2.99 (bau1p): Nr. 98 Besprechung des Reichsministers für Wiederaufbau mit rheinisch-westfälischen Großindustriellen über Wiedergutmachungsfragen. Essen, 10. November 1919, 11 Uhr

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Nr. 98
Besprechung des Reichsministers für Wiederaufbau mit rheinisch-westfälischen Großindustriellen über Wiedergutmachungsfragen. Essen, 10. November 1919, 11 Uhr1

1

RM Geßler war nach Essen gekommen, um mit dem Vorsitzenden der frz. Kohlenkommission, Major Aaron, über die ultimativen frz. Forderungen betr. die dt. Kohlelieferungen an Frankreich zu verhandeln (vgl. Dok. Nr. 90, P. 2). Diese Verhandlungen waren vereinbart worden, nachdem der RMWiederaufbau dem frz. Minister für industriellen Wiederaufbau und Vorsitzenden des Organisationskommitees der all. Repko, Loucheur, mitgeteilt hatte, daß er die Zuständigkeit für alle aus dem VV resultierenden Sachlieferungen an die Entente auf sein Min. übernehmen wolle. Die westdt. Industriellen waren durch die Absichtserklärung insofern betroffen, als dadurch z. B. im Bereich der Kohlelieferungen der Verhandlungs- und Ermessensspielraum des mit der Durchführung der Lieferungen befaßten Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats in Fragen der Mengen, Sorten und Frachtbedingungen entscheidend beschnitten werden würde (Materialien dazu in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 68). – Über die Besprechung liegt die folgende, als „streng vertraulich“ gekennzeichnete Niederschrift mit Präsentat der Rkei vom 20.12.19 vor. Ein Protokollführer konnte nicht ermittelt werden.

R 43 I /342 , Bl. 211–222

Anwesend: Geßler; GehLegR Schmitt, RegBaumeister Brecht, BergR Hilgenstock, RegBauR Grunzke, RegR Treibe.

Für die Industrie: Thyssen, Rabes, Roser, Klöckner, Vögler, Kirdorf, Wiedfeldt, Bruhn, von Schaewen, Janus, Lübsen, Hasslacher, Reusch.

Reichsminister Geßler begrüßt die erschienenen Herren und dankt ihnen, daß sie ihm Gelegenheit geben, nach seiner Ernennung mit der Rheinisch-Westfälischen Industrie sich über die Fragen, die er gemeinsam mit ihr zu bearbeiten haben werde, auszusprechen. Er macht Mitteilung über den Kreis der Aufgaben, die dem neuen Ministerium für den Wiederaufbau übertragen sind.

Schmitt weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich bisher daraus ergeben haben, daß es bei der Arbeit an der Ausführung der Friedensbedingungen2[354] an einer einheitlichen Richtlinie fehlt. Es sei ohne eine einheitliche Leitung sehr schwer, die Grenze zu finden, wo man im entscheidenden Moment fest bleiben könne; auf der andern Seite würde in minder wichtigen Dingen oftmals eine übermäßig schroffe Stellung eingenommen, die den Verhandlungen nur schade. Es sei notwendig, sich durch ständig wiederholende Besprechungen untereinander objektiv darüber klar zu werden, welche Richtlinien im allgemeinen zu verfolgen seien. Dabei müsse seines Erachtens darauf hingewiesen werden, daß die Fragen der äußeren Politik, um die es sich hier handele, von den Fragen der inneren Politik scharf getrennt blieben. Da in diesen Fragen der äußeren Politik die sachlichen Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer absolut Hand in Hand gingen, stelle er zur Erwägung, ob die Stellungnahme der Industrie zu den einzelnen Fragen nicht besser von den Arbeitsgemeinschaften anstatt von den Verbänden der Arbeitgeber erfolge. Eine Einwirkung der Arbeitgeberverbände allein im Sinne des Festbleibens würde nur den umgekehrten Erfolg haben. Es werde in vielen Fällen notwendig sein, daß, wenn eine einzelne Industriegruppe oder einzelne Unternehmungen von den Friedensbedingungen besonders hart betroffen würden, von der Allgemeinheit dann den Betroffenen eine Schadloshaltung gewährt werde. Die Aufgaben der äußeren Politik seien zur Zeit sehr einfach: grundsätzliche Abänderung des Friedensvertrages und Möglichkeit, sich unbeeinflußt von außen zu konsolidieren. Wenn man von dieser Richtlinie ausginge und sich stets bemühte, die Fragen der inneren Politik auszuschalten, so müsse es möglich sein, bei den einzelnen Fragen zu klarer Stellungnahme zu gelangen.

2

Vgl. Dok. Nr. 99, Anm. 15.

