1.2.1 (ma32p): Weltwirtschaftskonferenz in Genf.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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Weltwirtschaftskonferenz in Genf.

Der Herr Reichskanzler begrüßte die Mitglieder der Deutschen Abordnung für die Weltwirtschaftskonferenz in Genf und ersuchte sie um Bericht über die Verhandlungen und um ihr Urteil über Bedeutung und Erfolg der Weltwirtschaftskonferenz2.

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Die Weltwirtschaftskonferenz hatte vom 4. bis 23.5.27 stattgefunden. Deutschland war auf der Konferenz durch die Delegierten Eggert, Hermes, Lammers, v. Siemens und Trendelenburg sowie durch mehrere Sachverständige vertreten. – Zum Konferenzverlauf siehe: Verlauf und Ergebnis der Internationalen Wirtschaftskonferenz des Völkerbundes zu Genf, Wiedergabe der Plenar- und Kommissionssitzungen, zusammengestellt von E. Respondek, Berlin 1927; Schlußbericht der Weltwirtschaftskonferenz, vom RWiM und RAM am 18.6.27 dem RT vorgelegt (RT-Bd. 416 , Drucks. Nr. 3450 ); ADAP, Serie B, Bd. V, Dok. Nr. 218.

v. Siemens gab einen Überblick über die Vorbereitungen und den Gang der Verhandlungen, die sich nach einer dreitägigen Generalaussprache in 3 Kommissionen fortsetzten. In der Industriekommission wurde im wesentlichen über Rationalisierung, Kartelle und Statistik verhandelt. Die Arbeitervertreter traten stets geschlossen auf, nachdem sie sich vorher über das gemeinsame Vorgehen verständigt hatten. v. Siemens hielt es für geboten, daß auch die anderen Gruppen später in gleicher Weise prozedieren.

Bei der Behandlung der Kartellfrage kam es zu schweren Kämpfen zwischen den Vertretern der Arbeiterschaft und den Franzosen einerseits und den anderen Ländern, insbesondere den Engländern und Deutschen andererseits über die Bedeutung der Kartelle und ihre Überwachung und Förderung. Schließlich wurde gegen die Franzosen, Polen und andere kleinere Staaten mit den Engländern und Italienern der Vorschlag Lammers angenommen, nach dem das Werturteil über die Kartelle von dem Geiste abhängen solle, der in ihnen wirkt.

Die Aussprache über die Rationalisierung ergab keine neuen Gesichtspunkte. Sie bewegte sich in den gleichen Bahnen wie ähnliche Aussprachen in Deutschland. Die Arbeiterschaft wünscht bereits bei Beginn von Rationalisierungen an ihrem Ergebnis beteiligt zu sein, während die Unternehmer vor Lohnerhöhungen den Erfolg der Rationalisierungsmaßnahmen abwarten zu müssen glauben. Nach ihrer Ansicht sollen die Rationalisierungen in erster Linie[776] die Produktion verbilligen und dadurch den Lebensstandard erhöhen. Zu einer Einigung kam es nicht.

Die Statistik soll durch Vereinbarungen über gleichmäßige Warenbezeichnungen zunächst der wichtigsten Warengattungen vereinheitlicht werden.

Die Formulierung der Beschlüsse leidet unter dem mit großem Nachdruck vom Völkerbund betriebenen Streben, auf jeden Fall zu einer Einigung zu kommen und Gegensätze nicht in Erscheinung treten zu lassen, ein Verfahren, wie es bei politischen Resolutionen regelmäßig angewendet wird. Nur bei der Kartellresolution ist von dieser Übung abgewichen worden. Die Übung birgt die Gefahr vieldeutiger Auslegung und zahlreicher Mißverständnisse und Streitigkeiten in sich.

Über die Auswertung der gefaßten Beschlüsse war zunächst keine Einigkeit zu erzielen. Teils wurde ein Wirtschaftsamt, ähnlich dem Arbeitsamt3, teils eine Erweiterung der ökonomischen Kommission des Völkerbundes angestrebt. Auf Vorschlag v. Siemens wurde schließlich die Verfolgung der Arbeiten dem Völkerbund überlassen, dem der Ausbau der Anregungen dringend empfohlen wurde.

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Internationales Arbeitsamt in Genf.

Der Erfolg der Weltwirtschaftskonferenz liegt nach v. Siemens weniger in positiven Ergebnissen als in der Bildung einer öffentlichen Weltmeinung über die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die zweckmäßige Art der Wirtschaftsförderung sowie in der persönlichen Fühlungnahme der leitenden Wirtschaftsführer in reger Zusammenarbeit.

Graf Keyserlingk schilderte die Verhandlungen der landwirtschaftlichen Kommission, in der die Deutschen durch ihre intensiven Vorarbeiten einen wesentlichen Vorsprung hatten. Die Arbeiten über Preisbildung in außereuropäischen Ländern, über Buchführungs- und Genossenschaftswesen fanden starke Beachtung.

In der Kommission herrschte hinsichtlich der Beurteilung der Weltlage und der erforderlichen Maßnahmen weitgehende Übereinstimmung. Gegensätze bestanden vornehmlich auf persönlichem und organisatorischem Gebiete, insbesondere zwischen dem landwirtschaftlichen Institut in Rom und dem Völkerbund.

Eingehend verhandelt wurde über die Notwendigkeit der Produktionsvermehrung, die die Vorbedingung rentabler Landwirtschaft sei, über die Selbsthilfe der Landwirtschaft durch das Genossenschaftswesen, die Kreditfrage, die Verbesserung der Produktionsstatistik.

