2.171.2 (mu21p): 2. Parlamentarische Lage in Mecklenburg-Strelitz.

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2. Parlamentarische Lage in Mecklenburg-Strelitz.

Der Reichsminister des Innern schilderte die parlamentarisch-politische Lage in Mecklenburg-Strelitz. Er führte u. a. aus, daß der Landtag mit 18 gegen 16 Stimmen in der Sitzung vom 11. April den Etat abgelehnt habe. Daraufhin habe der sozialdemokratische Minister Dr. Freiherr von Reibnitz seinen Rücktritt erklärt5. Die Sozialdemokraten hätten darauf beantragt, den Minister auch von der Führung der Geschäfte zu befreien. Über diesen Antrag, der die Opposition, insbesondere die Wirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft, unter den Zwang der Verantwortung stellen solle, solle heute, den 12. April, in einer Nachmittagssitzung des Landtages abgestimmt werden. Es werde also voraussichtlich vom 12. April nachmittags an überhaupt keine Staatsregierung in Mecklenburg-Strelitz mehr geben.

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Bereits in der Ministerbesprechung vom 11. 4., P. 4, hatte der RIM berichtet, daß Mecklenburg-Strelitz wahrscheinlich vom 13. 4. an keine verfassungsmäßige Regierung besitzen werde. Zu den Einzelheiten s. Schultheß 1929, S. 62 f.

Unter diesen Umständen ersuche er das Reichskabinett um Zustimmung, den Herrn Reichspräsidenten zu bitten, auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung[548] die anliegende Verordnung über die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Lande Mecklenburg-Strelitz zu erlassen6.

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Die Verordnung hatte den Wortlaut: „Auf Grund des Art. 48 Abs. 2 der RV wird zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für das Gebiet des Landes Mecklenburg-Strelitz verordnet: Artikel I. Der RIM wird ermächtigt, für die Dauer des Fehlens einer verfassungsmäßigen Landesregierung einen Beauftragten mit der Weiterführung der Amtsgeschäfte des StMin. und der StMinister zu betrauen. Artikel II. Der von dem RIM mit der Weiterführung der Amtsgeschäfte Beauftragte ist ermächtigt, den Haushaltsplan des Landes Mecklenburg-Strelitz so festzustellen, daß die Einnahmen und die Ausgaben sich decken. Zur Sicherstellung der hiernach erforderlichen Einnahmen des Landes darf er die Steuersätze bestehender Steuergesetze abändern und Anleihen aufnehmen. Der gemäß Satz 1 feststehende Haushaltsplan tritt außer Kraft, wenn der Haushaltsplan des Landes Mecklenburg-Strelitz durch ein Gesetz festgestellt ist“ (R 43 I /1437 , Bl. 73 und 2276, R 43 I /2276 , Bl. 227).

Staatssekretär Dr. Meissner erklärte, daß der Herr Reichspräsident wahrscheinlich erhebliche Bedenken gegen die vorgesehene Verordnung haben werde. Bisher habe der Herr Reichspräsident den Art. 48 der Reichsverfassung nur benutzt, um Anordnungen aufzuheben. Jetzt solle er den Art. 48 zum erstenmal benutzen, um eine Anordnung zu treffen.

Er (Staatssekretär Dr. Meissner) habe auch erhebliche Bedenken, ob die rechtlichen Voraussetzungen für eine Anwendung des Art. 48 gegeben seien, und neige zu der Auffassung, daß die Voraussetzungen nicht vorlägen. Nach staatlichem Notstandsrecht dürften die Ressorts die erforderlichen Zahlungen leisten, also z. B. die Beamtengehälter zahlen. Der Reichsminister des Innern wolle mit dem beabsichtigten Vorgehen nach seiner Auffassung eine Partei schützen, die doch selber die Weiterführung der Geschäfte durch den bisherigen Minister verhindern wolle. Zunächst müßten andere Möglichkeiten erschöpft werden.

Der Reichsminister der Finanzen stimmte diesen Bedenken des Staatssekretärs Dr. Meissner zu. Er warnte vor einer Erweiterung der Anwendung des Art. 48 der Reichsverfassung. Völlig unannehmbar sei der Art. II des beiliegenden Entwurfs.

Nötig sei das Inkrafttreten eines Notetats. Eventuell solle das Reichskabinett sich vom Reichstag die Ermächtigung geben lassen, einen Kommissar nach Mecklenburg-Strelitz zu entsenden.

