2.165 (cun1p): Nr. 165 Der Reichswirtschaftsminister an den Reichskanzler. 23. Mai 1923

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 4). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

Extras:

 

Text

RTF

[501] Nr. 165
Der Reichswirtschaftsminister an den Reichskanzler. 23. Mai 1923

R 43 I /213 , Bl. 149 f.

[Betrifft: Kohlen- und Koksabfuhr nach Frankreich und Belgien]

Ein Rückblick über die bisher von den Besatzungsmächten bei der Abfuhr von Kohlen und Koks aus dem besetzten Gebiet nach Frankreich und Belgien erzielten Ergebnisse ergibt folgendes Bild.

Bei Beginn der Ruhrbesetzung schätzten die Sachverständigen, daß die Besatzungsmächte auf die Dauer etwa 5 bis 10% derjenigen Brennstoffmengen erhalten würden, die ihnen früher freiwillig von uns geliefert worden sind. Die wirklichen Entnahmen haben sich in der Tat innerhalb der ersten 3 Monate in diesen Grenzen bewegt, sich allerdings zum Schluß des angegebenen Zeitraums der oberen Grenze benähert. Bis zum 15. April 1923, d.h. nach etwa 3 Monaten oder 75 Arbeitstagen dürften von den Besatzungsmächten rund 375 000 t Brennstoffe oder 5 000 t arbeitstäglich im Durchschnitt abgefahren worden sein, während in den letzten 3 Monaten des vorigen Jahres Frankreich, Luxemburg und Belgien insgesamt 52 000 t arbeitstäglich erhalten haben. In den letzten Wochen muß dagegen eine Zunahme der Abfuhr von Brennstoffen festgestellt werden. Nach Ermittlungen des Reichskohlenkommissars haben die gesamten geraubten Brennstoffmengen seit dem Ruhreinbruch bis zum 2. Mai 1923, also in 3 2/3 Monaten, eine Höhe von etwa 560 000 t erreicht, worin insgesamt etwa 300 000 t Koks (effektiv) enthalten sind1. Nach dem Durchschnitt des letzten Vierteljahres 1922 hätten Frankreich und Belgien in dem gleichen Zeitraum von 3 2/3 Monaten durch freiwillige deutsche Lieferungen eine Brennstoffmenge von 4,1 Millionen t (darunter 2,1 Millionen Tonnen Koks, effektiv) erwarten können. Die Beute des Gegners ist also bis zum 2. Mai 1923 mengenmäßig auf etwa 14% der früheren tatsächlichen deutschen Lieferungen gestiegen.

1

Nach den täglichen Lageberichten der RRZ waren bis zum 2. 5. auf dem Schienenwege 106 700 t Kohle und 166 900 t Koks abgefahren worden; auf dem Wasserwege bis zum 30.4. 232 500 t Kohle und Koks (RMinWiederaufbau R 38 /195 , neu in R 3301 /2195 , Bl. 206; 249 f.).

Bei der Bewertung dieser Zahlen ist jedoch folgendes zu berücksichtigen: Bei Beginn des Ruhreinbruchs beschränkten sich die Besatzungsmächte auf die Wegnahme von in Kähnen und Eisenbahnwagen verladenen Kohlen. Die auf dem Wasserwege abgefahrenen Mengen haben naturgemäß jetzt sehr abgenommen, weil die anfangs beschlagnahmten Kähne zum großen Teil schon abgeschleppt oder für Besatzungszwecke verbraucht worden sind und neue Mengen auf dem Wasserwege nicht mehr aufkommen, zumal der Rhein-Herne-Kanal unfahrbar ist2 . In der ersten Zeit der Ruhrbesetzung wurde es allgemein und insbesondere von den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften für richtig gehalten, den produktiven Betrieb so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Es[502] wurde daher von absichtlichen Einschränkungen der Kohlenförderung zunächst abgesehen, ja sogar möglichst viel Koks hergestellt, weil dieser sich am besten zur Lagerung eignet. Um den Eingriffen der Besatzungsmächte zu begegnen, sorgten die zuständigen Stellen dafür, daß möglichst wenig beladene Kohlenwagen auf den Rangierbahnhöfen standen, und daß möglichst große Mengen von Brennstoffen den Verbrauchern zugeführt wurden, um alle Lagerungsmöglichkeiten im Revier bis zum Keller des Kleinverbrauchers auszunützen. Aus dieser Erwägung heraus wurde eine Belieferung der Hausbrandverbraucher gegen Zahlungsstundung in die Wege geleitet. Als die Besatzungsmächte die Raubzüge auf beladene Kohlenzüge aus Mangel an Beute einstellten und zu dem System der Haldenabfuhr übergingen, entschlossen sich die Zechenbesitzer, keinen Hüttenkoks mehr herzustellen und den auf Lager befindlichen Koks entweder zu brechen oder durch Vermischung mit Kohlen oder anderen Stoffen für metallurgische Zwecke möglichst unbrauchbar zu machen. Die Ausdehnung der Abfuhr von den Halden seitens der Besatzungsmächte veranlaßte bereits Anfang April die Zechenbesitzer des Ruhrbezirks zu einer weiteren Produktionseinschränkung. Es wurden je ein Drittel der Belegschaft der Reihe nach beurlaubt und die Kokserzeugung wurde, soweit der Koks nicht sofort dem Verbraucher zugeführt werden konnte, eingeschränkt und schließlich ganz eingestellt3.

