1.4 (ma11p): Außenpolitik im Zeichen des Dawes-Plans

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 45). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx I und II, Band 1 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

Extras:

 

Text

Außenpolitik im Zeichen des Dawes-Plans

Beim Amtsantritt des Kabinetts Marx bestand das Nahziel der deutschen Außenpolitik unverändert in der Befreiung des Ruhrgebiets von militärischer Besetzung und in der Wiederherstellung vertragsmäßiger Zustände an Rhein und Ruhr, d. h. in der Beseitigung des umfassenden Pfänder- und Kontrollsystems, das Franzosen und Belgier nach dem Ruhreinmarsch im besetzten Gebiet errichtet hatten. Dieses Ziel war nach Lage der Dinge nur im Zusammenhang mit einer Neuregelung des Reparationsproblems zu erreichen, da ja die Ruhrbesetzung seinerzeit mit der Nichterfüllung von Reparationsverpflichtungen begründet worden war. Nach den vergeblichen Reparationsangeboten des Kabinetts Cuno waren die Verhältnisse endlich im Spätherbst 1923 in Fluß gekommen: Der vollständige Zusammenbruch der Markwährung, die Separatistenputsche im Rheinland, die Kunde von französischen Sonderverhandlungen mit der westdeutschen Schwerindustrie hatten die angelsächsischen Mächte zur Intervention veranlaßt. Unter ihrem Druck mußte Poincaré nach anfänglichem Sträuben eine erneute Prüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit zugestehen. Zu diesem Zweck beschloß die Reparationskommission gemäß einem deutschen Antrag am 30. November 1923 die Einsetzung zweier Sachverständigenkomitees, an denen sich neben französischen, englischen, belgischen und italienischen Experten auch amerikanische Sachverständige beteiligen sollten. Der Untersuchungsauftrag der beiden Komitees war jedoch von der Reparationskommission[XXXII] so eng definiert worden80, daß die Erörterung der französisch-belgischen Sanktionspolitik im besetzten Gebiet nicht in ihre Zuständigkeit fiel.

80

Dok. Nr. 40, Anm. 6.

Es blieb dem Kabinett daher nichts anderes übrig, als erneut den Versuch zu unternehmen, in direkten Regierungsverhandlungen mit Paris und Brüssel zu einer vorläufigen Regelung der vordringlichsten Besatzungsfragen zu gelangen. Nach Auffassung der Reichsregierung konnte Poincaré solche Verhandlungen nun nicht mehr mit der Behauptung verweigern, daß Deutschland den passiven Widerstand in Wirklichkeit noch nicht aufgegeben habe. Inzwischen waren die Besatzungskostenzahlungen für die französischen und belgischen Truppen wiederaufgenommen worden, das Reich hatte dem Abschluß des Micum-Abkommens zugestimmt, und es hatte schließlich auch das Mainzer Abkommen vom 1. Dezember 1923 gebilligt, das die Zusammenarbeit zwischen der Reichsbahn und der französisch-belgischen Eisenbahnregie regelte81.

81

Dok. Nr. 10, P. II.

Allerdings bestand Stresemann darauf, daß, wenn man Frankreich zu offiziellen Verhandlungen über einen Modus vivendi im besetzten Gebiet auffordere, alle privaten Verhandlungen rheinischer Ausschüsse und Persönlichkeiten mit der Interalliierten Rheinlandkommission in Koblenz aufhören müßten. Das bezog sich vor allem auf die Besprechungen, die der Kölner Oberbürgermeister Adenauer seit November 1923 mit dem französischen Oberkommissar Tirard über die Bildung eines westdeutschen Bundesstaates führte. Durch die Konstituierung eines solchen Staates, der das gesamte besetzte Gebiet umfassen sollte, hoffte Adenauer das französische Sicherheitsbedürfnis befriedigen und zugleich eine Verständigung mit Frankreich über die Regelung des Reparations- und Besatzungsproblems anbahnen zu können. Stresemann lehnte diesen Plan des Kölner Oberbürgermeisters als illusionär und gefährlich ab. Er wußte sich hierin in Übereinstimmung mit den Regierungen Preußens und Bayerns, die eine Legitimation rheinischer Vertreter zu Verhandlungen über staatsrechtliche Veränderungen im besetzten Gebiet von jeher bestritten hatten und die keineswegs gewillt waren, einem Aufgehen besetzter Gebietsteile in einem westdeutschen Bundesstaat zuzustimmen82. Dagegen fand Adenauer Unterstützung bei einigen westdeutschen Industriellen, die wie Hugo Stinnes eine enge Zusammenarbeit mit der französischen Schwerindustrie anstrebten, um auf diese Weise auch von der Last der Micum-Verträge loszukommen83. In einer vertraulichen Besprechung, die am 9. Januar 1924 in der Reichskanzlei stattfand, hatten Adenauer, Stinnes und andere gleichgesinnte Persönlichkeiten aus dem besetzten Gebiet Gelegenheit, in Gegenwart des Kanzlers und mehrerer Reichsminister ihre Vorstellungen und Absichten vorzutragen. Stresemann weigerte sich, das Protokoll dieser Besprechung zu unterzeichnen und seine Einwilligung zur Fortführung der privaten Verhandlungen zu geben84. Adenauer ließ daraufhin noch im Januar seine Rheinstaatpläne[XXXIII] fallen, etwa zur gleichen Zeit, als auch Louis Hagen und die rheinischen Bankiers ihre Bemühungen um die Errichtung einer Rheinisch-Westfälischen Goldnotenbank aufgaben85. Stinnes ließ noch eine Weile mit Vertretern der französischen Schwerindustrie über das Projekt einer deutsch-französischen Industriegemeinschaft auf der Basis langfristiger Lieferverträge und gegenseitigen Aktienaustauschs weiterverhandeln, ohne daß dabei greifbare Resultate erzielt wurden. Peter Klöckner, der mit den Ideen von Stinnes sympathisierte, mußte sich von seinen französischen Gesprächspartnern sagen lassen, daß ein gegenseitiger Aktienaustausch für die öffentliche Meinung Frankreichs nicht tragbar sei, daß Frankreich jedoch eine einseitige Beteiligung an deutschen Werken als Reparationsleistung begrüßen würde86. Dieser Gegenvorschlag, der sich etwa auf der Linie des Rechberg-Planes bewegte87, war weder für die deutschen Industriellen noch für die Reichsregierung akzeptabel.

