2.41 (ma11p): Nr. 41 Der Chef der Heeresleitung an den Preußischen Minister des Innern. 29. Dezember 1923

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Nr. 41
Der Chef der Heeresleitung an den Preußischen Minister des Innern. 29. Dezember 1923

R 43 I /685 , Bl. 170-173 Durchschrift1

1

v. Schleicher übersendet am 29. 12. je eine Durchschrift an den RK und den RIM. Auf dem Begleitschreiben hschr. Vermerk Kempners vom 2.1.24: „Herrn RK durch Herrn StS zur gen. Kenntnisnahme. Ich empfehle, den Brief des Generals v. Seeckt an den Preuß. Innenminister zu lesen.“ Das Schreiben ist von Marx abgezeichnet.

[Zusammenarbeit von Militär- und Zivilbehörden während des Ausnahmezustandes]

Verschiedene Vorkommnisse der letzten Zeit veranlassen mich, erneut Ihre Unterstützung zur Abstellung von Unstimmigkeiten zu erbitten, die geeignet sind, die schon an sich nicht leichte Aufgabe der Militärbefehlshaber unnötig zu erschweren. Aus Ihren mündlichen und schriftlichen Äußerungen glaube ich entnehmen zu dürfen, daß auch Sie großen Wert auf ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen Militär- und Zivilbehörden legen. Die besten Absichten[174] müssen aber erfolglos bleiben, wenn Vorkommnisse, wie sie in den Anlagen (1–6)2 zur Sprache gebracht werden, bei den Reichswehrdienststellen den Verdacht aufkommen lassen, daß sie überwacht oder, um ein schärferes Wort zu gebrauchen, bespitzelt werden. Es ist immer dasselbe Lied, statt sich vertrauensvoll an die betr. Kommandobehörde zu wenden, werden Erkundigungen hintenherum eingezogen und dann wird in großer Aufmachung an das Ministerium des Innern berichtet. Kein Wunder, wenn sich dann selbst bei so ruhig und sachlich arbeitenden Kommandobehörden wie dem Wehrkreiskommando III ein Grad von Erbitterung ansammelt, wie er in dem Schreiben der Anlage 1 zum Ausdruck kommt3, und der mich schließlich zu Anordnungen zwingt, die ein aktives Vorgehen gegen Kriminal-Beamte zur Folge haben. Ich darf daran erinnern, daß ich schon einmal anläßlich des Altonaer Zwischenfalls zu derartig scharfen Bestimmungen greifen mußte. Der erstaunliche Überwachungsdienst, wie ihn mit großem Personal- und Geldaufwand die sächsische Regierung aufgezogen hatte, hat naturgemäß die Reichswehrdienststellen auf diesem Punkte ganz besonders empfindlich gemacht und dem Herrn Reichswehrminister im Reichsrat zu seinen scharfen Angriffen gegen den sächsischen Minister des Innern4 Veranlassung gegeben. Es mußte daher peinliches Befremden erregen, daß der preußische Oberpräsident Hörsing dem Minister Liebmann durch Zwischenrufe und Unterstreichungen gewissermaßen Hilfsstellung leistete. Ich möchte mich des Urteils darüber enthalten, ob das Auftreten des Oberpräsidenten Hörsing im Reichsrat geeignet war, das Ansehen der preußischen Regierung zu heben. Verwahrung muß ich aber dagegen einlegen, daß er eine Fülle von Beschwerden über den Ausnahmezustand vortrug, die mir vorher auf dienstlichem Wege nicht zugegangen waren und die er mir trotz Aufforderung des Reichswehrministers auch jetzt noch nicht zugeleitet hat. Ein solches Verfahren ist allerdings wenig dazu angetan, eine gedeihliche Zusammenarbeit zu fördern und umso eigenartiger, als der Kommandeur des Wehrkreiskommandos IV lebhafte und, wie mir scheinen will, durchaus berechtigte Klagen über den Oberpräsidenten Hörsing erhoben hat (vgl. Anlage 2)5. Es heißt doch jeder Staatsautorität geradezu Hohn sprechen, wenn[175] der Oberpräsident im Reichsrat mit besonderer Genugtuung mitteilt, daß er eine ihm nicht genehme Anordnung des Wehrkreiskommandos IV absichtlich nicht weitergab, sondern, wie er sich ausdrückte, in der Tiefe seiner Schublade verschwinden ließ. Daß die in diesem Schreiben des Wehrkreiskommandos IV (vgl. Anl. 3)6 gemachten Ausführungen jetzt durch die zwischen uns vereinbarten Richtlinien7 teilweise überholt sind, kann das Verhalten des Oberpräsidenten in keiner Weise entschuldigen. Ich wäre dankbar, wenn Sie, Herr Minister, den Oberpräsidenten Hörsing nachdrücklich auf die mit seiner Stellung verbundenen Pflichten hinweisen würden, damit der Militärbefehlshaber nicht gezwungen ist, gegen ihn einzuschreiten, was im Interesse der Staatsautorität bedauerlich wäre. Ich möchte hier aber auf das Bestimmteste erklären, daß ich mir in Zukunft Vorkommnisse, die geeignet sind, meine Autorität als Inhaber der vollziehenden Gewalt zu gefährden, nicht mehr gefallen lassen und auch gegen die höchsten Beamten in derartigen Fällen unnachsichtlich vorgehen werde. Dazu gehört auch die Durchführung der in Ziffer 2 unserer Richtlinien8 festgelegten Bestimmung, wonach dem Militärbefehlshaber vor Erlaß bedeutsamer Maßnahmen Gelegenheit zur Stellungnahme und zur etwaigen[176] Geltendmachung von Einsprüchen gegeben werden soll. Im Fall Stolzenberg ist dies (vgl. Anl. 4)9 sehr zum Schaden des Ansehens der Militärbehörden, denen derartige Mißgriffe während des Ausnahmezustandes naturgemäß zur Last gelegt werden, wieder unterblieben. Wir müssen in Deutschland – und ich glaube, für diesen Standpunkt bei Ihnen weitgehendes Verständnis zu finden – gegen die Seuche ankämpfen, wonach jeder Mensch befehlen aber niemand gehorchen will, und wir müssen allen Bevölkerungsschichten, besonders aber der Beamtenschaft, eindringlich zum Bewußtsein bringen, daß Regieren Handeln, nicht Verhandeln bedeutet.

