1.143.1 (ma12p): 1. Deutsch-französische Handelsvertragsverhandlungen.

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1. Deutsch-französische Handelsvertragsverhandlungen.

Staatssekretär v. Maltzan berichtete über die Schritte, die das Auswärtige Amt in Ausführung der Kabinettsbeschlüsse unternommen habe. Die durch die Ausführungen der Deutschen Delegation bezüglich der 26%igen Reparationsabgabe hervorgerufene Schwierigkeit hätte zu einer vorläufigen Unterbrechung der deutsch-französischen Verhandlungen geführt, und es sei jetzt zu erwägen, in welcher Form weiter vorgegangen werden solle. Falls dabei das Kabinett zu einer Entscheidung gelange, die von dem bisherigen Standpunkt abweiche, bitte der Herr Reichsminister des Auswärtigen, seine Zustimmung einzuholen.

Staatssekretär Trendelenburg berichtete über die Pariser Verhandlungen. Als er nach seinem Bericht im Kabinett am 31. Oktober1, nach dem ihm das[1175] Kabinett Vollmacht bezüglich der Weiterbehandlung der 26%igen Reparationsabgabe gegeben habe, nach Paris zurückgekehrt sei, habe er vom Auswärtigen Amt Weisung erhalten, sofort eine Demarche wegen der 26%igen Reparationsabgabe zu unternehmen2. Für die Verschiedenheit der in der Kabinettssitzung am 31. Oktober zum Ausdruck gekommenen Auffassung und des Inhalts der Instruktion habe er keine Erklärung gehabt. Er habe aber, da die Instruktion nach seiner Berichterstattung in Berlin abgesandt worden sei, annehmen müssen, daß besondere Gründe für diese Änderung der Auffassung des Kabinetts vorgelegen haben. Allerdings sei er sich auch sofort klar darüber gewesen, daß die Ausführung der Instruktion die Verhandlungen gefährden werde. Er habe daraufhin die Instruktion nach der ersten Sitzung Raynaldy gegenüber ausgeführt, und zwar auf dessen Ersuchen hin, bestehende Wünsche vorzubringen. Raynaldy habe es abgelehnt, über diese Frage zu verhandeln, da sie über seine Zuständigkeit hinausginge. Es habe darauf am Montag, den 10. November eine Unterhaltung mit Herriot stattgefunden, die den bereits durch Telegramm berichteten Verlauf genommen habe3. Seit dieser Zeit seien die sachlichen Verhandlungen nicht wieder aufgenommen worden. Seydoux habe sich aber danach nochmals mit Herrn v. Hoesch in Verbindung gesetzt, wobei Seydoux zum Ausdruck gebracht habe, daß Frankreich die 26%ige Reparationsabgabe eventuell dann aufgeben könnte, wenn durch die Sachleistungen der Anteil Frankreichs an den Reparationszahlungen sichergestellt sei.

1

S. Dok. Nr. 347, P. 1.

2

Gemeint ist offenbar das Instruktionstelegramm des RAM vom 4. 11. an Botschafter v. Hoesch in Paris (s. Dok. Nr. 353, Anm. 4).

3

S. Das Telegramm Hoeschs vom 10. 11. aus Paris an das AA (Dok. Nr. 353, Anm. 4).

Das deutsch-französische Verhältnis habe sich durch diese Zuspitzung zunächst vollständig geändert. Wirtschaftlich sei die Lage so zu beurteilen, daß Frankreich durch ein Nichtzustandekommen des Handelsvertrages stärkere Nachteile erleide als Deutschland. Die deutsche Wirtschaft werde jedenfalls nicht auf ein Zustandekommen des Handelsvertrages drängen. Politisch dagegen werde der Abbruch der Verhandlungen rückwirken auf alle übrigen Fragen, die zwischen Deutschland und Frankreich schwebten, insbesondere also auf die Entwaffnungsfrage, die Räumungsfrage usw. Herr v. Hoesch und er seien daher der Meinung, daß es sehr zu bedauern sei, daß die Verhandlungen gerade an der Frage der 26%igen Reparationsabgabe gescheitert seien. Herriot habe dadurch die Möglichkeit bekommen, die Schuld Deutschland zuzuschieben. Im Augenblick sehe er keine Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen, falls Deutschland seinen Standpunkt bezüglich der 26%igen Reparationsabgabe nicht aufgeben wolle. Das aber halte er für nicht möglich. Die bisher vom Auswärtigen Amt vorgesehenen zwei Wege führten nicht zum Ziel: die englische Formel, auf Frankreich angewendet, löse nur die Frage aus, was Deutschland unter einer befriedigenden Lösung verstehe4. Wenn darunter die Aufhebung5 verstanden werde, sei dieser Weg für Frankreich ungangbar. Der Schiedsgerichtsgedanke komme andererseits auch nicht in Betracht: selbst wenn nämlich das Schiedsgericht im[1176] französischen Sinne entschiede, so bedeute dies ja nur, daß wir dann Frankreich gegenüber genau so ständen wie England gegenüber. Zur Zeit forderten wir aber auch von England die Aufhebung der 26%igen Reparationsabgabe, würden also auch Frankreich gegenüber auf dieser Forderung bestehen müssen. Der Sachleistungsgedanke Seydoux laufe hinaus auf eine Garantie des französischen Reparationsanteils durch Deutschland. Mit Rücksicht auf die daraus entstehenden Rückwirkungen sei dieser Weg ungangbar. Das Ergebnis sei, daß er keinen Ausweg sähe, wenn an dem grundsätzlichen Standpunkt seitens Deutschlands festgehalten werde.

