2.172 (ma31p): Nr. 172 Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 20. Januar 1927

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 4). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 172
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 20. Januar 1927

Nachl. Pünder, Nr. 95, Bl. 80

Da Herr Abgeordneter Dr. Scholz gestern abend im Reichstag nicht mehr zu erreichen war, hatte der Herr Reichskanzler am Abend über die Auslegung des volksparteilichen Beschlusses1 eine längere telephonische Aussprache mit Herrn Reichsminister Dr. Stresemann2. Eine Besprechung mit Herrn Dr. Scholz wurde für heute 10 Uhr vormittags in der Reichskanzlei vereinbart. In dieser letzteren Besprechung erläuterte Herr Dr. Scholz den gestrigen Beschluß der Fraktion der Deutschen Volkspartei auf Anfrage des Herrn Reichskanzlers[506] dahin, die Deutsche Volkspartei habe in der gestrigen Fraktionssitzung in den ersten Stunden mit Absicht eine Entschließung nicht getroffen, vielmehr habe man den Beschluß der Sozialdemokratischen Fraktion3 abgewartet. Als der sozialdemokratische Beschluß bekannt geworden sei, habe man aber zu einer Entschließung kommen müssen, zumal der sozialdemokratische Beschluß eine bedingungslose Stütze einer reinen Mittelregierung nicht in Aussicht gestellt habe. Der Beschluß der Volkspartei verhalte [sic] sich mit Absicht nur über eine Rechtsmehrheitsregierung, bezüglich der Mitte sei er aber folgendermaßen zu interpretieren: die Deutsche Volkspartei lehnt zur Zeit Verhandlungen über die Bildung einer bürgerlichen Minderheitsregierung der Mitte ab, bevor alle Möglichkeiten zur Bildung einer Mehrheitsregierung erschöpft sind. Da Verhandlungen über eine Mehrheitsregierung nach links nicht möglich sind, verlangt sie Verhandlungen über eine Mehrheitsregierung mit den verhandlungsbereiten Deutschnationalen. Erst nach etwaigem Scheitern dieser Verhandlungen behält sie sich weitere Entschließungen vor.

1

Am 19. 1. nachmittags hatte eine Sitzung der DVP-Fraktion stattgefunden, über die folgendes Pressekommuniqué veröffentlicht wurde: „Die Reichstagsfraktion der Deutschen Volkspartei nahm in ihrer heutigen Sitzung die Berichte der Abgeordneten Dr. Scholz und Dr. Curtius über den bisherigen Gang der Regierungsbildung entgegen. Die Fraktion sprach dem Abgeordneten Dr. Curtius den Dank für seine Führung der Verhandlungen [siehe Dok. Nr. 167, Anm. 3] aus und erklärte sich einmütig mit der Art dieser aussichtsreich geführten Verhandlungen einverstanden. Die Fraktion stellte fest, daß infolge des Abbruchs dieser Verhandlungen durch die Zentrumsfraktion die Frage nicht endgültig geklärt ist, ob die sachlichen Voraussetzungen für ein Zusammenwirken mit der deutschnationalen Fraktion auf innen- und außenpolitischem Gebiet gegeben sind. Die Fraktion betraut ihren Vorsitzenden [Scholz] mit der Weiterführung der Verhandlungen auf der Grundlage ihrer bisherigen Beschlüsse.“ (WTB-Meldung vom 19. 1. in R 43 I /1307 , Bl. 251).

2

Zu diesem Telefongespräch siehe die Aufzeichnung Stresemanns vom 19. 1., in: Stresemann, Vermächtnis, Bd. 3, S. 99 f.

3

Am 19. 1. nachmittags hatte eine Sitzung der SPD-Fraktion stattgefunden, über die folgendes Kommuniqué veröffentlicht wurde: „Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion nahm heute in einer Sitzung vor der Plenarberatung den Bericht des Fraktionsvorstandes über die Verhandlungen von Dr. Marx wegen der Bildung eines Kabinetts der Mitte mit sozialdemokratischer Unterstützung entgegen. Nach etwa zweistündiger Aussprache wurde nahezu einstimmig ein Beschluß gefaßt des Inhalts, daß die Fraktion grundsätzlich gegen ein Kabinett der Mitte nichts einzuwenden habe, daß sie sich aber ihre letzte Entscheidung vorbehalte, bis über Zusammensetzung und Programm eines solchen Kabinetts Klarheit bestehe.“ (WTB-Meldung vom 19. 1. in R 43 I /1307 , Bl. 251).

Bezüglich der Verhandlungen mit den Deutschnationalen betonte Herr Abgeordneter Dr. Scholz erneut mit Nachdruck, daß nach seiner genauen Kenntnis der Dinge die vom Grafen Westarp dem Herrn Reichskanzler gegenüber ausgesprochene Ablehnung einer Mittelregierung mit à la suite-Stellung der Deutschnationalen, dargestellt etwa durch einen Vertrauensmann im Kabinett, wohl keine endgültige sein werde. Wenn das Zentrum unüberwindliche Bedenken haben würde, die Deutschnationalen mit vollen Rechten und Pflichten ins Kabinett aufzunehmen, würde diese Lösung zweifellos möglich sein.

Auf die ausdrückliche Rückfrage des Herrn Reichskanzlers bezüglich der Haltung der Deutschen Volkspartei zu der Person des Herrn Ministers Geßler erklärte Herr Dr. Scholz, auch für die Deutsche Volkspartei sei Herr Dr. Geßler keineswegs persona gratissima. Im gegenwärtigen Augenblick halte sie es aber aus sachlichen Gründen für völlig ausgeschlossen, den Minister Geßler zu ersetzen. Zu einem solchen Schritt wäre die Volkspartei unter gar keinen Umständen bereit, denn in einem solchen Wechsel würde ein Symbol oder Symptom gegen die Reichswehr zu erblicken sein, selbst auch dann, wenn man einen weiter rechts stehenden Politiker nehmen sollte. Infolgedessen wäre auch die etwaige Betrauung eines Volksparteilers mit den Geschäften des Reichswehrministers völlig ausgeschlossen. Das einzig mögliche sei ein freiwilliger Rücktritt des Ministers Geßler unter voller Zustimmung des Herrn Reichspräsidenten. Da dies aber nicht zu erreichen sei, könne nach Ansicht der Volkspartei ein Wechsel unter keinen Umständen eintreten.

[507] Nach Entgegennahme dieser Erklärungen erklärte der Herr Reichskanzler, daß er nunmehr seine Mission zur Bildung einer Regierung der Mitte als gescheitert ansehen müsse und dies heute mittag dem Herrn Reichspräsidenten berichten werde4. Herr Dr. Scholz stimmte der Auffassung durchaus zu, daß die Mission als gescheitert anzusehen sei.

4

Siehe die Aktennotiz Meissners über die Unterredung zwischen Hindenburg und Marx am 20. 1. mittags, in: Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 55g (S. 264).

Pünder, 20. 1.

Extras (Fußzeile):