Ziele „können weiter liegen. Die neutrale Haltung gegenüber der Regierung ist vielleicht vorläufig Taktik einer anscheinend gemäßigten, aber klugen, zielbewußten Führung. Das Anschlagen einer allmählich schärferen Tonart gegenüber der Regierung beruht einmal auf der Notwendigkeit der Einführung bestimmter Maßnahmen, zum anderen vielleicht auf dem möglichen Emporkommen der radikalen Elemente im Heimatbund. […] Er wird es voraussichtlich zum Bruch mit dem Reich kommen lassen, wenn die Regierung seiner Agitation nicht den Boden entzieht durch eine umfassende Regelung der ostpreußischen Lebensfragen, wie sie sich aufgrund des Friedensschlusses gestaltet haben“ (R 43 I /1847 , Bl. 168–176). Dem Bericht zufolge fehlten „bündige Belege“, um den „Heimatbund“ mit einem als möglich erachteten Rechtsputsch in Verbindung zu bringen (a.a.O., Bl. 173). – Tatsächlich gelang es dem „Heimatbund“, ohne nachhaltige Konsequenzen die politische Krise des durch seinen 1. Vorsitzenden mitinszenierten Kapp-Lüttwitz-Putsches zu überstehen. Vgl. dazu Dieter Hertz-Eichenrode: A.a.O., S. 72 f.

Wenn jetzt von seiten der Regierung durch den oben angedeuteten Kanal Gelder zur Aufklärungstätigkeit gegeben werden, so steht zu hoffen, daß durch dieses tatkräftige Eingreifen die Resignation der auf mittlerer Linie stehenden Elemente erfolgreich bekämpft werden kann. Wird das Geld jetzt aber nicht sofort gegeben und die Arbeit nicht sofort angefangen, so wird bald in Ostpreußen durch die von den radikalen Elementen von rechts und von links[646] mit rücksichtloser Gewalt einsetzende Agitation, deren Geldmittel auf beiden Seiten unbeschränkt scheinen, die Mitte vollkommen aufgerieben, und es muß zu den schärfsten Kämpfen kommen. Das Resultat dieser Kämpfe wird durch die Ausscheidung der mittleren besonnenen Elemente zu der Herrschaft der Extremen, entweder von rechts oder von links führen, und auf diese Weise sicher zur Losspaltung Ostpreußens von dem jetzigen Reichsgebilde und zu seinem Untergang führen.

Es wird um eine besondere Zuweisung von M 500 000,– für die Automobilpropaganda gebeten.

Die Reichszentrale für Heimatdienst schlägt vor, daß die vorläufig mit einem Geldaufwand von M 150 000,– monatlich die oben festgelegte intensive Aufklärungstätigkeit beginnt. […] es wäre in Anbetracht dessen, daß es sich hier um rein preußische Gebiete handelt, richtig, wenn seitens der Preußischen Regierung zu den hierfür aufgewandten Fonds in der halben Höhe, d. h. also mit M 225 000,– beigesteuert würde.

Um aber das sofortige Einsetzen der Aufklärungstätigkeit nicht durch die notwendig werdenden Verhandlungen mit den preußischen Stellen zu verzögern, bittet die Reichszentrale für Heimatdienst um die Ermächtigung, den Aufklärungsapparat jetzt schon in der skizzierten Form beginnen zu dürfen10.

10

Der PrIM hatte mit Schreiben vom 5. 2. an den RK den in Anm. 1 zit. Antrag des OPräs. Winnig „auf Erhöhung der Mittel aufs wärmste“ unterstützt (R 43 I /1847 , Bl. 104). Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch kündigte die Reichszentrale für Heimatdienst der Rkei die Vorlage eines neuen Propagandakonzepts an (hschr. Aktenvermerk RegR Wevers vom 10.5.20; R 43 I /1847 , Bl. 149). – Zum Fortgang s. diese Edition: Das Kabinett Müller I, Dok. Nr. 93.

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