1.54.1 (bru2p): Bericht über die Genfer Tagung des Völkerbundsrats und der Europa-Kommission.

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Bericht über die Genfer Tagung des Völkerbundsrats und der Europa-Kommission.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte im wesentlichen folgendes aus1:

1

Der VB-Rat hatte vom 18.–23. 5., die Europakommission vom 15.–21.5.31 in Genf getagt (Schultheß 1931, S. 538–546, S. 568–572).

I. Deutsch-österreichische Zollunion:

Die Situation habe sich nach der entscheidenden Sitzung des Reichskabinetts vor der Genfer Tagung2 für Deutschland noch verschlechtert gehabt.[1107] Briand sei nach seinem Mißerfolg bei der französischen Präsidentenwahl3 besonders unnachgiebig gestimmt gewesen, und die Mehrheit der übrigen Mächte habe es geflissentlich vermeiden wollen, Briands Prestige weiter zu schmälern, und ferner sei Österreich durch die Schwierigkeiten der Österreichischen Kreditanstalt4 in seiner Entschlußfreiheit stark gehemmt worden. Immerhin dürfe er feststellen, daß Deutschland, nachdem es den Vorstoß in der Zollunionsfrage gemacht habe, in Genf das durch den Vorstoß gewonnene Terrain im wesentlichen gehalten habe. Die Österreicher hätten sich wacker geschlagen und seien in der Sache selbst festgeblieben. Bei den Verhandlungen des Völkerbundsrats zur Sache habe England den Antrag auf Nachprüfung des deutsch-österreichischen Abkommens durch die Haager Cour gestellt5. Hiermit habe er sich abfinden müssen. In der Aussprache seien neben den rechtlichen Gesichtspunkten auch politische und wirtschaftliche Ausführungen gemacht worden. Dies habe er nicht verhindern können, da von vornherein festgestanden habe, daß die ganze Angelegenheit nicht nur vom Rechtsstandpunkt aus behandelt werden könne. Was er aber verhindert habe, sei, daß irgendwelche Anträge politischer Natur gestellt wurden. Der englische Antrag sei einstimmig angenommen worden. Über die Aussichten Deutschlands vor der Haager Cour lasse sich nicht viel sagen. Nicht zu leugnen sei, daß in der Sache ein großes Risiko liege. In Genf habe es aber nicht an recht beachtlichen Stimmen gefehlt, die die deutsche Sache für unanfechtbar ansehen. Wenn die Haager Cour zu unseren Gunsten entscheiden sollte, werde Deutschland es sich nicht gefallen lassen können, als Friedensstörer vor das Forum des Völkerbunds gezogen zu werden. Diesen Standpunkt habe er in der Aussprache für seine Person von vornherein unzweideutig festgelegt. In der entscheidenden Ratssitzung habe sich dann der bekannte Zwischenfall Henderson–Schober ereignet6. Henderson habe ihm erst im Augenblick des Beginns der Ratssitzung, als er – Curtius – bereits auf seinem Präsidentenstuhl gesessen habe, erklärt, daß er genötigt sei, in der Sitzung an den Vizekanzler Schober eine ergänzende Frage betreffend die Weiterverfolgung der Zollunion zu stellen. Schober selbst habe in der Sitzung auf die Frage zunächst ausweichend geantwortet. Henderson habe seine Frage jedoch in präziser Form wiederholt. Sie sei dahin gegangen, ob Österreich bereit sei, jede weitere Verhandlung in der Zollunionsfrage zu unterlassen, bis der Rat sich nach der Entscheidung der Haager Cour erneut mit der Angelegenheit befaßt haben werde. Herr Schober habe die Frage alsdann auf die Wiederholung Hendersons hin vollinhaltlich bejaht. Nach der Sitzung habe er, Curtius, Henderson zur Rede gestellt. Henderson habe ihm erwidert, daß er sich in einer Zwangslage befunden habe. Er habe nämlich an Abend vorher die Angelegenheit mit den Franzosen vorerörtert. Dabei seien die Franzosen mit der Forderung hervorgetreten, Herrn Schober eine Demütigung in der Sitzung zu bereiten.[1108] Diesen Plan habe er nur dadurch abwenden können, daß er sich zu der ergänzenden Anfrage bereit erklärt habe. Die Formulierung dieser Anfrage sei erst unmittelbar vor Beginn der Sitzung fertiggeworden und habe der Deutschen Delegation nicht eher mitgeteilt werden können. Schober selbst habe später der Presse gegenüber erklärt, daß an dem bisherigen Verfahren nichts geändert werde, und daß er selbstverständlich mit Deutschland weiter in der Angelegenheit die Fühlung aufrechterhalten werde, zumal, da Deutschland und Österreich ja in dem Verfahren vor der Haager Cour Streitgenossen seien.