82

Dok. Nr. 6, P. V; 9, P. II , 10; 12, P. 9; 17, P. VIII; 39.

83

Dok. Nr. 21.

84

Dok. Nr. 53.

85

Dok. Nr. 73, P. 4a.

86

Dok. Nr. 121, P. 4; 146.

87

Dok. Nr. 43, P. 5.

Freilich gerieten auch die Mitte Dezember 1923 eingeleiteten offiziellen Regierungsverhandlungen über einen Modus vivendi im besetzten Gebiet sehr bald in eine Sackgasse. Das deutsche Verhandlungsprogramm, das von den diplomatischen Vertretungen in Paris und Brüssel unterbreitet wurde, betraf u. a. die Freigabe des Wirtschaftsverkehrs zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet, die Zulassung der deutschen Finanz- und Währungsgesetze, die Wiederauffüllung der deutschen Polizei und des deutschen Verwaltungspersonals sowie den separatistischen Terror in der bayerischen Pfalz. Die französische Reaktion auf diesen Versuch, die deutschen Hoheitsrechte im besetzten Gebiet wenigstens teilweise wieder zur Geltung zu bringen, war im wesentlichen negativ. Sie machte deutlich, daß Poincaré nicht bereit war, das Besatzungsregime in entscheidenden Punkten zu lockern oder die produktiven Pfänder vorzeitig aus der Hand zu geben88. Die Reichsregierung mußte nun ihre Hoffnung darauf setzen, daß die von der Reparationskommission eingesetzten Sachverständigenausschüsse unter angelsächsischem Einfluß zu Vorschlägen gelangten, auf deren Grundlage auch das Besatzungsproblem einer für Deutschland günstigen Lösung zugeführt werden konnte.

88

Dok. Nr. 37; 66, P. 1.

Mitte Januar 1924 hatte sich das erste, mit der Untersuchung der deutschen Währung und des deutschen Haushalts beauftragte alliierte Sachverständigenkomitee unter dem Vorsitz des amerikanischen Bankiers Charles Dawes in Paris konstituiert, und wenig später war auch das zweite, für die Frage der Kapitalflucht zuständige Komitee zusammengetreten. Anfang Februar hielten sich die beiden Ausschüsse vorübergehend in Berlin auf, um sich in Gesprächen mit Regierungsvertretern, mit Repräsentanten der Wirtschaft und der Gewerkschaften genauere Informationen über den Zustand Deutschlands und über die deutschen Vorstellungen zur Reparationsfrage zu verschaffen. In großzügiger Auslegung des ihm von der Reparationskommission erteilten Auftrages ging das Dawes-Komitee bald dazu über, einen ebenso umfassenden wie detaillierten[XXXIV] Reparationsplan auszuarbeiten. Dabei begnügte es sich nicht damit, die Zahlungsfähigkeit Deutschlands abzuschätzen und – unter Ausklammerung der Frage der Endbelastung – ein Schema allmählich ansteigender Jahreszahlungen zu entwerfen; vielmehr bemühte es sich von vornherein darum, auch die Art der Aufbringung und der Kontrolle der deutschen Leistungen so genau wie möglich festzulegen, um so ein automatisches Fließen der Reparationen zu gewährleisten und Frankreich den Verzicht auf seine produktiven Pfänder zu erleichtern. In Anknüpfung an das deutsche Reparationsangebot vom 7. Juni 1923 sollten die Annuitäten durch Überschüsse der Reichsbahn, durch Zahlungen aus dem Reichshaushalt und durch eine Belastung der deutschen Industrie aufgebracht werden. Zur Sicherstellung der Leistungen war die Umwandlung der Reichsbahn in eine Gesellschaft und die Errichtung einer regierungsunabhängigen Notenbank vorgesehen. Außerdem sollten die Eisenbahn, die Notenbank wie auch der für Reparationszwecke zu verpfändende Teil des Reichshaushalts alliierter Kontrolle unterstellt werden. Schließlich galt es, eine Form für die Transferierung der deutschen Zahlungen an die alliierten Empfangsländer zu finden, welche die Gefahr einer erneuten Kursverschlechterung der Mark ausschloß.

Die Reichsregierung verzichtete darauf, während der Sachverständigenverhandlungen mit einem eigenen Reparationsplan hervorzutreten, der nach aller Erfahrung zumindest von Frankreich als ungenügend zurückgewiesen worden wäre. Stattdessen trug sie ihre Wünsche und Gegenvorstellungen durch eigene Experten, zu denen Reichsbankpräsident Schacht, die Staatssekretäre Fischer, Vogt und Bergmann gehörten, von Fall zu Fall an die alliierten Komiteemitglieder heran und ließ sich laufend über den Fortgang der Komiteeberatungen orientieren. Der deutschen Seite ging es hauptsächlich darum, allzu optimistische Erwartungen hinsichtlich der deutschen Leistungsfähigkeit herabzustimmen, die ausländischen Kontrollen auf ein erträgliches Maß einzuschränken und ein Maximum an Souveränitäts- und Mitspracherechten in den kontrollierten Institutionen zu wahren. Ein Teil der deutschen Einwände und Forderungen fand auch tatsächlich Berücksichtigung, wobei, wenn man den Berichten der deutschen Unterhändler folgt, besonders die englischen und amerikanischen Komiteemitglieder Vermittlerdienste leisteten. So scheint sich das Dawes-Komitee schon verhältnismäßig früh den deutschen Standpunkt zu eigen gemacht zu haben, daß umfangreichere Reparationszahlungen nur dann zu erwarten seien, wenn das Reich die Verfügungsgewalt über das Wirtschaftspotential des besetzten Gebiets zurückerhalte89.

89

Dok. Nr. 72; 73, P. 2 und 3; 79, P. 2; 81; 87; 89; 93; 96; 116; 121, P. 3; 126, P. 5; 141; 143; 144, P. 5; 145; 147, P. 7; 153; 154; 158, P. 1; 162, P. 2; 163, P. 1.