Wenn jetzt Verhandlungen mit Frankreich über ein Zusammenarbeiten in gewissen wirtschaftlichen Fragen im Gange seien, so sollten sie nichts anderes bezwecken, als eine langsame Dämpfung der chauvinistischen Gegensätze; irgendein Umschwung in der Stimmung Frankreichs gegen uns sei nicht zu erwarten. Bei diesen Verhandlungen könne auf die deutschen Interessenten kein Zwang ausgeübt werden, es sei vielmehr unbedingt erforderlich, daß die etwa zu treffenden Vereinbarungen den deutschen Interessen vollständig entsprächen. Es könne keine Rede davon sein, daß jetzt hier eine „Kontinentalpolitik“ mit Frankreich betrieben werden soll; man stehe vielmehr in allen Dingen vor vollkommen neuen Aufgaben. Von besonderer Wichtigkeit für die kommenden Verhandlungen mit der Entente, die durch das uns zur Unterzeichnung vorgelegte Protokoll vom 3. November besonders ernst geworden seien3, sei die Beantwortung der Frage, ob wir eine lang andauernde Entziehung der Minette riskieren könnten4 und welche Folgen die Besetzung[355] des Ruhrgebiets sowohl für das Ruhrgebiet selbst, wie auch für das übrige Deutschland, haben würden. Er bitte, sich insbesondere über diese beiden letzten Punkte auszusprechen.

3

Gemeint ist der Entw. eines zusammen mit der Ententenote vom 1.11.19 vorgelegten Protokollentw., zu dessen Unterzeichnung die RReg. bevollmächtigte Vertreter nach Paris entsenden sollte. Einzelheiten s. Dok. Nr. 97, P. 1.

4

Die dt. Stahlindustrie hatte durch den Verlust Elsaß-Lothringens an Frankreich neben einem Teil ihrer Hüttenwerke auch ihre wichtigste Eisenerzquelle verloren. In den im Juli und August 1919 stattfindenden Pariser Verhandlungen (vgl. unten Anm. 5) war auch über den Austausch rheinischer Kohle gegen lothringische Minette verhandelt worden (Materialien dazu in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 84). – Zum Gesamtzusammenhang vgl. die Untersuchung von Jacques Bariéty: Le rôle de la minette dans la sidérurgie allemande et la restructuration de la sidérurgie allemande après le traité de Versailles. In: Travaux et Recherches du Centre de Recherches Relations Internationales de l’Université de Metz. 1972, S. 233–277.

Wiedfeldt: Wir versprechen uns sehr viel vom Wiederaufbauministerium. Von ihm aus läßt sich am ehesten der undurchführbare Friedensvertrag aus den Angeln heben. Der Wiederaufbauminister muß den Gegnern unausgesetzt vor Augen führen, daß wir tun, was wir können.

Über Einzelheiten von Versailles sind wir nur wenig unterrichtet. Ich bitte daher um Aufklärung wegen der 3 Fragen:

1. Kohlen- und Transportfrage,

2. Minette,

3. Interessengemeinschaft.

Schmitt: Das Protokoll vom 29. August ist nicht ganz eindeutig5; es konnte nicht erreicht werden, die tatsächliche Anrechnung der Vorlieferungen auf stark herabgesetzte Pflichtlieferungen zweifelsfrei sicherzustellen. Man habe die Vorlieferungen damals für notwendig gehalten; so wie die Situation sich jetzt entwickelt habe, könne es allerdings fraglich sein, ob die damalige Entschließung richtig gewesen ist.

5

Im Sommer 1919 war zwischen Vertretern der Dt. Friedensdelegation in Versailles und des Organisationskomitees der all. Repko unter Leitung Loucheurs über die Inkraftsetzung der wirtschaftlichen Bestimmungen des VV verhandelt worden (s. dazu auch Anm. 12). Der Friedensvertrag sah in Art. 236 VV in Verbindung mit Anl. V dt. Kohlelieferungen an Frankreich, Italien, Belgien und Luxemburg in Höhe von zunächst 40–45 Mio t Kohle jährlich auf die Dauer von 5 Jahren, dann weitere 5 Jahre ca. 33 Mio t jährlich vor. Diese Forderungen sind vor dem Hintergrund einer dt. Steinkohlenproduktion – unter Einschluß Oberschlesiens, ohne das Saargebiet – von 108 Mio t im Jahre 1919 zu sehen, die 57% der dt. Vorkriegsförderung im Jahre 1913 entsprachen. Ende August unterstellte Loucheur der dt. Delegation mangelnden Verhandlungswillen und machte französischerseits die Lösung der Kriegsgefangenenfrage von dt. Entgegenkommen bei den Kohlelieferungen an Frankreich abhängig (LegR Frhr. von Lersner an den RAM und UStS von Haniel, persönlich, 23.8.19; PA, Weltkrieg 31 Geh., Bd. 2). Daraufhin war der Vertreter der dt. Kriegslastenkommission, GehR Schmitt, ermächtigt worden, am 29.8.19 in Versailles ein Protokoll zu unterzeichnen, in dem sich Dtld. verpflichtete – ohne daß der VV bereits in Kraft getreten wäre –, schon vom 1.9.19 ab Kohle zu liefern. Die vorzeitig gelieferten Mengen sollten auf die nach Inkrafttreten des VV fälligen Pflichtlieferungen angerechnet werden. Eine Verpflichtung zur Vorauslieferung bestimmter Monatsmengen wurde von Dtld. nicht übernommen (Abschrift des Protokolls in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 68; vgl. Schultheß 1919, II. S. 586 f.). Als Gegenleistung erklärte Loucheur u. a., daß er der Repko nach ihrer Konstituierung vorschlagen werde, die monatlichen dt. Kohlelieferungen vom Datum des Inkrafttretens des VV ab bis zum 30.4.20 nur in Höhe von 1 660 000 t festzusetzen. Für den Fall einer über 9 Mio t hinausgehenden dt. Monatsförderung war eine Aufstockung dieses Kontingents vorgesehen (Carl Bergmann: Der Weg der Reparation, S. 45 f.).