Weiter wurde verhandelt über die Kolonien und den internationalen Kampf gegen Krankheiten von Pflanzen und Tieren, nicht dagegen über Bodenreform und Landarbeiterfrage.

Das landwirtschaftliche Institut in Rom soll in gleicher Weise weiterarbeiten wie bisher, daneben sollen beim ökonomischen Kommissar in Genf unter Erweiterung der Gremien die Anregungen der Weltwirtschaftskonferenz weiterverfolgt werden.

[777] Staatssekretär Dr. Trendelenburg berichtete über die Verhandlungen in der Handelskommission. Die Franzosen sahen sich bald einer geschlossenen Front von Staaten gegenüber, die mit Entschiedenheit den neuen stark protektionistischen französischen Zolltarif bekämpften. Sie verteidigten ihn mit der Propagierung internationaler Kartelle zur Aufteilung der Märkte, durch welche die Bedeutung der Zölle herabgemindert würde. Die Zollhöhe verteidigten sie aus den Gesichtspunkten der Souveränität, der nationalen Sicherheit und der ökonomischen Notwendigkeiten. Sie mußten ihre Position nach und nach in ziemlich weitem Maße aufgeben. Deutschland forderte eine entschiedene Stellungnahme der Kommission zur Hochschutzzollpolitik.

Frankreich machte eine Reihe neuer Vorschläge, insbesondere wollte es entgegen seiner ersten Stellungnahme die Höhe der Zölle dem Urteil des Völkerbunds unterstellen.

Die Kommission faßte eine große Anzahl von Resolutionen für Freiheit des Handels, Abschaffung der Ein- und Ausfuhrverbote, Vollstreckbarkeit von Schiedssprüchen, Rechtsstellung von Personen, die rechtmäßig zur Niederlassung zugelassen sind, Vereinfachung und Vereinheitlichung der Zolltarife, gegen übermäßiges Eindringen in fremde Geschäftsgeheimnisse im Hinblick auf die Durchführung des Wertzolltarifs (gegen die Vereinigten Staaten), liberalere Handhabung des Abkommens über Zollförmlichkeiten, Handelsstatistik und ähnliches. Der Völkerbund soll diese Vorschläge durch Verhandlungen mit den einzelnen Ländern, zunächst in Europa, durchzuführen suchen.

Die Deutsche Delegation unterstützte die Russen mehrfach, ohne sich mit ihnen in Verhandlungen über weitere Kreditgeschäfte oder über Unterstützung von Geschäften dieser Art mit anderen Ländern einzulassen. Die Wendung der Stellungnahme Englands gegenüber Rußland durch das Vorgehen in London4 hat stark überrascht, da die englischen Vertreter bei den Verhandlungen den Russen mehrfach Freundlichkeiten erwiesen hatten.

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Siehe Dok. Nr. 242, Anm. 3.

Die internationale Verschuldung wurde nur in einem Satze des Mantelberichts erwähnt.

Die Beschlüsse entsprechen der Linie der Handelspolitik, die von Deutschland verfolgt wird.

Die Reichsregierung wird auch an ihrem Teil die Durchführung der Beschlüsse erwägen müssen, insbesondere soweit die autonomen Zollsätze, die als Verhandlungstarif gedacht waren, wider Erwarten nicht durch Verträge ermäßigt worden sind. Zu etwa 200 Positionen des deutschen Zolltarifs wird der Reichswirtschaftsrat demgemäß zweckmäßig Stellung zu nehmen haben5. Eine entsprechende Vorlage wird dem Kabinett zugehen.

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Siehe Dok. Nr. 248, Anm. 17.

Im Völkerbund hat das ökonomische Komitee bisher nicht genügend aktiv gearbeitet; die weittragenden Beschlüsse der Weltwirtschaftskonferenz werden ihm eine starke Handhabe zu entschiedenerem Vorgehen geben.

[778] Der Reichsminister des Auswärtigen wird als Berichterstatter zur weiteren Frage der Durchführung der Beschlüsse auf der Völkerbundstagung Stellung nehmen müssen.

Der Herr Reichskanzler dankte für die Referate und hielt es für geboten, daß Deutschland auf Durchführung der Beschlüsse starken Einfluß nimmt.

Der Reichswirtschaftsminister hielt es für erforderlich, daß der Reichsminister des Auswärtigen als Berichterstatter in dieser Hinsicht die Initiative ergreife und daß die Regierung in einem Kommuniqué einmal von den Verhandlungen des Reichsministeriums Kenntnis gibt und dann zu dem Ergebnis der Weltwirtschaftskonferenz Stellung nimmt. Diese Stellungnahme soll nach Vorschlag des Reichsministers des Auswärtigen im Anschluß an die Kabinettssitzung vom 9. Juni erfolgen6, während im übrigen der Anregung unverzüglich stattzugeben ist.

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Siehe Dok. Nr. 245, P. 2.

Der Herr Reichskanzler stellte fest, daß das Reichsministerium hiermit einverstanden war.

Der Reichswirtschaftsminister führte noch aus, daß die Beratungen des Reichswirtschaftsrats zu den Anregungen der Weltwirtschaftskonferenz gemeinsam mit dem Handelspolitischen Ausschuß des Reichstags erfolgen müßten, wie überhaupt eine engere Verbindung der beiden Gremien anzustreben sei.

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