Die Stellungnahme des Kabinetts zu dem am 9. April 1924 erstatteten Sachverständigengutachten, dem sogenannten Dawes-Plan, war trotz mancher Vorbehalte überwiegend positiv90. Zwar beurteilte die Reichsregierung die von Deutschland geforderten Leistungen als zu hoch und die vorgesehenen ausländischen Kontrollen als unbequem, andererseits verkannte sie nicht die wirtschaftlichen[XXXV] und politischen Vorteile, welche der Dawes-Plan im Vergleich zum bisherigen Zustand enthielt. Die Transferbestimmungen mußten sich auf die Dauer als Korrektiv gegen eine Überbeanspruchung der deutschen Reparationskraft auswirken. Außerdem rechnete man damit, daß der ohnehin nur als Provisorium konzipierte Plan sich noch vor dem Fälligwerden der Normalannuität von 2,5 Milliarden Goldmark (ab 1928) als revisionsbedürftig erweisen würde. Bis dahin verschafften die ermäßigten Anfangsannuitäten und die 800-Millionen-Auslandsanleihe dem Reich und der deutschen Wirtschaft eine erwünschte Atempause. Das Engagement ausländischen Kapitals und die Mitwirkung Amerikas bei der Durchführung der neuen Regelung versprachen überdies Schutz vor einseitigen französischen Sanktionen. Von besonderem Wert für die deutschen Revisionsbestrebungen war aber die Tatsache, daß die gesamte Konstruktion des Dawes-Plans auf dem Grundsatz der Wiederherstellung der wirtschaftlichen und finanziellen Einheit Deutschlands beruhte. Das bedeutete, wenn das Gutachten von allen beteiligten Mächten angenommen wurde, die Liquidierung der Poincaréschen Spezialpfänder im besetzten Gebiet, die Beseitigung der Binnenzollgrenze, der Eisenbahnregie und der lästigen Micum-Verträge. Im Hinblick darauf erklärte Stresemann, „es schiene ihm nach einem verlorenen Ruhrkampfe ein anständiger Friede zu sein, der dem Deutschen Reiche die Wiederverfügung über die Wirtschaft und die Eisenbahnen des besetzten Gebiets bringe“91.

90

Dok. Nr. 172, P. 1; 174; 175.

91

Dok. Nr. 175, S. 557. Vgl. auch die ausführlichen Darlegungen Stresemanns und Luthers zum Dawes-Plan in der Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 3.7.24: Dok. Nr. 243.

Am 16. April teilte die Reichsregierung der Reparationskommission auf eine entsprechende Anfrage mit, daß sie im Sachverständigengutachten eine Grundlage für die schnelle Regelung des Reparationsproblems erblicke und daß sie zu weiterer Mitarbeit bereit sei. Diese Stellungnahme wurde von den Landesregierungen, den Regierungsparteien und der SPD gebilligt. Dagegen sprach die DNVP der Reichsregierung das Recht ab, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, d. h. vor der Wahl des neuen Reichstags, verbindliche außenpolitische Entscheidungen zu treffen. Die „Vereinigten vaterländischen Verbände“ verlangten sogar die Ablehnung des Gutachtens, da es „die völlige finanzielle Versklavung Deutschlands“ bedeute92.

92

Dok. Nr. 175; 177, P. 2; 178; 179.

Ende April wurden die Mitglieder von drei internationalen Organisationskomitees für die Reichsbahngesellschaft, für die Notenbank und für die Industriebelastung ernannt, deren Aufgabe darin bestand, die Vorschläge des Dawes-Gutachtens zu konkretisieren. Aus der Tätigkeit dieser Komitees gingen die deutschen Ausführungsgesetze zum Dawes-Plan hervor, insbesondere das Gesetz über die Reichsbahngesellschaft, das Bankgesetz, das Gesetz über die Industriebelastung sowie eine Reihe ergänzender Gesetze und Satzungen. Die Reichsregierung war in den Organisationskomitees gleichberechtigt vertreten, so daß sie während der Beratung der Gesetzentwürfe verschiedene Änderungen und Klarstellungen durchzusetzen vermochte, die im deutschen Interesse lagen.[XXXVI] So gelang es, die deutsche Mehrheit im Verwaltungsrat der Reichsbahngesellschaft zu sichern, die Rechte des ausländischen Eisenbahnkommissars zu begrenzen und den Einfluß des Reichs auf die Tarifgestaltung zu wahren. Bei den Verhandlungen im Bankkomitee konnte der Notenbankplan des Dawes-Gutachtens weitgehend der bisherigen Reichsbankorganisation angepaßt werden. Größere Schwierigkeiten ergaben sich im Organisationskomitee für die Industriebelastung, wo die divergierenden Auffassungen der deutschen und französischen Vertreter nur mit Mühe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren93.

93

Dok. Nr. 184, P. 3; 191, P. 1; 199, P. 1; 202, P. 1; 204, P. 2 und 3; 208, P. 1; 218, P. 1 und 2; 224, P. 4; 240, P. 1; 243; 246; 247, P. 3 und 4; 249, P. 68; 257, P. 2; 270, P. 4.

Bald nach der Veröffentlichung des Dawes-Gutachtens begannen auch diplomatische Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und den alliierten Hauptmächten über die Inkraftsetzung der neuen Reparationsregelung. Dabei bekundete das Kabinett wiederholt seine Bereitschaft, die Ausführungsgesetze so schnell wie möglich zur Annahme zu bringen, denn von der endgültigen deutschen Zustimmung hing das Zustandekommen der Dawes-Anleihe, die Gewährung amerikanischer Wirtschaftskredite und die Wiederherstellung vertragsmäßiger Zustände im besetzten Gebiet ab. Aber auf eine bedingungslose Annahme des Dawes-Plans, welche die angestrebte Ruhrräumung in das Ermessen Frankreichs gestellt hätte, wollte sich die Reichsregierung nicht einlassen. Hierbei spielten auch innenpolitische Gesichtspunkte eine bedeutsame Rolle. Das Kabinett beabsichtigte nämlich, bei der Verabschiedung der Reparationsgesetze durch den Reichstag zumindest für das Eisenbahngesetz die Zweidrittelmehrheit zu verlangen, um verfassungsrechtliche Bedenken auszuräumen und auch die deutschnationale Opposition auf den Dawes-Plan zu verpflichten, die ihr Votum indessen von einer befriedigenden Regelung der Räumungsfrage abhängig machte.