Der Reichsminister des Innern gab zu, daß ein Präzedenzfall für das von ihm beabsichtigte Vorgehen noch nicht vorliege. Er betonte jedoch, daß seines Wissens nur die Verfassung des Landes Mecklenburg-Strelitz vorschreibe, die zurückgetretene Regierung führe die Geschäfte nur dann weiter, wenn nicht der Landtag etwas anderes beschließe.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß ja noch der Landtag in Mecklenburg-Strelitz existiere. Nach seiner Auffassung müsse zunächst ein Notetat vom Landtage verabschiedet werden.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß in Sachsen im Jahre 1923 die Einsetzung eines Kommissars zu einer Einigung der Parteien innerhalb drei Tagen geführt habe. Für Thüringen habe im Jahre 1923 die Ankündigung genügt, daß ein Reichskommissar eingesetzt werden solle, um ordnungsmäßige Zustände zu schaffen7.

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Vgl. hierzu „das Kabinett Stresemann“.

[549] Der Reichsminister der Finanzen führte aus, daß für eine so schwerwiegende Entscheidung, wie sie der Reichsminister des Innern vorgeschlagen habe, ein vollständiges Kabinett nötig sei8. Nach seiner Ansicht genüge die Androhung, daß die Reichsregierung vom Reichstage die Einsetzung eines Kommissars erbitten werde, wenn die politische Lage in Mecklenburg-Strelitz nicht in Ordnung komme. Wenn der Vorschlag des Reichsministers des Innern jetzt Annahme finde, müsse er sich alle politischen Konsequenzen vorbehalten.

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Nach dem Ausscheiden Koch-Wesers waren die Zentrumsvertreter für das Kabinett noch nicht ernannt worden.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft vertrat die Auffassung, daß der Reichstag für die Einsetzung eines Kommissars nicht zuständig sei. Die Bevölkerung in Mecklenburg-Strelitz werde für die Einsetzung eines Reichskommissars auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung Verständnis haben, wenn dem Minister von Reibnitz vom Landtage auch die Führung der Geschäfte unmöglich gemacht werden sollte.

Der Reichsminister des Innern betonte, daß der Landtag in Mecklenburg-Strelitz infolge seiner Zusammensetzung arbeitsunfähig sei. Vielleicht könne das Reichskabinett zunächst die Entsendung eines Vermittlers in Aussicht nehmen. Er denke hierbei an die Person des Ministerialrats Dr. Haentzschel.

Staatssekretär Dr. Meissner führte aus, daß, wenn der Landtag dem Minister von Reibnitz die Weiterführung der Geschäfte entziehe und dieser Zustand andauere, das Land Mecklenburg-Strelitz die ihm gegen das Reich obliegenden Pflichten nicht werde erfüllen können. Es werde z. B. den Reichsratsbevollmächtigten nicht mit Instruktionen versehen können. In diesem Fall könne dann der Herr Reichspräsident vielleicht auf Grund des Absatzes 1 des Art. 48 der Reichsverfassung vorgehen.

Das Reichskabinett faßte folgenden Beschluß:

a)

Mit Rücksicht darauf, daß die Regierungskrise in Mecklenburg-Strelitz die Gefahr des Eintritts eines regierungslosen, den Vorschriften der Reichsverfassung nicht entsprechenden Zustandes herbeigeführt hat, soll Ministerialrat Dr. Haentzschel sofort nach Neustrelitz entsandt werden, um zunächst im Wege vermittelnden Eingreifens eine Regierungsbildung zustande zu bringen;

b)

das Reichskabinett behält sich vor, je nach dem Ausgang der Aktion, jedenfalls in Bälde, auf die Angelegenheit zurückzukommen und insbesondere notfalls die Frage von Maßnahmen auf Grund des Art. 48 der Reichsverfassung erneut zu prüfen9.

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Der RIM entsandte MinR Haentzschel zu Verhandlungen mit den Parteien in Mecklenburg-Strelitz. Es gelang ihm, eine Koalition aus SPD, DDP, DVP, Bauernbund, Volksrechtspartei und Partei für Handwerk und Gewerbe zu bilden. Staatsminister wurde wieder Freiherr von Reibnitz, dem die Koalitionspartner zwei parlamentarische MinDir. beiordnen sollten (WTB vom 15.4.29; R 43 I /2276 , Bl. 235). Der Etat wurde im LT am 17. 4. angenommen („Germania“ vom 18. 4.). Über die Aktion Haentzschels schrieb Frh. von Reibnitz: „Daß dieses Eingreifen Erfolg hatte, ist in der Hauptsache der Energie, Klugheit und Geschicklichkeit des hierher entsandten Reichsbeauftragten zu verdanken“ (14.5.29; R 43 I /2276 , Bl. 237, 232).

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