1.26 (lut2p): Nr. 195 b Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Besprechung zwischen Luther, Stresemann, Chamberlain, Briand und Vandervelde in Locarno am 15. Oktober 1925, 18.30 Uhr

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Nr. 195 b
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Besprechung zwischen Luther, Stresemann, Chamberlain, Briand und Vandervelde in Locarno am 15. Oktober 1925, 18.30 Uhr1

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Die Aufzeichnung ist nicht datiert und nicht unterschrieben. Aus ihrem Inhalt geht jedoch zweifelsfrei hervor, daß sie von Luther verfaßt wurde. Zu den in dieser Aufzeichnung erwähnten Sachverhalten s. die Anmerkungen zu Dok. Nr. 195 a.

R 43 I /427 , Bl. 186-193 Durchschrift

[Entwaffnungsfrage, Räumung der Kölner Zone, Rheinlandregime, Investigationsfrage, Eintritt in den Völkerbund]

Aus der Besprechung, die am Donnerstag, dem 15. Oktober, abends ½7 Uhr bei Chamberlain stattfand, möchte ich folgendes festhalten, wobei sich aus der Niederschrift des Staatssekretärs von Schubert eine Reihe von Ergänzungen ergeben werden.

I.

Das Gespräch betraf zunächst die Räumung der Kölner Zone. Auch in diesem Gespräch haben wir zunächst mit allem Nachdruck versucht, schon in Locarno einen festen Termin für die Räumung herauszuholen. Dabei haben wir den Gegnern als Gesichtspunkte für die Erleichterung ihrer Entscheidung besonders folgende zwei Gedanken an die Hand gegeben:

Durch die Paraphierung des Paktes in Locarno entsteht eine ganz andere Friedensgrundlage als bisher, so daß die Voraussetzungen, von denen aus die Entwaffnungsnote geschrieben ist, verändert sind. Außerdem ist, wobei wir unser Verlangen auf Abkürzung der Besetzungsfristen für die zweite und dritte Zone ausdrücklich wiederholt haben, praktisch der Tatbestand so, daß eine sofortige Räumung der zweiten und dritten Zone nicht in Betracht kommt.[764] Es liegt also nicht etwa so, daß jetzt die Gesamträumung in Frage käme, wobei man vielleicht anstreben könne, daß der Gegner die Erledigung der nach seiner Ansicht noch offenen Entwaffnungspunkte vor der Räumung fordert, sondern der Tatbestand ist so, daß wegen eines verschwindenden Restes innerhalb des gesamten Entwaffnungsvorganges jetzt noch eine ganze Zone besetzt gehalten wird. Die Gegner beharrten aber darauf, daß es ihnen ohne Fühlungnahme mit den militärischen Stellen völlig unmöglich sei, einen bestimmten Termin zu nennen, und machten nun ihrerseits, anknüpfend an schon vorher geführte Privatgespräche, den Vorschlag, es möchte doch der ordnungsmäßige Weg innegehalten und also sofort von Deutschland eine Note an die Botschafterkonferenz als Beantwortung der Entwaffnungsnote geschickt werden. Diesen Vorschlag machte in der Besprechung Briand. Über den Inhalt dieser Note wurde, anknüpfend an frühere Gespräche, festgestellt, daß sie angeben müsse, was von Deutschland schon ausgeführt sei und welche Punkte in nächster Zeit ausgeführt werden könnten. Dabei ist gar kein Zweifel darüber gelassen worden, daß eine Reihe von Punkten übrig bleiben würde, deren Erledigung durch die Generale überhaupt nicht gelingen würde, sondern die schließlich politischer Entscheidung unterliegen müßte. Ich habe dabei auf Frage von Chamberlain keinen Zweifel darüber gelassen, daß es auf der einen Seite Punkte seien, die für eine etwaige Fähigkeit Deutschlands, in absehbarer Zukunft Krieg zu führen, ohne jeden Belang seien, daß es sich aber, wie er glaubte, um organische Fragen von immerhin grundsätzlicher Bedeutung handele. Chamberlain sprach den Wunsch aus, wir möchten ihnen, nämlich England, Frankreich und Belgien, dadurch helfen, daß wir dafür sorgten, daß nur eine recht geringe Anzahl von Punkten übrig bliebe. Ich habe zugesagt, nach dieser Richtung das möglichste zu tun. Die Weiterbearbeitung ginge nun dahin, daß die Botschafterkonferenz nach Anweisung der in ihr vertretenen Regierungen mit größter Beschleunigung auf die Note antworten solle, und zwar daß diese Note einen bestimmten Räumungstermin zu enthalten hätte. Von diesem Räumungstermin sagte Herr Briand unter Verstärkung von Ausführungen, die auch wir gemacht hatten, daß er so nahe liegen müsse wie nur irgend möglich. Ich habe dann den Inhalt dieses verabredeten Notenwechsels nochmals im einzelnen wiederholt und dabei gar keinen Zweifel darüber gelassen, daß eine Reihe von Punkten übrig bleiben würde, die demgemäß vor der Antwort der Botschafterkonferenz, die den festen Räumungstermin zu enthalten hätte, noch nicht erledigt sei. Dieser meiner Zusammenfassung ist von der anderen Seite zugestimmt worden. Es war das der Schlußpunkt auch von vorhergehenden Gesprächen, in denen die beiden Möglichkeiten, fester Termin und Bindung des Termins an volle Erledigung der Entwaffnungsnote, nebeneinander erörtert worden waren, wobei die letztere Lösung, die ja überhaupt keinen Fortschritt gegenüber dem jetzigen Zustand dargestellt hätte, von uns stets vorbehaltlos abgelehnt worden war.

