2.199.1 (mu21p): [Schachts Schreiben vom 6. Mai 1929.]

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Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

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Text

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[Schachts Schreiben vom 6. Mai 1929.]

Der Herr Reichsbankpräsident hat in einem Schreiben an den Herrn Reichskanzler vom 6. Mai 1929, das abschriftlich in der Anlage beigefügt ist, u. a. folgendes ausgeführt:

„Die gegen die Novemberentschließung v. J. ins Gegenteil geänderte Haltung der Reichsregierung, die Sie mir mit Ihrem geehrten Schreiben vom 3. d. M. mitteilen, wird von uns nach Möglichkeit berücksichtigt werden, ohne daß dadurch die am Schlusse meines Schreibens vom 4. d. M. an Sie festgestellte Handlungsfreiheit der Sachverständigen unter eigener Verantwortung beeinträchtigt werden darf, wogegen wir erfreulicherweise von Ihnen einen Widerspruch nicht gehört haben4“.

4

Siehe Dok. Nr. 198.

Gegenüber dem Hinweis des Herrn Reichsbankpräsidenten auf „die … ins Gegenteil geänderte Haltung der Reichsregierung“ stellen die unterzeichneten Reichsminister auf Grund der amtlichen Unterlagen der Reichskanzlei und ihrer übereinstimmenden Erinnerung folgendes fest:

Die Ministerbesprechung vom 26. November 1928, auf die der Herr Reichsbankpräsident Bezug nimmt und die längere Zeit vor der Ernennung der Sachverständigen stattgefunden hat, diente lediglich der Vorbereitung des Materials für den Fall des Zustandekommens der Sachverständigenkonferenz. Eine Beschlußfassung über den Standpunkt der Reichsregierung zu der Höhe der möglichen deutschen Leistungen ist nicht erfolgt5.

5

Vgl. Dok. Nr. 70.

In der Sitzung, in der außer den Ministern und den Vertretern der Ressorts der Herr Reichsbankpräsident und der Vizepräsident der Reichsbank anwesend waren, ergriff unmittelbar nach Eröffnung der Erörterungen über die Reparationsfrage der Herr Reichsbankpräsident das Wort und legte den Stand der Dinge dar. Er begann damit, daß er erklärte, er wisse nicht, ob die Regierung ihn zum Sachverständigen bestellen würde, aber er lege Wert darauf, bereits in diesem Augenblick eine Frage klarzustellen, nämlich die Frage, ob man vorher im Kabinett die Sachverständigen auf die Innehaltung bestimmter Zahlen festlegen wolle oder ob man überhaupt zunächst auch intern von der Behandlung von Zahlen absehen wolle. Auf ein Kopfnicken des Reichskanzlers bei Erwähnung der letzten Möglichkeit fuhr der Reichsbankpräsident fort, daß er auch selbst der Auffassung sei, daß man vorläufig von der Erörterung von Zahlen auch intern völlig Abstand nehmen solle. Man könne den Zahlen überhaupt keine absolute Bedeutung beimessen. So habe er jemandem, der ihn vor einiger Zeit gefragt habe, einmal gesagt: „Schaffen Sie mir Freihandel in der Welt, dann bin ich in der Lage, 2 Milliarden zu zahlen. Schaffen Sie mir Freihandel in Europa, dann kann ich vielleicht 1500 Millionen zahlen. Schaffen Sie mir Freihandel nach den Reparationsländern, dann kann ich 1 Milliarde zahlen.“ Daraus ergebe sich schon, daß den Zahlen kein allein entscheidender Wert zukomme, sondern daß sie nur im Zusammenhang mit den Gesamtbedingungen verstanden werden können. Im Anschluß daran beklagte sich der Herr Reichsbankpräsident darüber, daß von einem Beamten gegenüber einem Außenstehenden bereits eine Zahl genannt worden sei und erklärte: „Wie sollen Sachverständige in Paris Erfolge erzielen, wenn ihnen solche in den Ressorts genannten Zahlen alsdann entgegengehalten werden können.“

[649] Der Reichsminister der Finanzen äußerte darauf, er könne sich nicht vorstellen, daß von einem Beamten seines Ressorts eine solche Zahl genannt worden sei. Er selbst habe sich immer ängstlich gehütet, überhaupt eine Zahl zu erwähnen. Auch er stehe auf dem Standpunkt, daß man ohne Kenntnis der Bedingungen bestimmte Zahlen überhaupt nicht als innerhalb der Leistungsfähigkeit liegend oder nicht liegend ansehen könne. Die Tragbarkeit einer Zahl hänge immer von den allgemeinen Verhältnissen ab, unter denen Zahlungen stattfinden sollen, und diese könne man zur Zeit noch nicht übersehen. Eine entsprechende Erklärung gaben auch der Reichsaußenminister und der Reichswirtschaftsminister für die Beamten ihrer Ressorts ab.