2

Am 7. 4. war der Rhein-Herne-Kanal nach einer Sprengung des Emscher-Dükers leergelaufen.

3

In einem Bericht an die RRZ vom 5. 5. hieß es zur Koksfrage: „Brauchbaren metallurgischen Koks werden die Franzosen keinesfalls mehr heimwärts führen können. Das ist und bleibt der hauptsächlichste Trumpf unserer ganzen Ruhrpolitik. Was heute noch an Koks an der Ruhr greifbar lagert, ist allenfalls geeignet die Zentralheizung im Hause Poincaré zu nähren. Eisen und Stahl ist mit diesem Koks nicht mehr herzustellen. Die Koksproduktion selbst ist so gedrosselt, daß sie nur den laufenden Bedarf unserer Hochöfen liefert. Es wächst also kein Zentner Koks auf den Halden nach. Selbst wenn der passive Widerstand zum Abschluß kommt, wird es nach Stillegung der Kokereien ¼ Jahr dauern, bis die Produktion wieder im Gang ist.“ (R 43 I /213 , Bl. 12-14).

Trotz der Steigerung der Abfuhr in den letzten Wochen muß das von den Besatzungsmächten erzielte Ergebnis angesichts des ungeheuren Aufwandes an Geld, Materialien, Militär und Arbeitskräften als kläglich bezeichnet werden. Die Besatzungsmächte fahren noch immer nur einen geringen Bruchteil der ihnen von uns vorher freiwillig gelieferten Mengen ab und zwar, soweit der für sie besonders wichtige Koks in Frage kommt, in einer Qualität, die für Hüttenzwecke wenig geeignet ist. Dazu kommt, daß es den Besatzungsbehörden nicht möglich ist, den Ausfall an Koks durch Bezüge aus England und Amerika zu ersetzen. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß sich der Abfuhr der geraubten Brennstoffmengen immer größere Schwierigkeiten in den Weg stellen. Sehr wirkungsvoll in dieser Beziehung ist die Außerbetriebsetzung des Rhein-Herne-Kanals gewesen. Die Sprengungen, die an den Bahnlinien vorgenommen worden sind, waren zunächst von geringer Bedeutung. In der letzten Zeit ist auch hierin eine Wandlung eingetreten. In der Nacht vom 12. zum 13. Mai wurden die beiden Überbauten der Strecke Oberhausen – West-Wedau über die Ruhr bei Block Ruhrthal durch Sprengungen von unbekannter Hand unfahrbar gemacht. Diese Sprengung und diejenigen beim Blockwalzwerk und bei Lintorf an der Strecke Wedau – Ratingen am 9. Mai stören den Kohlenabtransport von der militarisierten Nordstrecke schon recht empfindlich, zumal der von den Franzosen[503] als Sammelbahnhof ausersehene Rangierbahnhof Wedau seiner Hauptverbindung beraubt ist. Dazu kommen die Schwierigkeiten, die sich für die Franzosen aus den Personalverhältnissen ergeben. Da die deutschen Zechen- und Eisenbahnarbeiter es abgelehnt haben, für die Besatzungsmächte zu arbeiten, sehen sich diese gezwungen, Arbeitskräfte anzuwerben. Diese sind jedoch nicht zahlreich und geschult genug, um den an sie gestellten Anforderungen zu genügen. Die Stimmung der unter französischer Regie tätigen Eisenbahnbeamten soll äußerst gedrückt sein. Vielfach handelt es sich um verheiratete Leute, die bis zum 30. April verpflichtet waren und nunmehr auf Heimkehr nach Frankreich drängen. In der Tat sind auch schon französische Eisenbahner zurückgeschickt und durch französische Arbeitslose ersetzt worden. Es ist offensichtlich, daß die Indienststellung von ungelernten Arbeitslosen bei dem komplizierten Eisenbahnbetrieb des Ruhrbezirks nur aus einer großen Notlage heraus zu verstehen ist.

Die französischen Fachkreise dürften sich über das Mißlingen des Ruhrunternehmens hinsichtlich der Abfuhr von Brennstoffen auch vollkommen klar sein. Dafür sprechen die Angriffe, die von der Presse gegen die Art der französischen Kohlenstatistik z. B. vom „l’Echo nationale“ gerichtet werden. Die Mitteilungen der Fachpresse über die tatsächlich in Frankreich eingegangenen Koksmengen bleiben im übrigen eher hinter den von deutscher Seite angenommenen Zahlen zurück. So gibt die „Journée industrielle“ die Gesamteinfuhr nach Frankreich an Koks für die Zeit der ersten 8 Tage des Monats Mai auf 40 810 t an, d. h. auf etwas über 5 000 t im Tagesdurchschnitt4.

4

Nach den täglichen Lageberichten der RRZ wurden vom 1. – 8. Mai 58 500 t Koks mit der Bahn abgefahren (R 38 /195 ).

Dr. Becker

Extras (Fußzeile):