II.

Im Anschluß daran hat Stresemann auf Wunsch von Chamberlain als besondere Angelegenheit die Frage der Amtsbezeichnung in der Schutzpolizei[765] dargestellt, wobei grundsätzlich Chamberlain, Briand und Vandervelde ihre Bereitwilligkeit zum Entgegenkommen auf diesem Gebiete ausgesprochen haben.

III.

Alsdann haben wir aus der Gesamtzahl der am vorhergehenden Montag erörterten Punkte, die inzwischen durch zahlreiche Gespräche weitergefördert waren, die Frage des Rheinlandregimes angeschnitten. Ein konkretes Ergebnis zu erzielen, erwies sich als unmöglich, weil die anderen sich immer wieder auf ihren Mangel an Sachkunde, die Abwesenheit der erforderlichen Sachverständigen beriefen. Die allgemeinen Erklärungen besonders Briands, daß er im Sinne des bevorstehenden wirklichen Friedensschlusses weitestgehende Änderungen eintreten lassen würde, erfolgten wieder, wie schon am Montag, und wurden mit starken Worten belegt. Besonders sagte Briand auch in diesem Gespräch, was er mir schon vorher in einer Privatunterredung gesagt hatte, daß, wenn dieser Auffassung in Paris nicht beigetreten würde, er demissionieren würde2.

2

S. Dok. Nr. 194.

IV.

Nunmehr schnitten wir durch Stresemanns Mund die Investigationsfrage an und stießen hier vom ersten Augenblick an auf ein ganz anderes Verhalten der Gegner. Ich hatte den bestimmten Eindruck, daß hier eine Art Vorverabredung zwischen Briand und Chamberlain bestand, diese Frage, die ja am Montag auch schon behandelt war, nicht zur einzelnen Erörterung gelangen zu lassen. Vielleicht hängt das besonders damit zusammen, daß hier nicht nur eine Meinungsverschiedenheit zwischen England und Frankreich besteht, sondern daß auf dem Gebiet der éléments stables3.

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Der offensichtlich unvollständige letzte Satzteil so in der Vorlage. Bei den Worten „éléments stables“ handelt es sich um eine in Art. V des Genfer Investigationsprotokolls vom 27.9.24 (s. Anm. 6, 7 und 8 zu Dok. Nr. 170) vorkommende Bezeichnung für ein ständiges Überwachungsorgan des Völkerbundes, das in den entmilitarisierten Zonen eingerichtet werden soll.