Stresemann versuchte nun den alliierten Regierungen klarzumachen, daß die erforderliche parlamentarische Mehrheit für die Dawes-Gesetze nur dann zustande käme, wenn Deutschland zuvor verbindliche Zusicherungen hinsichtlich der Aufhebung aller wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen im besetzten Gebiet erhalte. Vor allem von der französischen Regierung wünschte der Außenminister präzise Erklärungen über die Rückkehr der Ausgewiesenen und die Freilassung der Inhaftierten, über die Wiederherstellung der deutschen Wirtschafts- und Verwaltungshoheit sowie über die militärische Räumung des Ruhrgebiets und der 1921 besetzten Städte Düsseldorf und Duisburg-Ruhrort. Der neue französische Ministerpräsident Herriot, der im Juni 1924 Poincaré abgelöst hatte, zeigte sich persönlich verständigungsbereit, doch mit Rücksicht auf die starke Rechtsopposition in seinem Lande wich Herriot einer Festlegung in der Frage der militärischen Räumung aus. Er vertrat die Auffassung, daß Deutschland noch vor der geplanten Londoner Konferenz die Dawes-Gesetze annehmen müsse, was von Stresemann als unzumutbare Vorleistung abgelehnt wurde94.

94

Dok. Nr. 182, P. 1; 191, P. 2; 206, P. 2; 211; 219; 236, P. 3; 241, P. 2; 243; 248, P. I und II; 252, P. 2.

[XXXVII] Während der ersten Phase der Londoner Konferenz, die am 16. Juli 1924 ohne deutsche Beteiligung begann, suchten die Delegierten der alliierten Regierungen sich zunächst untereinander auf ein gemeinsames Programm für die Durchführung des Dawes-Plans zu einigen. Zur Vorbereitung der erforderlichen Abkommen wurden mehrere Kommissionen eingesetzt. Die anfängliche Befürchtung der Reichsregierung, Deutschland könne vor vollendete Tatsachen gestellt werden, erwies sich als unbegründet. Zwar gaben die alliierten Komiteebeschlüsse, soweit sie in Berlin bekannt wurden, in einigen Punkten zu schweren Bedenken Anlaß, aber die angelsächsischen Konferenzteilnehmer und vor allem die angelsächsischen Bankiers waren offenbar darum bemüht, den deutschen Interessen so weit wie möglich Rechnung zu tragen95. Als die deutsche Delegation unter Führung von Marx, Stresemann und Luther zum zweiten Konferenzabschnitt am 5. August in London eintraf, erhielt sie nicht nur Gelegenheit, an den reparationstechnischen Ausschußberatungen gleichberechtigt teilzunehmen; durch Vermittlung des englischen Premierministers MacDonald kam es auch zu den von deutscher Seite geforderten Besprechungen über die militärische Räumung des Ruhrgebiets, obwohl dieses Thema nicht auf der offiziellen Tagesordnung stand96.

95

Dok. Nr. 253, P. 2; 257, P. 2; 258, P. 2; 259, P. 3; 263, P. 1; 264, P. 1; 269.

96

Siehe das Tagebuch der Reichskanzlei über die Londoner Konferenz und die beigefügten Besprechungsniederschriften, die zusammen in einem separaten Dokumentenanhang am Schluß des zweiten Bandes abgedruckt sind. Vgl. hierzu die zeitlich parallel laufenden Besprechungen in der Reichskanzlei: Dok. Nr. 272279.

Eine erste Anregung Herriots, die Ruhrräumung im Zusammenhang mit der Militärkontrolle oder auch mit deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen zu erörtern, stieß bei der deutschen Delegation auf Ablehnung97. General Seeckt, der in Berlin konsultiert wurde, warnte vor einem Junktim zwischen Ruhrräumung und Militärkontrolle98, während sich Vertreter der Industrie energisch dagegen wandten, eine Abkürzung der Besatzungsdauer mit handelspolitischen Konzessionen zugunsten Frankreichs zu erkaufen99. Schließlich wurde Herriot vom französischen Ministerrat ermächtigt, die militärische Räumung der Ruhr innerhalb einer Maximalfrist von einem Jahr anzubieten. Die deutsche Delegation bestand jedoch auf einem wesentlich früheren Endtermin und wünschte außerdem die baldige Durchführung von Teilräumungen, andernfalls sei mit der Annahme der Dawes-Gesetze durch den Reichstag nicht zu rechnen. Da Herriot unter Hinweis auf seine eigenen parlamentarischen Schwierigkeiten auf der Einjahresfrist beharrte, liefen sich die Verhandlungen fest. Um doch noch ein positives Konferenzergebnis zu retten, legten MacDonald und der amerikanische Botschafter Kellogg den deutschen Unterhändlern nahe, auf das Angebot Herriots einzugehen, der zuletzt gewisse Erleichterungen wie die sofortige Räumung Dortmunds in Aussicht stellte. Unter diesen Umständen entschloß sich die deutsche Delegation, die Zustimmung des Reichspräsidenten und des Kabinetts zum französischen Vorschlag einzuholen100.[XXXVIII] Am 16. August 1924, dem Schlußtag der Konferenz, gaben die Ministerpräsidenten Frankreichs und Belgiens die förmliche Erklärung ab, daß die militärische Räumung des Ruhrgebiets und der Sanktionsstädte Düsseldorf und Duisburg-Ruhrort innerhalb eines Jahres erfolgen würde. Zum Beweis ihres guten Willens wollten sie sogleich nach der endgültigen Unterzeichnung des Londoner Abkommens die Freigabe der Zone Dortmund-Hörde und verschiedener kleinerer Gebietsteile anordnen. Außerdem verzichteten sie auf die ursprünglich beabsichtigte Stationierung französischer und belgischer Eisenbahner im linksrheinischen Gebiet, wogegen die deutsche Delegation protestiert hatte. Am 16. August wurden auch die Abkommen über die Durchführung des Dawes-Plans paraphiert. Eines dieser Abkommen enthielt einen Terminplan für die „wirtschaftliche Räumung“ des besetzten Gebiets. Danach sollten sämtliche wirtschaftlichen und finanziellen Zwangsmaßnahmen der Besatzungsbehörden (Zollgrenze, Micum-Verträge, Eisenbahnregie usw.) aufgehoben werden, sobald die deutschen Reparationsgesetze verkündet waren und die im Dawes-Plan vorgesehenen Ausführungs- und Kontrollorgane ihre Tätigkeit aufgenommen hatten101.