2

S. Dok. Nr. 296.

3

Am 13.5.31 war Briand bei der Wahl zum Präs. der Frz. Republik seinem Gegenkandidaten Paul Doumer unterlegen (Schultheß 1931, S. 367).

4

Vgl. Dok. Nr. 298 und Dok. Nr. 305.

5

Henderson hatte diesen Antrag in der Ratssitzung vom 18.5.31 gestellt (WTB Nr. 1022 vom 18.5.31, R 43 I /115 , Bl. 15).

6

Ratssitzung vom 18.5.31. Vgl. WTB Nr. 1022 vom 18.5.31, R 43 I /115 , Bl. 15–16.

II. Generalakte:

Die Generalakte sei während der Tagung von Frankreich, England und Italien ratifiziert worden. Bei diesen drei Hauptmächten und einigen anderen Mächten, die sich der Ratifizierung gleichfalls angeschlossen hätten, habe die Absicht bestanden, die Niederlegung der Ratifikationsurkunden zu einer besonders feierlichen Aktion auszugestalten mit einer gewissen Spitze gegen Deutschland, das die Ratifizierung bisher abgelehnt habe. Es sei ihm jedoch gelungen, diesen Versuch, Deutschland anzuprangern, zu vereiteln, und die Aktion sei schließlich ziemlich unbeachtet vorübergegangen7.

7

Anläßlich der Unterzeichnung der Generalakte über die friedliche Regelung innerstaatlicher Streitfälle durch die drei genannten Staaten und Indien hatte der RAM als Ratspräs. die Beitrittserklärungen als Erfolg der Bemühungen um den Ausbau der Mittel zur friedlichen Erledigung zwischenstaatlicher Streitigkeiten gewürdigt. Er hatte gleichzeitig darauf hingewiesen, daß die Bundesversammlung 1928 den Mitgliedsstaaten des VB zwischen dem Beitritt zur Generalakte und dem Abschluß zweiseitiger Schlichtungsverträge die Wahl gelassen habe. Er hatte die Hoffnung ausgesprochen, daß die Entwicklung des Schiedsgerichtswesens auf dem einen oder anderen Wege weitere Fortschritte machen werde (Runderlaß v. Weizsäckers vom 6.6.31 über die 63. VB-Rats-Tagung in R 43 I /495 , Bl. 402–411, hier Bl. 405; Wortlaut der Erklärung des RAM in R 43 I /495 , Bl. 412). Vgl. auch Schultheß 1931, S. 543 f.

III. Abrüstungsfrage:

Deutschland habe den Vorschlag gemacht, daß die Mächte zur Vorbereitung der Abrüstungskonferenz einer Offenlegung ihres Rüstungsstandes zustimmten. Das zu diesem Zweck vorgeschlagene deutsche Schema sei abgelehnt worden. England habe ein anderes, weniger weitgehendes Schema vorgeschlagen. Dieses sei in verschlechterter Form angenommen worden. Die Deutsche Delegation habe von vornherein nicht mit der Annahme ihres Vorschlages gerechnet. Der Antrag sei nur als Demonstration gedacht gewesen. Tatsächlich sei durch den deutschen Antrag auch mit aller Deutlichkeit festgestellt worden, daß die Vorbereitung der Abrüstungskonferenz nur mangelhaft sei. Die von ihm abgegebene Erklärung zur Sache habe dies sehr deutlich ausgesprochen. Bei der Abstimmung habe er sich der Stimme enthalten, und erst dadurch sei eine Entscheidung in der Sache möglich geworden8.

8

Vgl. den Bericht in Weizsäckers Runderlaß vom 6.6.31, R 43 I /495 , Bl. 403–404.