4

Vgl. das Telegramm Maltzans vom 8. 11. an Hoesch und Trendelenburg (Dok. Nr. 353, Anm. 5).

5

D. h. die Aufhebung der Reparationsabgabe.

Der Gesandte Ritter glaubte es für richtiger halten zu sollen, über Vorschläge zu beraten, die aus der Situation herausführten, als die Schuldfrage an dem jetzigen Scheitern der Verhandlungen aufzuwerfen. Betonen müsse er aber, daß seiner Meinung nach das Kabinett niemals den Standpunkt verlassen habe, die Frage der 26%igen Reparationsabgabe müsse ausgetragen werden. Der Reichsfinanzminister habe ihm in einer persönlichen Unterredung auch bestätigt, daß der Beschluß des Kabinetts vom 29. Oktober6 ausgeführt werden müsse. Die Instruktion an den Botschafter v. Hoesch7 sei sehr frei gehalten gewesen, da sie Herrn v. Hoesch ausdrücklich ersucht habe, über die Form der Ausführung mit Staatssekretär Trendelenburg zu beraten.

6

S. Dok. Nr. 344, P. 5.

7

S. oben Anm. 2.

Was nun den Ausweg anlange, so glaube er, daß man vielleicht auf folgender Basis vorwärts komme: Deutschland stelle die Frage der 26%igen Reparationsabgabe zurück und erkläre, sie im Rahmen der Handelsvertragsverhandlungen nicht wieder vorzubringen, Frankreich verzichte demgegenüber auf die Forderung der Meistbegünstigung und erkläre sich einverstanden mit der Fortführung der Verhandlungen auf der Basis des französischen Zollsystems.

Staatssekretär Trendelenburg erklärte, daß er kein Bedürfnis empfunden habe, die Deutsche Delegation zu exkulpieren, er müsse jedoch feststellen, daß das Auswärtige Amt eine Instruktion an den Botschafter v. Hoesch und ihn entworfen habe zu einer Zeit, als er noch in Berlin anwesend gewesen sei. Wenn das Auswärtige Amt auf dem Standpunkt stände, daß dieses Vorgehen richtig sei, dann müsse er aus dieser Auffassung die Konsequenzen ziehen. Was den sachlichen Vorschlag des Gesandten Ritter anlange, so bedeute er, daß Deutschland seine bisherige Grundlage der Außenhandelspolitik verlasse. Ein Provisorium auf dieser Grundlage wäre erträglich, wenn Frankreich sich darauf einließe. Dies glaube er aber nicht. Die Atmosphäre in Paris sei völlig zerstört. Die Franzosen glaubten nicht mehr, daß Deutschland tatsächlich zu einem Abkommen zu gelangen wünsche. Frankreich werde in dem Vorschlag nur den Versuch Deutschlands sehen, ihm die Argumente für seine Haltung aus der Hand zu nehmen.