Die Erörterung nahm teilweise solche Gestaltung an, daß sowohl Stresemann wie ich uns den Abbruch überlegt haben. Anfangs ging es noch etwa in der bisherigen Art weiter, aber immer in dem Sinne, daß diese Frage überhaupt nur im Schoß des Völkerbundes besprochen werden könne. Dabei unterschieden wir von vornherein sehr klar zwischen dem Problem der éléments stables und zwischen dem Problem der Investigation überhaupt. Angesichts der fortdauernden Ablehnung einer sachlichen Erörterung sagte ich schließlich etwa das: „Die Probleme seien aber von solcher Wichtigkeit, daß wir jedenfalls vor dem Eintritt in den Völkerbund klarsehen müßten.“ Darauf antwortete Briand, das sei eine neue Bedingung für den Eintritt in den Völkerbund, die wir bisher niemals gestellt hätten und mit der wir jetzt am Schluß der Konferenz herauskämen; und er blieb ziemlich lange hartnäckig bei dieser Darstellung, wobei er besonders darauf hinwies, daß in unserem Notenwechsel mit dem Völkerbund,[766] der erschöpfend unsere Gesichtspunkte aufgezählt habe, das Investigationsproblem mit keinem Worte erwähnt sei. Daran ist soviel richtig, daß der eigentliche Investigationsbeschluß vom September vorigen Jahres stammt, und daß wir, obgleich uns der Beschluß erst im März (das nach Angabe des Staatssekretärs von Schubert) notifiziert worden ist, tatsächlich den Beschluß zur Zeit unseres Schriftwechsels mit dem Völkerbund gekannt haben. Nicht aber hat es damals schon den Ausführungsbeschluß vom März 1925 gegeben. Nun trat bei der Besprechung die Frage der éléments stables allmählich in den Hintergrund, weil angesichts des Fehlens jedes Ausführungsbeschlusses zu dem hierfür zuständigen Artikel 5 des Investigationsbeschlusses vom September 1924 ja tatsächlich dieser Ausführungsbeschluß unserer Mitwirkung bedarf, sobald wir im Völkerbundsrat vertreten sind. Nach dieser Richtung ist ja auch inzwischen bekannt, was wir natürlich in der Besprechung nicht erwähnt haben, daß England sich dieser Ausführung des Artikel 5 widersetzt. Was nämlich die allgemeine Investigation anbetrifft, so liegt der Ausführungsbeschluß vom März 1925 bereits vor. Briand kam dann auch auf den Einwand, daß wir in unserer Völkerbundskorrespondenz die Angelegenheit nicht erwähnt hätten, nicht mehr zurück, nachdem ich auf die Tatsache, daß der Ausführungsbeschluß später liegt als unsere Völkerbundskorrespondenz, hingewiesen hatte. Wir haben aber sogar mehrfach Veranlassung gehabt zu betonen, daß wir bereits am vorhergehenden Montag die Investigationsfrage angemeldet hätten. Da es sich nun bei der Investigationsfrage um eine Auslegung handelt, so machte ich schließlich den Versuch, auch diese Angelegenheit an die Juristen zu verweisen, worauf wir die merkwürdige Antwort bekamen, daß weder Hurst noch Fromageot von diesen Dingen etwas verständen, weil der Völkerbund seine eigenen Juristen habe. Das war der letzte Versuch, den ich zu machen wußte, um die sachliche Diskussion über die Investigationsfrage in Fluß zu bringen. Es trat jetzt – wobei ich in der Erinnerung nicht mehr genau weiß, ob es unmittelbar nach der Ablehnung meines Vorschlages wegen der Juristen war, oder ob wir noch etwas weiter über die Notwendigkeit der sachlichen Erörterung gesprochen hatten – eine Pause ein, bei der wir uns längere Zeit schweigend gegenübersaßen. Wer zuerst dann wieder gesprochen hat, weiß ich nicht mehr genau. Der erste sachliche Fortschritt in der Erörterung wurde entweder durch Briand oder durch Chamberlain hineingebracht. Briands erste Worte nach der Pause waren der Hinweis darauf, daß angesichts der genannten Entspannung der Atmosphäre und angesichts des ganz anderen Verhältnisses, das künftig zwischen Deutschland und Frankreich bestehen werde, doch auf jeden Fall die französische Regierung, wenn irgendein Beschwerdepunkt über den deutschen Entwaffnungszustand ihr zur Kenntnis komme, diesen zunächst der deutschen Regierung mitteilen werde. Chamberlains erste Bemerkung war die, daß ja er und die anderen Regierungen gar nicht ablehnten, mit Deutschland über den Punkt zu sprechen, sondern daß sie nur als einzig möglichen Rahmen für diese Besprechung den Völkerbundsrat bezeichneten. Briand ging dann aber bald weiter, indem er begann, das Investigationsverfahren zu schildern, und zwar dahin, daß ja doch immer, bevor es in Gang gebracht werde, eine besondere Frage vorliegen müsse (question d’espèce). Chamberlain bejahte dies, indem er den nach[767] dieser Richtung ja leidlich klaren Anfang des Investigationsbeschlusses vorlas und hinzusetzte, wer im Völkerbundsrat einen Investigationsantrag einbringen wolle, müsse ihn natürlich wohl begründet einbringen. Dann wurde durch Briands und Chamberlains Mund das Verfahren noch eingehender geschildert, also nach der Einbringung des Antrags die Verweisung an die Kommission und dann erst die Beschlußfassung, ob die Investigation stattfinden solle oder nicht. Ich habe diese Schilderung dann meinerseits aufgenommen. Im Laufe des Gesprächs, das in sehr kurzen Wechselreden geführt wurde, ergab sich dabei irgendwie die Sachlage, daß Deutschland als Beispiel bei der konkreten Schilderung nicht verwendet werden sollte, weil ja solche Fälle in Deutschland nicht vorkommen würden. Ich sprach darauf von einem anderen Staat, enthielt mich aber, irgendeinen Staat zu zitieren, worauf Briand dazusetzte, „z. B. Bulgarien“. Ich erwiderte ihm, daß ich nicht gern ein Land hätte nennen wollen, das der Investigation unterworfen werden solle, nun aber das von ihm genannte Land als Beispiel aufnähme. Ich habe dann meinerseits das Verfahren bis zur Verweisung durch den Völkerbundsrat an die Investigationskommission noch einmal dargestellt. Meiner Feststellung, daß das also die Auslegung sei, die die Herren dem Investigationsbeschluß gäben, wurde zugestimmt. Bevor die Erörterung über diese Punkte aufhörte, sagte Stresemann zu Chamberlain noch die von Chamberlain ohne jeden Zweifel völlig verstandene, deutsch gesprochene Bemerkung „Sie sehen also, Herr Chamberlain, wie richtig es doch war, daß wir in eine sachliche Erörterung eingetreten sind“. Die gegenseitige Spannung hatte sich schon bald nach der Pause einigermaßen gelegt. Es war inzwischen ¾ 10 Uhr geworden. Wir haben dann nur noch stehend erörtert, in welcher Weise wir die Presse unterrichten wollen, und sind dann auseinandergegangen.

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