IV. Danzig:

Über den zur Sache vorliegenden Bericht sei tagelang gerungen worden. Polens Versuche, den Bericht zu Ungunsten Danzigs zu beeinflussen, seien mißlungen,[1109] und Polen habe sich daraufhin der Stimme enthalten. Danzig habe sich mit der vorgeschlagenen Lösung abfinden können und habe für den Bericht gestimmt. Als Henderson am Schluß der Aussprache eine einseitige Stellungnahme zu Ungunsten von Danzig treffen zu können glaubte, habe er als Ratspräsident das Gleichgewicht wiederhergestellt und hinzugefügt, daß auch von polnischer Seite in Zukunft Störungen zu unterbleiben hätten. Dieses Eingreifen habe Polen zum Anlaß einer Beschwerde über seine Amtsführung genommen. Diesen polnischen Angriff habe er jedoch mit einer Handbewegung als unberechtigt und unzulässig abweisen können9.

9

Polen hatte unter Berufung auf den VV vom Danziger Senat die Gleichstellung der in der Freien Stadt lebenden poln. Staatsangehörigen mit den Danziger Stadtbürgern verlangt. Der VB-Kommissar für Danzig, Graf Gravina, hatte daraufhin in seinem Bericht empfohlen, den Internationalen Gerichtshof um ein Rechtsgutachten zu ersuchen.

Am 15.4.31 war der poln. Generalkommissar in Danzig, Strasburger, von seinem Posten mit der Begründung demissioniert, er sei nicht mehr in der Lage, den persönlichen Schutz der in Danzig lebenden Polen zu garantieren; Strasburger hatte empfohlen, poln. Truppen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Danzig einrücken zu lassen. Gravina hatte die Vorwürfe zurückgewiesen. Nachdem der von Henderson erstattete Rapport unter Stimmenthaltung Polens angenommen worden war, hatte Henderson an Danzig wegen Verhütung von Ausschreitungen appelliert. Der RAM hatte als RatsPräs. daraufhin an beide Teile die Ermahnung gerichtet, jegliche Provokation zu unterlassen. Gegen dieses Schlußwort hatte der poln. Ratsvertreter Sokal nachträglich protestiert, doch dieser Protest war in einer dt. Antwortnote zurückgewiesen worden (Runderlaß von Weizsäckers vom 6.6.31, R 43 I /495 , hier Bl. 408–410).

V. Memel:

Die Litauer hätten sich bisher geweigert, sich vor die Haager Cour zitieren zu lassen. Durch die Beratungen sei erreicht worden, daß sie in der Zukunft in der Frage der Memelkonvention die Haager Cour anerkennen und es stehe zu hoffen, daß die Auslegung der Konvention im Haag im Sinne der Memelländer ausfallen werde. Schwierigkeiten habe sodann noch die Finanzausgleichsfrage bereitet. Auch diese Frage solle in Zukunft vor die Sachverständigen des Völkerbundsrats gebracht werden. Mit dieser Lösung seien die Memelländer zufrieden10.

10

Zum Memelstreit s. Dok. Nr. 130, Anm. 11 und 12 und Dok. Nr. 227.