Der Reichsfinanzminister erklärte, daß er an seinem grundsätzlichen Standpunkt, ein Handelsvertragsabschluß sei unter Beibehaltung der 26%igen Reparationsabgabe unmöglich, festhalte. Dies habe er auch dem Gesandten Ritter bei einer persönlichen Unterredung wiederholt. Der Dawesplan falle in sich zusammen,[1177] wenn das System der 26%igen Reparationsabgabe bestehen bleibe. Wenn heute Herriot Deutschland ein illoyales Verhalten zum Vorwurf mache, so sei Deutschland in viel höherem Grade berechtigt, diesen Vorwurf Frankreich zu machen: denn in dem Augenblick, wo die Verhandlungen über einen künftigen Handelsvertrag mit Frankreich in London geführt worden seien8, habe es in Frankreich noch keine 26%ige Reparationsabgabe gegeben. Die Grundlage der Verhandlungen sei also durch Frankreich geändert worden. Ob die Frage der 26%igen Reparationsabgabe auf dem reparationspolitischen Wege ausgeräumt werden könne, sei sehr unsicher. Der in der Morgenpresse veröffentlichte Brief Gilberts an ihn9 enthalte an wirklicher Lösung nichts. Gilbert scheine aber, wie er erfahren habe, ein weiteres Vorgehen zu beabsichtigen. Er (Reichsfinanzminister) müsse jedoch bitten, darüber in einer Ministerbesprechung berichten zu dürfen.

8

Vgl. die Aufzeichnung Trendelenburgs über die Besprechung am 12. 8. während der Londoner Konferenz (Anhang, Dok. Nr. 3).

9

Schreiben des Reparationsagenten Gilbert an den RFM vom 14. 11. (vgl. Dok. Nr. 354, Anm. 5).

Staatssekretär v. Maltzan teilte mit, daß die Instruktion an den Botschafter v. Hoesch nach Paris10 am 3. November 8 Uhr abends entworfen worden sei, also zu einer Zeit, wo keine Möglichkeit mehr bestanden habe, mit Staatssekretär Trendelenburg in Berlin persönlich in Verbindung zu treten.

10

S. Anm. 2.

Staatssekretär Fischer gab einen kurzen Überblick über die Kabinettssitzung vom 31. Oktober11 und betonte, daß wohl besonders auch mit Rücksicht auf seine Mitteilungen über die Möglichkeit einer Lösung der 26%igen Reparationsabgabe auf reparationspolitischem Wege die allgemeine Auffassung dahin gegangen sei, daß für die Behandlung im Rahmen der Handelsvertragsverhandlungen noch Zeit genug wäre.

11

S. Dok. Nr. 347, P. 1.

Der Gesandte Ritter wies darauf hin, daß der Zweck der Instruktion lediglich der gewesen sei, Herrn v. Hoesch über die beiden Kabinettssitzungen vom 29. und 31. Oktober zu informieren. Daß zwischen diesen beiden Kabinettssitzungen eine Divergenz der Auffassung des Kabinetts bestanden habe, sei ihm nicht zum Bewußtsein gekommen. Gerade mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der Situation in Paris sei von einer bindenden Instruktion Abstand genommen worden, und diese so gehalten worden, daß es Herrn v. Hoesch im Benehmen mit Herrn Trendelenburg überlassen wurde, nach ihrem Gutdünken zu handeln.

Staatssekretär Trendelenburg wandte sich gegen diese Auffassung und bat, die Instruktion zu verlesen, aus der klar hervorginge, daß ihnen lediglich die Wahl zwischen zwei Wegen gelassen worden sei12.

12

In den Akten der Rkei nicht ermittelt.

Die Kabinettssitzung wurde daraufhin abgebrochen und eine Ministerbesprechung angeschlossen.

Der Reichsfinanzminister teilte mit, daß Gilbert beabsichtige, in einer Sitzung des Transferkomitees am 29. November folgendes vorzuschlagen: England und Frankreich sollen genötigt werden, die Beträge, die sie ihrerseits aus der[1178] 26%igen Reparationsabgabe einnehmen, in Devisen in die Reparationskasse abzuführen. Der Reparationsagent habe dann zu entscheiden, ob diese Beträge transferiert werden könnten. Von Bedeutung sei dieses Verfahren natürlich nur dann, wenn der Transferagent die eingenommenen Devisen der deutschen Wirtschaft zur Verfügung stelle und erst dann prüfe, ob diese Beträge zwecks Transferierung wieder in Devisen umgewandelt werden könnten. Zu dieser letzten Schlußfolgerung sei jedoch Gilbert noch nicht gelangt. Bekannt sei dagegen, daß sich England und Frankreich verbunden hätten, um den Plänen des Reparationsagenten Widerstand zu leisten. Eine zufriedenstellende Lösung auf reparationspolitischem Gebiete sei wohl kaum zu erhoffen. Allerdings bestände eine gewisse Möglichkeit, daß das System des Transferagenten England und Frankreich veranlassen könnte, ihrerseits die Reparationsabgabe aufzugeben. Eine Gefahr für die deutsche Valuta sei zunächst nicht akut. Die Zustimmung Deutschlands zu einem, wenn auch nur vorläufigen Beibehalten der 26%igen Reparationsabgabe schließe aber natürlich große Gefahren ein. Man müsse jetzt abwägen, welche Nachteile – Abbruch der deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen auf der einen Seite, Beibehaltung der 26%igen Reparationsabgabe bei gewissen Modalitäten und Aussichten auf spätere Aufhebung auf der anderen Seite – die größeren seien.