Auf Verlangen des Reichsbankpräsidenten wurde alsdann vom Reichskanzler festgestellt, daß von Diskussionen irgendwelcher Zahlen im Kabinett abgesehen werden sollte und daß die einzelnen beteiligten Minister ihre Beamtenschaft noch besonders auf die notwendige Zurückhaltung hinweisen wollten.

Die Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Sitzung durch den Reichskanzler, die sich in allen Punkten mit der Erinnerung der unterzeichneten Minister deckt, ging in Übereinstimmung mit der vorstehenden Sachdarstellung dahin:

1.

daß die Ernennung der deutschen Experten für den in Genf beschlossenen Sachverständigen-Ausschuß alsbald vorbereitet werden müsse;

2.

daß die in der Übersicht des Reichsministers der Finanzen zusammengestellten Arbeiten zur Vorbereitung der Sachverständigen-Verhandlungen alsbald abgeschlossen und den Mitgliedern des Reichskabinetts sowie dem Reichsbankpräsidenten unterbreitet werden sollen;

3.

daß das Reichskabinett sich auf Grund der in Aussicht stehenden Unterlagen alsdann über gewisse, den deutschen Experten an die Hand zu gebende Richtlinien schlüssig werden müsse;

4.

daß den Beamten der beteiligten Ressorts zur Pflicht gemacht werden soll, sich auch in persönlichen Gesprächen mit Vertretern der Gegenseite größtmögliche Beschränkung bei der Äußerung von zahlenmäßigen Vorurteilen über die deutsche Reparationsfähigkeit aufzuerlegen, um den Standpunkt der deutschen Experten bei den bevorstehenden Verhandlungen nicht zu erschweren.

Die unterzeichneten Minister müssen danach die Auffassung, daß ihre spätere Entschließung zum Young-Plan irgendeinen am 26. November 1928 gefaßten Beschluß der Reichsregierung geändert oder gar in das Gegenteil verkehrt habe, als sachlich unrichtig zurückweisen. Die beiden Sitzungen, die allein der Verhandlung zwischen Sachverständigen und Reichsregierung über den Gang der Sachverständigenkonferenz dienten (Sitzungen vom 4. und 7. Februar 1929, lassen, […] ebenso keinen Zweifel darüber, daß den Sachverständigen volle Freiheit der Entschließung gelassen worden ist, ohne daß die Reichsregierung ihrerseits sachlich Stellung genommen hätte6. Die Reichsregierung[650] ist aus ihrer Reserve erst herausgetreten, als die Sachverständigen nach ausdrücklicher Erklärung des Herrn Reichsbankpräsidenten sich nicht mehr in der Lage sahen, angesichts der Ziffern des Young-Planes die Verantwortung für die zu fassenden Entschlüsse allein zu übernehmen. Um den Sachverständigen die Gewißheit voller Deckung durch die Reichsregierung zu geben, ist dann der Beschluß vom 3. Mai 1929 gefaßt und dem Herrn Reichsbankpräsidenten auf seinen ausdrücklichen, telegraphisch wiederholten Wunsch übermittelt worden7. Der Herr Reichskanzler hat davon abgesehen auf die im vorstehenden festgestellte Unstimmigkeit im Briefe vom 6. Mai 1929 in seiner Antwort hinzuweisen, um den Gang der schweren Arbeiten in Paris nicht mit einer im Augenblick nutzlosen Erörterung über Vergangenes zu beschweren8. Die an der Reparationsfrage beteiligten Minister haben aber beschlossen, die vorstehende Richtigstellung des Sachverhalts zu den Akten der Reichskanzlei zu geben und nach Abschluß der Pariser Verhandlungen dem Herrn Reichsbankpräsidenten Abschrift dieser Aufzeichnung zu übermitteln.

6

Vgl. Dok. Nr. 119.

7

Siehe Dok. Nr. 193.

8

Siehe das Schreiben des RK vom 10. 5., Dok. Nr. 200.

Müller

Hilferding

Stresemann

Curtius

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