VI. Oberschlesien:

Die Sache sei insofern für Deutschland gut gelaufen, als Polen es verabsäumt gehabt habe, seinen Bericht rechtzeitig vorzulegen. Er sei erst am zweiten Tage der Ratstagung eingegangen11. Infolgedessen habe er das formale Recht zu einem Vertagungsantrag gehabt. Auch aus sachlichen Gründen habe man es den deutschen Minderheiten in Polen nicht zumuten können, zu dem Bericht keine Stellung zu nehmen. Die Minderheiten hätten zwar kein Recht, offiziell gehört zu werden, immerhin aber habe man ihnen bisher stets das Recht zur Stellungnahme eingeräumt. Eine Stellungnahme sei um so notwendiger gewesen, als der Woiwode nicht abberufen und der Aufständischen-Verband nicht aufgelöst worden sei. Trotzdem sei eine Beruhigung der Lage weitgehend[1110] eingetreten. Die Polen hätten sich unter dem Druck der Völkerbundsentscheidung merklich zurückgehalten. Die Minderheiten selbst hätten ausdrücklich gewünscht, daß der Woiwode nicht beseitigt wird, im Gegenteil, man habe sich inzwischen mit ihm abgefunden. Der japanische Berichterstatter [Yoshisawa] habe allerdings die Absicht gehabt, den Bericht sofort zur Verabschiedung zu bringen. Er – Curtius – habe dem Berichterstatter jedoch erklärt, daß er nicht in der Lage sei, den Bericht festzustellen. Diese Stellungnahme sei von dem Japaner nicht sehr freundlich aufgenommen worden. Er habe jedoch mit Henderson gesprochen, und Henderson habe sich vollständig auf den deutschen Standpunkt gestellt. Henderson selbst habe gleichfalls Schwierigkeiten mit den Polen in seiner Eigenschaft als Berichterstatter über die Vorgänge in der Ukraine12 gehabt. Aus diesem Grunde habe er in Henderson einen bereitwilligen Bundesgenossen gefunden. Mit der Unterstützung Hendersons sei die Vertagung ohne Schwierigkeiten gelungen13.

11

Der Bericht, den die Poln. Reg. entsprechend dem Beschluß des VB-Rats vom Januar 1931 (Dok. Nr. 227, Anm. 17) vorlegen sollte, war am 19.5.31 dem Rat zugeleitet worden.

12

Vgl. Dok. Nr. 227, Anm. 18.

13

S. dazu Dok. Nr. 455, P. 1.

VII. Europa-Ausschuß:

Die Verhandlungen im Europa-Ausschuß seien nach kurzer Zeit völlig von den französischen Vorschlägen beherrscht gewesen. Dabei habe es sich um vier verschiedene Dinge gehandelt14:

14

Vgl. Dok. Nr. 293, Anm. 6 und 7.

a) die Agrarbank,

b) um die Vorschläge zur wirtschaftlichen Neuorganisation Europas,

c) um die Präferenzzölle,

d) um besondere Vorteile, die Österreich gewährt werden sollen.

Bezüglich der Agrarkreditbank sei er in die Lage versetzt worden, sich für Deutschland an der Gründung der Bank zu beteiligen, entsprechend den Beschlüssen des Reichskabinetts vor Beginn der Genfer Tagung. England habe zwar nicht mit unterzeichnen können wegen des Widerstandes seiner Dominien. Vielleicht werde es der englischen Regierung jedoch möglich sein, diese Widerstände später zu überwinden. Der europäische Charakter des Instituts sei gewahrt worden. Zum Sitz der Bank sei Genf bestimmt worden. Ob die Bank allerdings eine besondere Bedeutung erlangen werde, sei fraglich. Auf der Herbsttagung des Völkerbundes werde darüber weiter zu berichten sein.

Der Plan der internationalen Neuorganisation Europas sei im Grunde genommen der Vorschlag der Einführung einer internationalen Planwirtschaft. Man sei ziemlich allgemein der Auffassung, daß der französische Plan sich schon sehr bald als undurchführbar herausstellen und daß er infolgedessen ganz zusammenbrechen werde.

Eine Kartellierung der Maschinenindustrie mit der Textilwirtschaft, von der im Komitee die Rede gewesen sei, sei nach Urteil aller Sachverständigen praktisch undurchführbar.

Auch mit den Vorschlägen über die Einführung von Präferenzzöllen habe Frankreich keine Erfolge erzielt. Der französische Plan in seiner ursprünglichen[1111] Gestalt sei bereits abgelehnt. Frankreich habe sich ziemlich herbe Kritik sogar von seiten der Südost-Staaten gefallen lassen müssen. Selbst Benesch sei von dem Plan multilateraler Verhandlungen über Präferenzzölle deutlich abgerückt und habe zu verstehen gegeben, daß auch er nur bilaterale Verhandlungen für möglich halte.

Für ein einseitiges Präferenzsystem sei Österreich nicht zu haben gewesen. Auch dieser Plan sei schon jetzt gescheitert. Ob den Österreichern eine Anleihe gegeben werden solle, stehe noch nicht fest. Praktische Ergebnisse seien bezüglich dieser Frage während der Konferenz nicht erzielt worden15.