97

Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 20.

98

Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 25.

99

Dok. Nr. 272.

100

Dok. Nr. 275; 276.

101

Zum Gesamtergebnis der Londoner Konferenz vgl. Dok. Nr. 283.

Ob die in London vereinbarten Fristen für die Ingangsetzung des Dawes-Plans und für die Beseitigung der militärischen und wirtschaftlichen Sanktionen eingehalten werden konnten, hing nun von der Stellungnahme der parlamentarischen Körperschaften ab. Das Kabinett war entschlossen, die endgültige Unterzeichnung des Londoner Vertragswerks wie vorgesehen am 30. August vorzunehmen und bis dahin die deutschen Ausführungsgesetze im Reichsrat und im Reichstag zur Annahme zu bringen. Von seiten des Reichsrats waren keine Schwierigkeiten zu erwarten. Wohl gab es Differenzen zwischen den Ländern mit früherem Eisenbahnbesitz und dem Reich über die finanzielle und organisatorische Beteiligung der Länder an der neuen Reichsbahngesellschaft, die gemäß dem Dawes-Gutachten gegründet werden sollte. Nicht alle Wünsche, welche die Länder und insbesondere Bayern in dieser Beziehung anmeldeten, wurden vom Reich akzeptiert; die Verhandlungen über die finanzielle Abfindung der ehemaligen Eisenbahnländer blieben ergebnislos102. Dessenungeachtet waren sich fast alle Landesregierungen mit dem Reichskabinett darin einig, daß die Londoner Abmachungen schon wegen der bedrohlichen Lage der Wirtschaft angenommen werden müßten.

102

Dok. Nr. 193, P. 4; 199, P. 2; 228, P. 2; 243; 248, P. 2; 252, P. 1; 260; 263, P. 2; 270, P. 2; 284; 308, P. 2; 314, P. 1.

Was die Haltung der im Reichstag vertretenen Parteien betraf, so schien die Zustimmung der Sozialdemokraten und der Regierungsparteien gesichert. Ungewißheit herrschte über die Entscheidung der DNVP. Ihre offiziellen Erklärungen ließen auf ein ablehnendes Votum schließen. Sie wies darauf hin, daß ihre Forderung nach unverzüglicher Räumung des Ruhrgebiets nicht erfüllt worden sei. Andererseits hoffte das Kabinett, daß die starke Gruppe agrarischer und industrieller Interessenvertreter innerhalb der deutschnationalen Reichstagsfraktion für die Annahme der Dawes-Gesetze eintreten werde. Für[XXXIX] den Fall der Ablehnung kündigte der Reichskanzler im Einvernehmen mit dem Reichspräsidenten die Auflösung des Reichstags an. Auch Pläne für einen Volksentscheid wurden erwogen. Um der DNVP-Fraktion die Zustimmung zu erleichtern, machte die Reichsregierung im letzten Augenblick gewisse Konzessionen. Sie sagte eine entgegenkommende Beantwortung der deutschnationalen Abänderungsanträge und die Abgabe einer Regierungserklärung zur Kriegsschuldfrage zu. In der Schlußabstimmung am 29. August 1924 votierte fast die Hälfte der Fraktion für das verfassungsändernde Reichsbahngesetz und ermöglichte dadurch die rechtzeitige Inkraftsetzung des Dawes-Plans103.

103

Dok. Nr. 280; 282; 285, P. 5; 288, P. 3; 289, P. 1.

Bereits vor der Londoner Konferenz hatte die DNVP von der Reichsregierung einen förmlichen Widerruf des in Versailles erzwungenen „wahrheitswidrigen Schuldbekenntnisses“ verlangt, und auch mehrere Landesregierungen hatten darauf gedrängt, daß die deutsche Delegation während der Londoner Verhandlungen die Kriegsschuldfrage zur Sprache bringen solle104. Reichkanzler Marx unterließ es dann aber, einen diesbezüglichen Passus bei seiner Schlußansprache in London vorzutragen, weil sich keine Gelegenheit fand, MacDonald deswegen vorher zu informieren105. Stattdessen legte Marx nach Beendigung der Konferenz in einem vertraulichen Schreiben an MacDonald den deutschen Standpunkt dar und regte die Einsetzung eines internationalen Schiedsgerichts zur unparteiischen Erforschung der Kriegsursachen an106. Da die Deutschnationalen damit nicht zufriedengestellt waren, veröffentlichte die Reichsregierung anläßlich der Annahme der Dawes-Gesetze durch den Reichstag am 29. August eine Kundgebung, in der sie erklärte, daß sie die den geschichtlichen Tatsachen widersprechende Feststellung des Versailler Vertrags, Deutschland habe den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt, nicht anerkenne. Zugleich kündigte sie die Übermittlung dieser Erklärung an die alliierten Regierungen an107.

104

Dok. Nr. 243; 259, Anm. 9.

105

Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 60.

106

Anhang, Dok. Nr. 11.

107

Dok. Nr. 290.

Beim Auswärtigen Amt, das in Abwesenheit Stresemanns von Staatssekretär Maltzan geleitet wurde, gingen in den nächsten Tagen nicht nur von alliierter, sondern auch von neutraler und deutscher Seite zahlreiche Stellungnahmen ein, die vor einer offiziellen Notifizierung der Kriegsschuldkundgebung dringend warnten: Die Übergabe der Note würde das auf der Londoner Konferenz Erreichte gefährden und eine scharfe Antwort der Alliierten provozieren. Die beiden Briefe an MacDonald und Herriot vom 4. September, in denen Marx um Verständnis für den angekündigten Schritt der Reichsregierung warb, blieben völlig wirkungslos und vermochten die wachsende Erregung in den Ententeländern nicht zu dämpfen. Daraufhin veranlaßte der Reichskanzler einen vorläufigen Aufschub der Notifizierung. Diese Entscheidung wurde schließlich auch von Stresemann akzeptiert, und Mitte September einigte man sich im Kabinett darauf, einen günstigeren Zeitpunkt für die Übergabe des Kriegsschuldprotests[XL] abzuwarten. Als mögliche Gelegenheit wurden die Verhandlungen über den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ins Auge gefaßt108.