2

Nicht abgedruckt; s. die folgenden Anmerkungen.

3

In der Anlage ein Bericht des Wehrkreiskommandos III (Berlin) an das RWeMin. vom 18. 12. mit Schriftwechsel zwischen dem Wehrkreiskommando und dem Polizeipräsidium Berlin. Daraus geht hervor, daß das Polizeipräsidium im Einvernehmen mit dem PrIM Anfang November 1923 vertrauliche Ermittlungen über Beziehungen rechtsradikaler Gruppen zur Reichswehr in Brandenburg anstellen ließ. Der Befehlshaber im Wehrkreis III, Genlt. v. Horn, schreibt dazu: „Das Wehrkreiskommando hat nunmehr Anordnung getroffen, um seine Truppen und Angestellten vor Belästigungen und unwürdigen Nachstellungen zu schützen und wird diesen Schutz mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln durchführen; es gibt sich der Hoffnung hin, der preuß. Herr Minister des Innern möge durch die zukünftige Handhabung der Geschäfte seiner polizeilichen Ressorts es verhindern, daß es zu schwersten Zusammenstößen zwischen den Trägern der Staatsautorität – dem Heer und der Polizei – kommt.“

4

Liebmann.

5

In einem Bericht vom 5. 12. an das RWeMin. beschwert sich der Befehlshaber im Wehrkreis IV (Sachsen), Genlt. Müller, darüber, daß der OPräs. Hörsing seine Befugnisse wiederholt eigenmächtig überschritten und wichtige Anordnungen ohne vorherige Benachrichtigung des Wehrkreiskommandos getroffen habe.

