1.163.1 (ma12p): [Regierungsbildung; Verfassungsreform.]

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Die Kabinette Marx I und II, Band 2 Wilhelm Marx Bild 146-1973-011-02Reichskanzler Marx vor seinem Wahllokal Bild 102-00392Hochverratsprozeß gegen die Teilnehmer am PutschDawes und Young Bild 102-00258

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[Regierungsbildung; Verfassungsreform.]

Der Reichskanzler berichtet über seine Besprechungen mit dem Herrn[1232] Reichspräsidenten und den Parteiführern2. Bei den sich widersprechenden Fraktionsbeschlüssen sei die Bildung einer Mehrheitsregierung zur Zeit unmöglich; er sei daher mit dem Reichspräsidenten übereingekommen, die Frage der Regierungsneubildung bis Anfang Januar zu vertagen. Bis dahin müsse die bisherige Regierung die Geschäfte weiterführen3. Die Reichsverfassung mache keinen Unterschied zwischen einer nur geschäftsführenden und einer durch den Reichstag ausdrücklich bestätigten Regierung, so daß alle schwebenden Fragen mit voller Wirksamkeit durch die jetzige Regierung erledigt werden müssen, insbesondere auch die auswärtigen Angelegenheiten.

2

Zu den Besprechungen des Kanzlers mit den Vertretern der Parteien am 18. 12. s. Dok. Nr. 373 und Nr. 374.

3

Diese Entscheidung wurde in einer Unterredung zwischen dem RPräs. und dem RK am 19. 12. vormittags getroffen; amtliche Mitteilung hierüber in DAZ Nr. 598 vom 19. 12.; vgl. auch Schultheß 1924, S. 116.

In der Aussprache herrschte Übereinstimmung, daß kein anderer Weg als dieser übrigbliebe, und daß man Anfang Januar versuchen müsse, nachdem man in der Zwischenzeit schon hier und dort Fühlung genommen hätte, die freien und noch freiwerdenden Ressorts des gegenwärtigen Kabinetts durch geeignete Persönlichkeiten zu ergänzen.

Reichsminister Dr. Stresemann erklärte, man müsse hierbei sich darüber klar sein, daß diese Lösung nur ginge und von den Fraktionen, insbesondere seiner Fraktion nur toleriert würde, wenn man auch Persönlichkeiten, die der Deutschnationalen Partei naheständen, aufnähme.

Der Reichskanzler erwiderte, er habe diese Gedanken auch schon ins Auge gefaßt und würde solche Persönlichkeiten ruhig in das neu gebildete Kabinett aufnehmen.

Die weiteren Ausführungen waren dann allgemeiner Natur und berührten das Gebiet der Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten unseres parlamentarischen Systems:

Dr. Geßler führte aus: Diese Krisis sei keine Regierungskrisis, sondern, wie schon frühere Krisen, eine Verfassungskrisis. Die Grundquellen der Schwierigkeiten, die wir immer wieder haben, liegen in den mangelhaften Bestimmungen der Reichsverfassung. Wir hätten in unserer Reichsverfassung die unzweckmäßigsten Bestimmungen anderer Verfassungen zusammengestoppelt, mit denen man auf die Dauer nicht richtig arbeiten kann. Wir hätten ein parlamentarisches System, das für ein Land mit zwei bis drei Parteien passen würde, nicht aber auf ein Parlament mit 15 Parteien. Wir haben auf der einen Seite einen Reichspräsidenten, der vom ganzen Volke gewählt wird und ein Gegengewicht gegen das Parlament sein soll, der aber auf der anderen Seite in seinen Rechten wieder beschnitten und in die Rolle des Großvaters im Lehnstuhl zurückgedrängt wird, der sich darauf beschränken soll, Glückwunschtelegramme und ähnliche Kundgebungen zu schreiben. Wir haben eine Reichsregierung, die keine eigenen Rechte haben soll und darauf beschränkt ist, Ausführer des Willens eines Parlaments zu sein, das aber keinen eigenen Willen aufbringen kann. Wir haben einen Reichsrat, der nichts weiter ist wie eine Verabredung der Länder gegen das Reich, nichts anderes als eine Versicherung der[1233] Wünsche der Länder auf Gegenseitigkeit, ein Kollegium, in dem nur die Landesinteressen einseitig zur Geltung kommen und die Interessen des Reiches vollständig mißachtet werden. So geht die Sache auf die Dauer nicht weiter, wenn wir den Staat zusammenhalten wollen. Gerade in unserem Lande, das mehr wie andere Länder durch religiöse, wirtschaftliche und soziale, partikuläre und föderalistische Gegensätze zersplittert ist, brauchen wir eine starke Staatsautorität, brauchen wir eine starke Zentrale, die mit solchen Rechten ausgestattet ist, daß derartige Krisen und eine solche Hilflosigkeit, wie wir sie heute sehen, nicht möglich sind. Der eine Weg, der dazu führt, ist die Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten nach dem Vorbild des amerikanischen Musters, der andere der der Stärkung einer einmal berufenen Reichsregierung gegenüber dem Parlament. Irgendwie müssen wir aus dieser Schwierigkeit herauskommen, und zwar möglichst bald! Es müsse die Aufgabe gerade der neuen Persönlichkeiten und des neuen Kabinetts sein, mit starkem Willen hier eine Reform der Verfassung durchzusetzen. Wenn wir das nicht auf legalem Wege fertig bekommen, so machen es die anderen auf illegalem, und je länger wir damit zögern, desto mehr wird die Stimmung für illegale Versuche dieser Art anwachsen. Ich bitte dringend, diese Aufgabe für die nächste Zeit zusammen mit Wahlreform und anderen Dingen ins Auge zu fassen. Mit einem nichtparlamentarischen Kabinett werden wir die Aufgabe leichter lösen wie mit einem parlamentarischen.

Reichskanzler Marx: Manches, was Geßler gesagt hat, sei ja richtig, aber die eigentliche Ursache liege nicht in den Verfassungsbestimmungen, sondern in dem Wesen der deutschen Nation. Auch wenn wir noch so schöne Verfassungsbestimmungen haben, werden wir das deutsche Volk mit seiner Neigung zur Zersplitterung und Befehdung des Mitbürgers nicht unmodeln können. Aber auch er glaubt, daß wir diese Frage ernsthaft erörtern müssen.

Brauns gibt ebenfalls die Berechtigung der Klagen Geßlers zu, hält es aber für sehr schwer, jetzt schon eine solche Aufgabe der Verfassungsreform aufzunehmen und sie in kurzer Zeit durchzuführen. Wenn Geßler meint, mit einem parlamentarischen Kabinett könne man die Frage nicht lösen, so müsse er erwidern: mit einem außerparlamentarischen noch viel weniger!

Dr. Stresemann stimmte Geßler im wesentlichen zu. Es gäbe große Kreise im Volke, die mit Freude und Behagen diesen Wirrwarr und diese ewigen Regierungskrisen verfolgen, weil sie daraus ihren Anhängern den Bankrott des parlamentarisch-demokratischen Systems dartun können. So haben die Deutschnationalen immer ihre Zuläufer gewonnen, und wenn hier nicht eine Besserung kommt, rücken sie das nächste Mal mit zweihundert Mandaten in den Reichstag ein, nur, weil die Wähler dieser ewigen Krisenmacherei und dieser Schwierigkeit der Regierungsbildung überdrüssig sind. Ebenso gewinnen durch diese Erscheinungen und Beobachtungen die Leute wieder Boden, die die Reform auf illegalem Wege machen wollen.

Dr. Jarres: Auch er müsse im wesentlichen Geßler zustimmen. Die rechtsradikale Bewegung sei zur Zeit restlos zusammengebrochen, ebenso wie die linksradikale gegenwärtig ganz ungefährlich sei. Aber durch solche Krisen und[1234] durch die daraus gefolgerte Unfähigkeit des parlamentarischen Systems zur Lösung der großen Aufgaben unserer Nation gewännen die rechtsradikalen Putschpläne wieder neuen Boden, und eines Tages können sie wieder, wenn wir nichts dagegen tun, bedrohlich sein. Deshalb meine auch er, daß diese Verfassungsreform eine der dringendsten Aufgaben sei.

Der Reichskanzler endete schließlich die Aussprache damit, daß er es für notwendig erachte, über dieses Problem in nächster Zeit eine ernsthafte Aussprache stattfinden zu lassen.

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