15

Ein Runderlaß v. Weizsäckers vom 31.5.31 über die Tagung des Europa-Komitees befindet sich in R 43 I /619 , Bl. 210–213.

VIII. Stellung Rußlands im Europa-Ausschuß:

Die Stellung Rußlands sei gegen früher stark verschoben gewesen. Der russische Vertreter [Litwinow] habe eine verständige Rede gehalten. Bemerkenswerterweise habe Polen die russische Forderung nach einem non aggression pact auf wirtschaftlichem Gebiet unterstützt. In ähnlichem Sinne habe sich auch Henderson geäußert. Überraschenderweise habe auch Briand solche Erklärungen abgegeben. Briand gehe auf einen Schlichtungsvertrag mit den Russen aus. Ja, er wolle sogar einen politischen Vertrag mit Rußland zustande bringen. Das Thema der Vorkriegsschulden werde dabei nicht wieder aufgegriffen werden. Alles in allem könne man also eine sehr wesentliche Wendung im Verhältnis zu Rußland feststellen, und die Russen würden sicherlich bald von dieser Wendung zu profitieren suchen. Auch das Reichskabinett werde sich demnächst mit dem russischen Antrag eines non aggression pact auf wirtschaftlichem Gebiet besonders zu befassen haben.

IX. Verhältnis zu Rumänien:

Titulescu habe deutlich zu verstehen gegeben, daß Rumänien daran gelegen sei, die Handelsvertragsverhandlungen mit Deutschland baldigst wieder aufzunehmen, und zwar auf der Grundlage bilateraler Präferenzzölle. Er habe Titulescu keinen Zweifel daran gelassen, daß es für Deutschland gänzlich unmöglich sei, sich nochmals in die Lage versetzen zu lassen, daß die Verhandlungen unter französischem Druck abgebrochen werden müßten. Unter dieser Voraussetzung habe er sich bereit erklärt, die Verhandlungen etwa am 20. Juni mit Rumänien wieder aufzunehmen, und zwar in Berlin. Überhaupt habe er sich gegenüber Titulescu reserviert verhalten. Es sei aber zu hoffen, daß die Verhandlungen mit Rumänien nunmehr zum Ziele führen würden16.

16

Vgl. Dok. Nr. 286 und Anm. 4.

X. Allgemeine Lage:

Man habe nach außen hin vielfach den Eindruck gehabt, daß Deutschland in Genf isoliert dagestanden habe. Dieser Eindruck sei nur scheinbar richtig. Im Verlaufe der Tagung habe man sich von Tag zu Tag der Deutschen Delegation immer mehr genähert. Besonders Henderson habe in persönlichen Gesprächen überzeugend erkennen lassen, daß England eine Isolierung Deutschlands nicht[1112] mitmachen wolle, und er habe in betonter Weise versichert, daß er hoffe, in Chequers mit den deutschen Staatsmännern über die gesamte politische Lage eingehend zu sprechen17.

17

Der RAM hatte am 15.5.31 eine Unterredung mit Henderson. Für die Begegnung in Chequers hatte man sich auf eine allgemeine Aussprache über die gesamte Lage ohne spezielles Programm geeinigt. Henderson habe betont, daß das Zollunionsprojekt auch dazu beigetragen habe, Briands Stellung zu schwächen (Durchschrift einer Aufzeichnung des RAM vom 15.5.31, R 43 I /115 , Bl. 6–8).

Marinković18 habe ihn, Dr. Curtius, in einer öffentlichen Sitzung einmal ganz ostentativ unterstützt. Mit den Ungarn, die sich anfangs etwas reserviert verhalten hätten, sei er später in bestes Einvernehmen gekommen. Sie hätten erkennen lassen, daß es ihnen aufrichtig darum zu tun ist, in guten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland zu stehen.

18

Vojeslav Marinković, jugoslawischer Außenminister.

Trotzdem bleibe die Lage Deutschlands sehr schwierig. Deutschland sei in der unangenehmen Lage, die übrigen Mächte aufrütteln zu müssen. Diese Aufgabe werde erklärlicherweise zunächst nicht angenehm empfunden. Aber Deutschland dürfe sich deshalb in seinen Zielen nicht irremachen lassen. Deutschland müsse sich gegen die Franzosen zur Wehr setzen. Eine direkte Verständigung mit Frankreich sei nach Lage der Verhältnisse nicht möglich. Das stehe nunmehr fest.