6

In seinem Schreiben an OPräs. Hörsing vom 16. 11. nimmt Genlt. Müller „Gelegenheit, auf mancherlei irrige Vorstellungen hinzuweisen, die bei den bürgerlichen Verwaltungsbehörden über ihr Verhältnis zum Militärbefehlshaber obwalten“. Die dem Militärbefehlshaber übertragene vollziehende Gewalt umfasse alles, was nicht dem Gebiet der richterlichen oder gesetzgebenden Gewalt angehöre. Demnach gehe die vollziehende Gewalt sowohl der Zentralbehörden wie auch der Gemeinden einschließlich der gesamten polizeilichen Tätigkeit auf den Militärbefehlshaber über. „Ihm steht die gesamte Verwaltung seines örtlichen Bezirkes zu, ohne daß ein Mitbestimmungsrecht irgendwelcher Stelle gegeben wäre. Er hat allein nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden, welche Maßnahmen er zur Erfüllung seiner Aufgaben ergreifen will.“ Er kann die vollziehende Gewalt selbst ausüben oder aber die Zivilbehörden in ihrer Tätigkeit belassen usw. Abschließend fordert Genlt. Müller den OPräs. Hörsing auf, innerhalb einer Woche Bericht zu erstatten, daß dieses Schreiben den RegPräs. und Landräten der Provinz Sachsen „vollständig zur Beachtung“ mitgeteilt worden sei.

7

Gemeint sind die zwischen Seeckt und Severing vereinbarten „Richtlinien über die Handhabung der vollziehenden Gewalt auf Grund der VO vom 26. September 1923 für das preußische Staatsgebiet“, die von Severing am 30.11.23 den pr. Ober- und Regierungspräsidenten, vom Truppenamt am 14.12.23 den Wehrkreiskommandos mitgeteilt wurden (abgedr. als Anlage 5 zur „Denkschrift über den militärischen Ausnahmezustand. 26. September 1923 bis 29. Februar 1924“ vom 12.8.24, in R 43 I /2708 , Bl. 290-314, hier: Bl. 311). In den „Richtlinien“ heißt es: „1. Zur Anordnung von Maßnahmen auf Grund des § 1 der Verordnung [vom 26.9.23, RGBl. I, S. 905 ] sind allein die Militärbefehlshaber befugt. 2. Die preußischen Verwaltungsbehörden setzen wie ihre Obliegenheiten überhaupt auch ihre vollziehende Tätigkeit unter eigener Verantwortung nach Maßgabe der bisherigen Gesetze, Verordnungen und Erlasse fort. Sie werden die Militärbefehlshaber über alle die Aufrechterhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung betreffenden Vorgänge auf dem laufenden halten und ihnen vor Erlaß bedeutsamer Maßnahmen Gelegenheit zur Stellungnahme und zur etwaigen Geltendmachung von Einsprüchen geben.“ „5. Die preußischen Verwaltungsbehörden bleiben weiter für Aufrechterhaltung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung verantwortlich und verfügen demgemäß über die Polizeikräfte selbständig; sie werden hierbei in steter Verbindung mit den Militärbefehlshabern bleiben und diese insbesondere über die jeweilige Verteilung der Schutzpolizei auf dem laufenden halten. 6. Wird ein Militärbefehlshaber zur Unterdrückung von Unruhen mit Kräften der Reichswehr selbsttätig und nimmt er im Wege der Anweisung an eine preußische Verwaltungsbehörde gleichzeitig Kräfte der Schutzpolizei hierfür in Anspruch, so wird er die Befehlsverhältnisse im Einzelfalle regeln. 7. In den Aufbau der Polizeikörper werden die Militärbefehlshaber nicht eingreifen. Bei etwa notwendig werdenden organisatorischen Veränderungen sind die Militärbefehlshaber zu beteiligen.“