108

Dok. Nr. 295; 297; 298; 301; 302. – Zur Diskussion über die Kriegsschuldfrage im weiteren Sinne gehört auch die Kontroverse über die Veröffentlichung der Sachverständigengutachten des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die Ursachen des militärischen Zusammenbruchs im Jahre 1918; vgl. hierzu Dok. Nr. 350; 354, P. 4; 366, P. 3; 369, P. 4; 372, P. 6.

Nach der Ratifizierung des Londoner Abkommens, das die Aussicht auf eine engere Kooperation zwischen dem Reich und den Westmächten eröffnete, hatte sich MacDonald in einer aufsehenerregenden Rede vor der Völkerbundsversammlung in Genf am 4. September nachdrücklich für die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund ausgesprochen. Seine Initiative löste besonders bei den kleineren, nicht zur Entente gehörenden Mitgliedsstaaten ein positives Echo aus, während Frankreich zurückhaltend reagierte. In Deutschland drängten vor allem die Sozialdemokraten auf einen baldigen Völkerbundseintritt. Stresemann war sich durchaus der besonderen Wirkungsmöglichkeiten bewußt, die mit einer Mitgliedschaft im Völkerbund etwa hinsichtlich der Regelung des Minderheitenschutzes, der Saarfrage, der internationalen Abrüstung und Friedenssicherung verbunden waren. Indessen warnte Stresemann vor einem überstürzten Vorgehen. Nach seiner Ansicht kam ein Aufnahmeantrag erst dann in Frage, wenn Deutschland die Gewißheit habe, einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat zu erhalten und damit als gleichberechtigte Großmacht behandelt zu werden. Außerdem müsse sichergestellt sein, daß der Eintritt Deutschlands nicht als Anerkennung der alliierten Kriegsschuldthese interpretiert würde. Die Diskussion in der entscheidenden Ministerratssitzung vom 23. September bewegte sich im wesentlichen auf der von Stresemann vorgezeichneten Linie. Unter dem Vorsitz Eberts wurde beschlossen, die grundsätzliche Bereitschaft Deutschlands zum Eintritt in den Völkerbund anzuzeigen. In einem Memorandum an die zehn im Völkerbundsrat vertretenen Regierungen sollten aber gleichzeitig die Bedingungen mitgeteilt werden, von denen die Reichsregierung den Beitritt abhängig zu machen gedachte. Es ging dabei um die Zusicherung eines ständigen Ratssitzes, die Befreiung von der Verpflichtung zur Teilnahme an Bundesexekutionen gemäß Artikel 16 der Völkerbundssatzung, die Nichtanerkennung der Kriegsschuldthese und die künftige Beteiligung Deutschlands an Kolonialmandaten. In ihrer Antwort auf das deutsche Memorandum vom 29. September 1924 zeigten die Ratsmächte im allgemeinen Verständnis für die Forderung nach einem ständigen Ratssitz, im übrigen wurde der Reichsregierung aber empfohlen, ihren Aufnahmeantrag nicht mit Vorbedingungen zu verknüpfen109. Inzwischen hatte die Beitrittsfrage allerdings an Aktualität verloren und war von den Problemen der Militärkontrolle und der Rheinlandräumung in den Hintergrund gedrängt worden.

109

Dok. Nr. 301304; 306, P. 3; 309, P. 4.

Ende 1923 hatten die Alliierten die Wiederaufnahme der Entwaffnungskontrolle verlangt, die während des Ruhrkampfes weitgehend eingestellt worden war. Für Mitte Januar 1924 hatte die IMKK bereits mehrere Kontrollbesuche[XLI] angekündigt. Bei der Vorbereitung der deutschen Stellungnahme kam es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Reichswehrministerium und dem Auswärtigen Amt, zwischen Seeckt und Stresemann. Seeckt hielt neue Inspektionen der IMKK bei der Truppe für unerträglich und ungerechtfertigt. Stresemann ging davon aus, daß nur durch elastisches Nachgeben ein allmählicher Abbau der Militärkontrolle erreicht werden könne. Außerdem wollte er die günstige Entwicklung des Reparationsproblems, die sich mit der Einsetzung des Dawes-Komitees abzuzeichnen begann, nicht durch eine starre Haltung in der Entwaffnungsfrage gefährden. Im Kabinett einigte man sich schließlich darauf, die angekündigten Kontrollbesuche im Januar noch einmal zuzugestehen, in der Antwortnote aber zum Ausdruck zu bringen, daß nach deutscher Auffassung die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags im wesentlichen erfüllt seien110.

110

Dok. Nr. 50.

Die Alliierten wiesen diesen Standpunkt nicht nur zurück, sie forderten nun auch in immer dringenderer Form die Durchführung einer Generalinspektion, die nach der langen Unterbrechung der Militärkontrolle ein umfassendes Bild des deutschen Rüstungsstandes vermitteln sollte. Herriot und MacDonald zeigten sich durch Nachrichten über illegale Mannschaftsergänzungen der Reichswehr und militärische Aktivitäten nationalistischer Organisationen in Deutschland111 beunruhigt und gaben der Reichsregierung deutlich zu verstehen, daß eine Ablehnung der alliierten Forderung auch die bevorstehenden Verhandlungen über die Inkraftsetzung des Dawes-Plans nachteilig beeinflussen würde. Unter diesen Umständen beschloß das Kabinett Ende Juni 1924 trotz schwerer Bedenken Seeckts und Geßlers, der Generalinspektion unter der Voraussetzung zuzustimmen, daß sie den Abschluß der alliierten Militärkontrolle bilde und daß eine Verständigung über die Modalitäten der Kontrolle erzielt werde112. Auf Antrag des Reichswehrministeriums wurde General Strempel damit beauftragt, die erforderlichen Verhandlungen mit der IMKK zu führen113.

111

Vgl. hierzu Dok. Nr. 137; 139, P. 2; 169, P. 3; 188.

112

Dok. Nr. 158, P. 2; 226; 229; 234.

113

Dok. Nr. 253, P. 1; 256, P. 1; 258, P. 1.