Der Reichskanzler dankte dem Reichsaußenminister für seinen Vortrag und seine Tätigkeit in Genf. Das Reichskabinett sei sich von vornherein bewußt gewesen, daß das Amt des Außenministers in Genf sehr schwer werden würde. Er bedauere die Angriffe in einem Teil der deutschen Presse19. Selbst wenn sie berechtigt gewesen sein sollten, habe man doch mit Angriffen in dieser Form niemals etwas Vernünftiges erreichen können.

19

Die DAZ hatte in einem Kommentar vom 20.5.31 die Anrufung des Internationalen Gerichtshofs in der Zollunionsfrage als schwere Niederlage des RAM bezeichnet (DAZ Nr. 223/224 vom 21.5.31). Die DAZ hatte in Nr. 225/226 vom 22. 5. unter dem groß aufgemachten Leitartikel „Das Mißtrauensvotum“ ihre Angriffe gegen den RAM wiederholt und kritische Stimmen anderer dt. Zeitungen über Curtius abgedruckt. WTB Nr. 1046 vom 21.5.31 hatte die Vorwürfe der DAZ gegen den RAM zurückgewiesen (R 43 I /115 , Bl. 21).

Die Reichsregierung müsse sich nunmehr darüber klar werden, welche Fehler bei dem ersten deutschen Vorstoß gemacht seien, vielleicht auch bei der Vorbereitung der ganzen Aktion mit Österreich usw. Insbesondere müsse das Auswärtige Amt sich bei seinen Aktionen absolut über die finanzielle Lage klar sein, in der Deutschland zur Zeit lebe. Die stärkste Waffe, über die Deutschland für seine außenpolitischen Beziehungen verfüge, sei der Umstand, daß wir Importland für agrarische Produkte sind. Diese Waffe müsse scharf gehalten werden. Wie die Dinge im Herbst aussehen würden, lasse sich jetzt noch nicht übersehen. Dies hänge sehr wesentlich von der Entscheidung der Haager Cour ab. Jedenfalls würde der Völkerbundsrat sich schon aus formalen Gründen mit der Zollunionsfrage befassen müssen, da ja die Haager Cour ihr Gutachten zur Sache dem Völkerbundsrat vorlegen müsse.

Der Reichsminister der Finanzen stellte kurz unser Verhältnis zu den Südost-Staaten Europas zur Erörterung. Er meinte, Rumänien und Jugoslawien hätten sich vollständig auf die französische Seite geschlagen, und zwar aus[1113] politischen Gründen. Deutscherseits müsse man sich daher fragen, ob man diesen Ländern heute auf wirtschaftlichem Gebiete noch die gleichen Angebote machen könne wie früher. Er glaube empfehlen zu müssen, keinen Streich zu tun, um diesen Ländern ihre Lage zu erleichtern. Diese Länder könnten selber sehen, wo sie mit ihrer neuen Ernte bleiben, wenn sie nicht von sich aus den Weg nach Berlin finden sollten. Man könne nicht mit Deutschland Wirtschaftspolitik machen, im übrigen aber politisch zu Frankreich halten. Insbesondere solle man die Rumänen ruhig mal sitzen lassen mit ihren Agrarprodukten und den deutschen Bedarf bei anderen Ländern decken, z. B. in Argentinien oder in Ungarn. Allerdings müsse Deutschland andererseits wieder bedenken, daß wir die Reparationsfrage bald in irgendeiner Form in Angriff nehmen müßten, und zwar energisch. Das sehe man auch in Frankreich ein. Man könne heute schon ganz offen über die Dinge sprechen und schreiben. Er habe starke Befürchtungen, daß die Franzosen uns alsdann in der österreichischen Sache sehr unerwünschte Schwierigkeiten machen könnten. Die Reparationsfrage müsse daher so in Angriff genommen werden, wie es in den Verträgen vorgesehen sei. Dabei müsse verhütet werden, daß die Österreicher in eine Situation kämen, auf die Anschlußfrage für alle Zeiten verzichten zu müssen.