8

S. die vorige Anm.

9

Bericht des Befehlshabers im Wehrkreis II (Stettin), Genlt. v. Tschischwitz, an das RWeMin. vom 21. 12. v. Tschischwitz beschwert sich über das rücksichtslose Vorgehen der schleswig-holsteinischen Behörden anläßlich einer Haussuchung bei Oberst a. D. Frhr. v. Stolzenberg sowie über unzulängliche Berichterstattung an den Militärbefehlshaber durch den OPräs. in Kiel. „Das Vorgehen der zivilen Verwaltungsbehörden im Gebiet der Provinz Schleswig-Holstein ist einseitig gegen rechts gerichtet. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Empörung in diesen Kreisen immer größer wird, und daß von einem Vertrauen zu den Zivilbehörden bald überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann.“

In diesem Zusammenhang noch einige grundsätzliche Feststellungen über den militärischen Ausnahmezustand überhaupt. Ich verkenne durchaus nicht, daß er von den Ländern und allen Zivilbehörden ein gewisses Maß von Selbstverleugnung verlangt. Ich meine aber, daß diese Unbequemlichkeiten in den Kauf genommen werden müssen, wenn es sich um den Bestand des Reiches handelt; denn es ist allerdings meine feste Überzeugung, daß ohne den militärischen Ausnahmezustand das Reich und auch Preußen in den vergangenen Monaten dem vereinten Ansturm der rechts- und linksradikalen Kreise nicht hätte standhalten können. Das Reich mußte seine gesamte Macht in einer Hand konzentrieren, wenn es sich durchsetzen wollte. Ich weiß, Herr Minister, daß Sie selbst diesen Standpunkt in der Nacht vom 26./27. 9. vertreten und auch dem damaligen Reichsinnenminister10 gegenüber die Ansicht zum Ausdruck gebracht haben, daß man Jahr und Tag mit dem Ausnahmezustand regieren müßte, um in Deutschland endlich Ruhe und die Möglichkeit zum Wiederaufbau zu bekommen. Diese Auffassung hat sich schon jetzt als unbedingt richtig erwiesen, denn jeder unparteiisch Denkende wird zugeben müssen, daß in den letzten Wochen für die Festigung der Reichsautorität Außerordentliches geleistet ist. Ich spreche das trotz der noch immer unbefriedigenden Verhältnisse in Bayern aus, weil ich glaube, daß gerade zur Beilegung des bayerischen Konfliktes nichts mehr beitragen kann wie eine starke Reichsgewalt. Deshalb halte ich es geradezu für ein Verhängnis, wenn immer wieder von einer Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes geredet wird. Das Reich braucht in der kommenden Zeit, um die in Angriff genommene wirtschaftliche Sanierung, die von allen Kreisen die größten Opfer verlangt, durchführen und wenigstens ein geringes Maß von Außenpolitik treiben zu können, eine starke Reichs- exekutive, die es sich, so wie die Verhältnisse nun einmal liegen, nur durch den militärischen Ausnahmezustand verschaffen kann. Letzten Endes handelt es sich um das große deutsche Problem: Wollen wir Machtpolitik treiben, dann müssen wir den Leerlauf auf allen Gebieten ausschalten – er ist besonders[177] groß durch den föderativen Aufbau des Reiches (… Minister und … Abgeordete11 ) – , alle produktiven Kräfte zusammenfassen und die Reichsgewalt stärken; oder wollen wir unter Verzicht auf nationale Geltung von unsern Nachbarn wirtschaftliche Vorteile erkaufen, dann ist die Stärkung der Länder und Provinzen verständlich. Die Antwort von Preußen, für dessen Politik Sie, Herr Minister, zurzeit mit in erster Linie verantwortlich sind, sollte seiner Geschichte entsprechend nicht zweifelhaft sein.

10

Sollmann.

11

Wahrscheinlich sind die entsprechenden Zahlenangaben im Originalschreiben hschr. eingetragen, wobei vergessen wurde, die Angaben auch in die – hier abgedruckte – Durchschrift einzufügen.

Mit der Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung habe ich die Ehre zu sein

Ihr sehr ergebener

gez. v. Seeckt.

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