Zwar gelang es, den Beginn der Generalinspektion bis zum September hinauszuschieben, aber die Hoffnung auf ein Entgegenkommen der IMKK hinsichtlich der Kontrollmodalitäten erfüllte sich nicht. Außerdem hatte die Reichsregierung während der Londoner Konferenz von MacDonald erfahren, daß die Entscheidung der Alliierten über die Räumung der ersten (Kölner) Rheinlandzone, die der Versailler Vertrag zum 10. Januar 1925 in Aussicht stellte, vom Ergebnis der Generalinspektion abhängen würde114. Durch dieses Junktim erhielten die zahlreichen Verletzungen der alliierten Entwaffnungsbestimmungen, welche die IMKK im Verlauf der Generalinspektion feststellte, eine hochpolitische Bedeutung. Das Auswärtige Amt drängte daher wiederholt bei den beteiligten Ressorts auf eine rasche Erfüllung der Forderungen der IMKK, um den Alliierten jeden Vorwand für eine negative Entscheidung in der Räumungsfrage[XLII] zu nehmen. Freilich waren sich die Ressorts bei aller Konzessionsbereitschaft darüber einig, daß ein Teil der Beanstandungen unberechtigt sei und deshalb zurückgewiesen werden müsse115.

114

Anhang, Dok. Nr. 2; Dok. Nr. 286.

115

Dok. Nr. 330; 343; 352; 356; 359; 360; 362.

Je näher der kritische Termin des 10. Januar 1925 heranrückte, desto mehr verstärkte sich in Berlin die Überzeugung, daß die Alliierten auf Betreiben Frankreichs die Räumung der Kölner Zone auf unbestimmte Zeit verschieben würden. Vorsorglich erhob die Reichsregierung auf diplomatischem Wege und in öffentlichen Erklärungen Protest116. Marx bezeichnete das Vorgehen der Entente als Rückfall in die Sanktionspolitik der ersten Nachkriegsjahre; die Beanstandungen der IMKK beträfen lediglich gewisse „Restpunkte“, die angesichts der völligen militärischen Ohnmacht Deutschlands kaum ins Gewicht fielen und die keinesfalls eine Verlängerung der Besatzungsfrist rechtfertigten. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Stresemann. Die alliierte Kollektivnote vom 5. Januar 1925 bestätigte die Befürchtungen der Reichsregierung. Die Räumung der Kölner Zone wurde mit dem Hinweis auf die ungenügende Erfüllung der militärischen Vertragsbestimmungen verweigert; da der Schlußbericht der IMKK über das Ergebnis der Generalinspektion noch nicht vorlag, begnügten sich die Alliierten mit einer allgemein gehaltenen Aufzählung der deutschen Verfehlungen. Die Beantwortung der Note gehörte zu den letzten Amtshandlungen des zweiten Kabinetts Marx117.

116

Dok. Nr. 376, P. 2; 377.

117

Dok. Nr. 386, P. 1; 387, P. 2.

Auch für die deutsche Handelspolitik war das Datum des 10. Januar 1925 von weittragender Bedeutung. An diesem Tag erlosch die im Versailler Vertrag verankerte Verpflichtung des Reichs, den ehemaligen Siegermächten einseitig die Meistbegünstigung zu gewähren, so daß Deutschland seine handelspolitische Bewegungsfreiheit wiedererlangte. Die Reichsregierung mußte sich rechtzeitig auf diese neue Situation einstellen. Auf Vorschlag des Reichswirtschaftsministers Hamm wurde deshalb Anfang 1924 die Revision des veralteten Zolltarifs von 1902 in Angriff genommen, um ein den veränderten Wirtschaftsverhältnissen angepaßtes zollpolitisches Instrumentarium für künftige Handelsvertragsverhandlungen bereitzustellen und durch eine angemessene Erhöhung der Tarifsätze die Voraussetzung für den Fortfall der noch bestehenden Einfuhrverbote zu schaffen118. Zugleich setzte sich Hamm für den konsequenten Ausbau der deutschen Außenhandelsbeziehungen und für die Intensivierung des Exports ein, was umso notwendiger schien, als schon bald nach der Währungsstabilisierung eine zunehmende Passivität der Handelsbilanz und ein Anwachsen der kurzfristigen Auslandsverschuldung erkennbar wurde119.

118

Dok. Nr. 46; 57, P. 4.

119

Dok. Nr. 165. Vgl. auch die Denkschrift Hamms vom 3.1.25: Dok. Nr. 385.

Mit der Aktivierung der Handelspolitik im Jahre 1924 brachen im Kabinett wie in der Öffentlichkeit die traditionellen Gegensätze zwischen industriellen und agrarischen Interessen wieder auf. Das wurde bei der Diskussion über die Handelsverträge mit Österreich und Spanien deutlich, als es unter anderem[XLIII] um die Frage ging, ob Deutschland seinen ausländischen Handelspartnern Erleichterungen für Agrarimporte zugestehen könne, um als Gegenleistung Zollvergünstigungen für industrielle Ausfuhren zu erhalten. Während die Mehrheit des Kabinetts den Verträgen mit Österreich und Spanien im Interesse der Erschließung neuer Absatzmärkte zustimmte und im Falle des deutsch-spanischen Abkommens relativ niedrige Zollsätze für spanische Weinimporte hinnahm, lehnte Ernährungsminister Graf Kanitz handelspolitische Konzessionen zuungunsten der Landwirtschaft und des Weinbaus ab120.

120

Zum deutsch-österreichischen Handelsabkommen vgl. Dok. Nr. 118, P. 1; 227; 244, P. 2; 365, P. 2. Zum deutsch-spanischen Abkommen vgl. Dok. Nr. 244, P. 1; 266, P. 2; 268; 281, P. 3; 315, P. 5; 342, P. 4; 344, P. 6.