Zu den Arbeiten des Europa-Ausschusses äußerte sich der Reichsminister der Finanzen dahin, daß die Agrarbank nach seiner Meinung ohne besonderen Wert sei, und die Verhandlungen über die wirtschaftliche Neuroganisation Europas seien meist leeres Gerede. Vor allen Dingen müsse Deutschland die Agrarpolitik mit der Außenpolitik verbinden. Welche Machtmittel Deutschland auf agrarpolitischem Gebiete habe, lasse sich im Augenblick noch nicht übersehen; dies hänge wesentlich von der Roggenfrage ab. Deutschlands Bedarf an Mais gebe uns eine gewisse Waffe gegenüber dem Ausland in die Hand. Man könne Mais nämlich auch aus anderen Ländern wie den Südost-Staaten beziehen, z. B. aus Argentinien. Bezüglich der Butter sei Deutschland allerdings auf die Neutralen angewiesen. Diese Länder dürfe Deutschland schon aus reparationspolitischen Gründen nicht verärgern.

Bezüglich des überflüssigen Imports an Obst, Gemüse, Wein usw. bestehe leider keine allzu große Handlungsmöglichkeit, da diese Dinge meistens vertraglich gebunden seien. Die stärkste Waffe bleibe nach allem die Getreidewirtschaft.

Staatssekretär TrendelenburgTrendelenburg schloß sich den Ausführungen des Reichsministers der Finanzen an, insoweit auch er empfehlen zu müssen glaubte, daß wir den Rumänen und Jugoslawen nicht nachlaufen sollen. Stattdessen empfahl er, die Beziehungen zu Ungarn besonders zu pflegen.

Bezüglich der Vorschläge Frankreichs zur internationalen Kartellierung der Industrie vemerkte er, daß diese Pläne den Franzosen im Grunde genommen nicht ernsthaft gemeint seien. Frankreich komme es nur darauf an, ein Prinzip aufzustellen, damit auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Zusammenschlusses nichts ohne seine Unterrichtung geschehe. Frankreich wolle nur die Möglichkeit haben, sich in Verhandlungen der fraglichen Art über den Völkerbundsrat einzuschalten. Wenn es z. B. dazu kommen sollte, daß Deutschland und England[1114] sich in der Kohlenfrage verständigen, so gehe dies nur auf Kosten der Länder, in die gegenwärtig sowohl England wie auch Deutschland die Koksproduktion aus Konkurrenzgründen zu Verlustpreisen absetzen. Auf diesem Umwege subventionieren Deutschland und England indirekt die französische Eisenindustrie. In der Kohlenfrage könne Deutschland sich daher nur mit England einigen. Frankreichs ganzes Bemühen gehe dahin, einen Weg zu finden, sich in etwaige Einigungsverhandlungen einschalten zu können.

Der Reichsminister des Auswärtigen stimmte der Auffassung von der Wichtigkeit guter Beziehungen zu Ungarn zu. Er meinte auch, daß diese Verhandlungen wichtig seien wegen unseres Verhältnisses zu Italien, denn er habe das Empfinden, daß die Italiener aus der österreichischen Frage ein Geschäft machen wollten. Grandi habe sich in Genf gegen die Zollunion ausgesprochen, sei aber andererseits auch nicht an die Seite der Franzosen gerückt. Für ihn sei es klar, daß Italien mit der Sache Geschäfte machen wolle.

Bezüglich der Verhandlungen mit Rumänien bat er annehmen zu dürfen, daß wir die Verhandlungen nicht ablehnen sollen, wenn die Rumänen um Wiederaufnahme der Verhandlungen bitten und sich bereit erklären sollten, nach Berlin zu kommen.

Bezüglich der Reparationsfrage hielt er eine Aussprache in einer besonderen Sitzung für erforderlich, damit man sich noch vor dem Besuch in Chequers über die in dieser Frage zu verfolgende Politik verständige20. Im übrigen glaube er sagen zu können, daß seine Lage in Genf nicht so schwierig gewesen sein würde, wenn Deutschland schon früher in der Lage gewesen wäre, auf dem Gebiet der Agrarpolitik seine Stärke auszunutzen.

20

Vgl. Dok. Nr. 324.

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