Ministerialdirektor v. Schubert teilte mit, daß die englische Regierung durch Lord D’Abernon habe wissen lassen, sie würde es gern sehen, wenn über die Frage der 26%igen Reparationsabgabe baldmöglichst in London verhandelt werde. Sie habe gebeten, Herren mit Autorität so nach London zu schicken, daß bereits am Sonnabend, den 22. November, verhandelt werden könne, und möglichst heute noch die Absichten der Deutschen Regierung Lord D’Abernon bekanntzugeben.

Der Reichsminister der Finanzen wies darauf hin, daß diese Eile Englands die Vermutung nahe lege, England sei die Absicht Gilberts bereits bekannt, und es wünsche durch seine direkten Verhandlungen in London die Beschlüsse des Transferkomitees hinauszuschieben.

Staatssekretär v. Maltzan empfahl, daß die Verhandlungen über die 26%ige Reparationsabgabe in Paris völlig beiseite gestellt und die Handelsvertragsverhandlungen weitergeführt würden. Der Wortlaut der Instruktion wurde von ihm verlesen.

Staatssekretär Trendelenburg erwiderte, daß so nicht weiterzukommen wäre. Dieser Vorschlag bedeute außerdem eine 100%ige Rücknahme der gegebenen Instruktion; denn man werde mit Frankreich nur wieder zu Verhandlungen kommen, wenn die bestimmte Erklärung abgegeben werde, daß Deutschland nicht wieder auf die Frage der 26%igen Reparationsabgabe zurückkomme.

Der Reichsarbeitsminister glaubte, daß doch wohl in Paris die Instruktion des Auswärtigen Amts13 mißverstanden worden sei. Das Entweder-Oder in der Instruktion sei nicht bindend gewesen. Was den Vorschlag des Staatssekretärs v. Maltzan anlange, so stimme er ihm zu; denn wir würden uns nichts vergeben,[1179] wenn wir die Verhandlungen weiterführten mit der Erklärung, daß für die Lösung der anderen Frage neue Wege gesehen würden.

13

S. Anm. 2.

Staatssekretär Trendelenburg hielt die Auffassung des Reichsarbeitsministers über die ergangene Instruktion für nicht richtig. Wenn dieser Instruktion überhaupt eine Bedeutung hätte beigelegt werden sollen, so doch nur die einer Verschärfung der bisherigen Stellungnahme der Reichsregierung. Falls dies nicht Zweck der Instruktion gewesen sei, sei sie überhaupt überflüssig gewesen. Der Vorschlag von Maltzan sei wohl annehmbar, doch müsse man sich darüber klar sein, daß er den endgültigen Verzicht auf die Behandlung der Frage der 26%igen Reparationsabgabe innerhalb der Handelsvertragsverhandlungen bedeute.

Der Reichsminister der Finanzen glaubte sich nicht dafür aussprechen zu sollen, jetzt mit Frankreich zu brechen. Vielleicht sei es möglich, an die letzten Worte Seydoux’ anzuknüpfen und dort zunächst die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Er sehe in den Gedankengängen Seydoux’ den Wunsch, für die weiteren Verhandlungen eine Brücke zu bauen.

Staatssekretär Fischer schloß sich dieser Auffassung an und gab zu erwägen, ob man nicht zunächst in einer Besprechung mit Seydoux durchblicken lassen könnte, Deutschland sei bereit, bezüglich der elsaß-lothringischen Kontingente entgegenzukommen, wenn Frankreich in der Frage der 26%igen Reparationsabgabe entgegenkomme.

Staatssekretär Trendelenburg betonte demgegenüber zunächst, daß sich die Reichsregierung bisher gegen eine Verlängerung der elsaß-lothringischen Kontingente erklärt habe. Die Anregung des Staatssekretärs Fischer sei vielleicht in der Form vorzubringen, daß wir erklärten, wir seien bereit, die 26%ige Reparationsabgabe aus dem Verhandlungskomplex auszuscheiden, falls Frankreich auf die Behandlung der elsaß-lothringischen Kontingente verzichte; denn auch diese Frage sei eine reparationspolitische Frage und gehöre nicht in die Handelsvertragsverhandlungen hinein. Allerdings sei zu bedenken, daß die Franzosen dadurch ihren Zweck, sich die Reparationsabgabe abkaufen zu lassen, erreicht hätten. Eine Verlängerung der Kontingente werde in Deutschland einen Sturm der Entrüstung hervorrufen. Allen anderen Staaten gegenüber komme Deutschland dadurch in eine unmögliche Situation. Er hege die größten Bedenken, diesen Weg zu beschreiten.