Kanitz nahm die schwebenden Handelsvertragsverhandlungen und die beabsichtigte Erhöhung von Industriezöllen zum Anlaß, um unter Hinweis auf die kritische Lage der Landwirtschaft die Wiedereinführung der seit 1914 suspendierten Agrarzölle zu verlangen. Diese Forderung, die auch vom Reichslandbund erhoben wurde, stellte die Reichsregierung vor eine schwierige Entscheidung. Sie erkannte die durch hohe Steuerbelastung und Kapitalmangel hervorgerufene Notlage der Landwirtschaft durchaus an und versuchte im Rahmen des Möglichen mit Steuerstundungen und Krediterleichterungen zu helfen. Die Rückkehr zum landwirtschaftlichen Schutzzoll der Vorkriegszeit stieß jedoch im Kabinett auf erhebliche Bedenken, da man als Folge eine Verteuerung der Lebenshaltungskosten befürchtete, die mit der auf Preissenkung und Produktionsverbilligung gerichteten Wirtschaftspolitik der Regierung nicht vereinbar war. Deshalb mußte auch mit dem Widerstand der Gewerkschaften, der Kommunisten, der Sozialdemokraten und eines Teils der bürgerlichen Abgeordneten gegen Agrarzölle gerechnet werden. Dennoch gab das Kabinett dem Drängen des Ernährungsministers, der mit seinem Rücktritt drohte, schließlich nach und billigte einen Gesetzentwurf über Zölle und Umsatzsteuer, der die Wiederherstellung der außer Kraft gesetzten Landwirtschaftszölle vorsah. Als Nebeneffekt dieser Konzession erhoffte man sich eine Aufweichung der deutschnationalen Opposition gegen den Dawes-Plan. Da die Reichsregierung aber Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des landwirtschaftlichen Schutzzolls vor der Verabschiedung der Reparationsgesetze vermeiden wollte, zögerte sie die parlamentarische Behandlung der Zollvorlage immer wieder hinaus. Als dann am 30. August, einen Tag nach der Annahme der Dawes-Gesetze, die Vorlage im Reichstag beraten werden sollte, führten Sozialdemokraten und Kommunisten aus Protest gegen die Agrarzölle die Beschlußunfähigkeit des Hauses herbei. Da der Reichstag anschließend in die Ferien ging und bereits im Oktober 1924 aufgelöst wurde, blieb die Zollvorlage unerledigt liegen121. Erst während der Amtszeit des Kabinetts Luther wurden die Agrarzölle im Rahmen der sogenannten kleinen Zolltarifnovelle wiedereingeführt.

121

Dok. Nr. 118, P. 1; 227; 228, P. 1; 235, P. 1; 242, P. 2; 252, P. 3; 262, P. 1; 285, P. 6; 288, P. 1.

Seit dem Herbst 1924 rückten die Handelsvertragsverhandlungen mit England und Frankreich in den Vordergrund des politischen Interesses. Während[XLIV] mit England bereits am 2. Dezember ein Handelsabkommen auf der Grundlage der gegenseitigen Meistbegünstigung unterzeichnet werden konnte122, schleppten sich die Verhandlungen mit Frankreich ohne greifbare Resultate dahin. Die Initiative zu diesen Verhandlungen war von französischer Seite ausgegangen. Auf der Londoner Konferenz im August hatte der französische Finanzminister Clémentel der deutschen Delegation den Abschluß eines Handelsabkommens vorgeschlagen, das nach dem 10. Januar 1925 an die Stelle der einseitigen Handels- und Zollbegünstigungen treten sollte, die Frankreich bis dahin auf Grund des Friedensvertrags genoß. Außer der Meistbegünstigung und Zollermäßigungen wünschte die französische Regierung vor allem eine Verlängerung der bisherigen Zollfreiheit für die Ausfuhr von Warenkontingenten aus Elsaß-Lothringen nach Deutschland. Finanzminister Luther und Staatssekretär Trendelenburg, die Gesprächspartner Clémentels in London, hatten entsprechend den Instruktionen des Kabinetts und gemäß dem Standpunkt der deutschen Industrie eine pauschale Prolongierung der zollfreien elsaß-lothringischen Kontingente abgelehnt und die Gewährung der Meistbegünstigung von gleichwertigen Zugeständnissen Frankreichs abhängig gemacht123.

122

Hinsichtlich der deutsch-englischen Handelsvertragsverhandlungen sind die Akten der Reichskanzlei verhältnismäßig unergiebig. Vgl. Dok. Nr. 307, P. 5; 353, Anm. 5.

123

Anhang, Dok. Nr. 3; Dok. Nr. 272; 273, P. 7.

Die eigentlichen Handelsvertragsverhandlungen, die am 1. Oktober in Paris begannen, erwiesen sich als außerordentlich kompliziert und langwierig. Abgesehen von der umstrittenen Kontingentsfrage lag eine der Hauptschwierigkeiten in den unterschiedlichen Handelsvertragssystemen beider Länder. Der Umstand, daß Frankreich nicht die allgemeine, sondern nur eine listenmäßig begrenzte Meistbegünstigung für bestimmte Warenkategorien kannte, machte ein zeitraubendes Aushandeln zahlreicher Tarifpositionen erforderlich. Erschwerend wirkte sich außerdem das Fehlen verbindlicher, langfristig gültiger Zolltarife aus. Einen besonderen Streitpunkt bildete die 26prozentige Reparationsabgabe, mit der Frankreich nach dem Beispiel Großbritanniens seit dem 1. Oktober die deutschen Einfuhren belegte. Die Reichsregierung forderte die Beseitigung der Abgabe, die nach ihrer Ansicht den deutschen Handel diskriminierte und zudem gegen die Transferbestimmungen des Dawes-Plans verstieß. Die französische Regierung lehnte jedoch eine Diskussion über die Reparationsabgabe im Zusammenhang mit den Handelsgesprächen ab, so daß die deutsche Seite diese Frage zurückstellen mußte, um nicht den Fortgang der Verhandlungen zu gefährden. Mit dem Ablauf der handelspolitischen Bestimmungen des Versailler Vertrags am 10. Januar 1925 war ein Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich noch längst nicht in Sicht, und da auch keine Einigung über ein kurzfristiges Provisorium zustande kam, trat in den Handelsbeziehungen beider Länder ein vertragsloser Zustand ein. Ein Zollkrieg konnte jedoch vermieden werden. Ungeachtet der politischen Spannungen, die sich aus der Nichträumung der Kölner Zone ergaben, sprach sich die Reichsregierung für die Fortführung der Wirtschaftsverhandlungen aus124.

124

Dok. Nr. 307, P. 5; 344, P. 5; 347, P. 1; 353, P. 2; 354, P. 1; 355, P. 1; 357; 380, P. 2; 382, P. 2; 387, P. 1; 388, P. 1.

Extras (Fußzeile):