Der Reichsminister der Finanzen glaubte, daß den Franzosen viel daran läge, auf dem Gebiete der elsaß-lothringischen Kontingente zu einer Geste zu gelangen. Vielleicht sei es nicht notwendig, von vornherein so scharfe Formulierungen abzugeben. Weiter komme man damit, daß zunächst die persönliche Unterhaltung mit Seydoux fortgesetzt würde.

Der Vizekanzler glaubte in einer Verlängerung der Besatzung einen geringeren Nachteil zu sehen als in einer wirtschaftlichen Fesselung auf Jahre hinaus. Die Frage der Rückwirkung eines Abbruchs der Verhandlungen mit Frankreich auf die Frage der Besatzung sei allerdings nur dann zu beurteilen, wenn man den Standpunkt Englands in der Besatzungsfrage kenne.

Ministerialdirektor v. Schubert erwiderte, daß er den Abbruch der Verhandlungen mit Frankreich für geradezu verheerend für die Räumungsfrage halte.[1180] Die Neigung Englands, die Räumungsfrage in unserem Sinne schnell zur Entscheidung zu bringen, sei offenbar nicht groß. Immerhin sei es möglich, zu einem Kompromiß zu kommen, aber auch dieser werde durch einen Abbruch der Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich außerordentlich gefährdet.

Der Reichskanzler erklärte, daß seiner Meinung nach unter keinen Umständen die Verhandlungen abgebrochen werden dürften. Zum mindesten müsse im gegenwärtigen Augenblick der Versuch gemacht werden, einen gegebenenfalls doch erforderlichen Abbruch hinauszuschieben.

Der Reichsarbeitsminister glaubte, daß Einigkeit darüber bestände, daß die Frage der 26%igen Reparationsabgabe aus den Handelsvertragsverhandlungen herausgenommen werden solle. Zu entscheiden sei nur, in welcher Form dies zu geschehen habe.

Staatssekretär Trendelenburg hielt es für notwendig, daß Herrn v. Hoesch und ihm eine klare Instruktion darüber gegeben werde, welches Maß als äußerstes Entgegenkommen möglich sei. Dabei sei er der Meinung, daß zunächst Herr v. Hoesch die Unterhaltung mit Seydoux fortsetzen sollte.

Der Reichskanzler glaubte, daß die Situation für eine Instruktion noch nicht genügend geklärt sei.

Staatssekretär Trendelenburg bat, unter diesen Umständen lediglich den Botschafter v. Hoesch zu beauftragen, die Verhandlungen zur Aufklärung der Situation fortzusetzen. Für ihn sei eine Rückkehr nach Paris, da bekannt sei, daß er zur Zeit in Berlin weile, nicht möglich, wenn er nicht mit klaren Richtlinien ausgestattet sei.

Ministerialdirektor v. Schubert schloß sich der Auffassung des Staatssekretärs Trendelenburg an und hielt es für notwendig, bestimmte Instruktionen zu geben. Es sei vielleicht möglich, daß zunächst unter den Ressorts bis Montag [17. 11.] eine Formulierung für die Instruktion gefunden werde, wenn nur die Tendenz festgelegt sei, daß die Handelsvertragsverhandlungen fortgesetzt werden sollten unter Beiseitestellung der Frage der 26%igen Reparationsabgabe.

Der Reichskanzler empfahl, daß die Ressorts versuchen sollten, eine Formulierung zu finden.

Das Kabinett gab darauf einstimmig der Auffassung Ausdruck, daß die Frage der 26%igen Reparationsabgabe zweckmäßigerweise außerhalb der Handelsvertragsverhandlungen mit Frankreich weiter verfolgt werden solle. Es sei aber zu prüfen, ob nicht zwecks Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Frankreich zunächst nur der Botschafter v. Hoesch beauftragt werden solle, in persönlicher Unterhaltung mit Seydoux die Absichten Frankreichs zu sondieren. Die zuständigen Ressorts sollen versuchen, bis Montag dem Kabinett eine formulierte Instruktion vorzulegen. Das Kabinett werde am Montag nachmittag erneut zu den Fragen Stellung nehmen14.

14

S. das Protokoll der Chefbesprechung unter Vorsitz der RK am 17. 11. (Dok. Nr. 357).

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