In der Minette-Frage benehmen sich die Franzosen kleinlich und verlangen ungerechtfertigte Preise. Diese Frage muß zurückgestellt werden, bis die Atmosphäre günstiger für sie geworden ist.

Über ein Zusammengehen der deutschen und elsässischen Kaliindustrie sollte in der nächsten Zeit eine erste Besprechung stattfinden. Bei der jetzigen Lage sei es aber fraglich, ob man hiermit nicht warten solle. Wenn aber überhaupt etwas erreicht werden soll, muß für größere Einheitlichkeit und größere Klarheit gesorgt werden. Es geht nicht, daß über einzelne Dinge an 5[356] verschiedenen Stellen verhandelt wird. Abweichungen in den Ergebnissen erwecken dann nach außen hin den gefährlichen Anschein der Unehrlichkeit.

Lübsen: Die Herren in Berlin müssen ein Vorurteil aufgeben: Rheinland-Westfalen denkt nicht daran, der Entente gegenüber den starken Mann spielen zu wollen. Minister Loucheur wird m. E. zu optimistisch beurteilt. Er ist scharf und rücksichtslos und wird uns bis auf den letzten Pfennig auspressen. Verhandeln wird er nur dort mit uns, wo ihm der Friedensvertrag zur Vergewaltigung kein Recht gibt. Die richtige Einschätzung Loucheurs ist von größter Wichtigkeit für uns6.

6

Zur Einschätzung Loucheurs vgl. Dok. Nr. 99, P. 8.

Die von Geheimrat Schmitt vertretene Politik, in großen Fragen fest zu bleiben und in kleinen nachzugeben, halte ich nicht für glücklich. So ist z. B. das Transportieren der Wiedergutmachungskohle mit der Bahn über die französische Grenze ein Entgegenkommen, was in Frankreich als solches gar nicht anerkannt wird. Wir sind überhaupt in Versailles zu entgegenkommend gewesen. Als Besiegte müssen wir natürlich zu Verhandlungen bereit sein. Die Gefahr ist, daß wir den Franzosen als hinterhältig erscheinen, weil bei der ganzen Sachlage aus diesen Verhandlungen im allgemeinen nichts Greifbares herauskommt.

Reichsminister: Mein Ministerium wird künftig die heimische Zentralstelle für alle Fragen der wirtschaftlichen Wiedergutmachung sein. Ich werde einen besonderen Vertreter bei der deutschen Delegation in Paris und auch einen in Essen bei der hiesigen französischen Kommission7 haben. Selbstverständlich habe ich mit dem Reichswirtschaftsministerium und Reichsfinanzministerium in engster Fühlung zu arbeiten.

7

Gemeint ist die frz. Kohlenkommission in Essen.

In der Frage des Wiederaufbaues haben wir ein besonderes Interesse daran, die Bergwerke bei Lens schnellstens wieder in Ordnung zu bringen.

Lübsen: Der Ausbau der Delegation in Paris ist zweifellos notwendig. Für die wichtigsten Gebiete müssen Sonder-Referenten gestellt werden. Unterstaatssekretär Bergmann und Freiherr von Lersner können unmöglich das ganze Gebiet übersehen. Wenn jetzt Loucheur bei ihnen auf Grund neuester Nachrichten seine Klagen vorbringt, fehlen den Herren meist die genauen Unterlagen zur Widerlegung und Loucheur verläßt die Herren mit dem Eindruck, sie davon überzeugt zu haben, daß sie im Unrecht sind8. Dies ist ein schwerer Übelstand.

8

Vgl. dazu den Brief des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats an den RMWiederaufbau vom 8.11.19 (Abschrift in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 68).

Schmitt: Dies gilt wohl nur für die Kohle, bei der ich ganz der Meinung von Herrn Lübsen bin. Die laufenden Kohlenverhandlungen müssen von Paris fort und nach Essen gelegt werden; nur die entscheidenden Hauptverhandlungen darüber müssen in Paris weiter geführt werden.

Vögler: Ist es richtig, daß wir uns in weitgehende Verhandlungen mit den Franzosen einlassen, bevor der Frieden ratifiziert ist? Die Industrie braucht eine Grundlage, eine allgemeine Richtschnur für ihre Stellung zum Ausland.

[357] Schmitt: Es ist nicht richtig, sich in weitgehende Verhandlungen mit den Franzosen vor der Ratifikation einzulassen; doch ist es richtig, schon jetzt solche künftigen Verhandlungen anzubahnen.

Er stellt die Frage zur Erörterung, ob und wie lange wir auf Minette verzichten können.

Vögler: Die Minette-Frage muß gegenüber den anderen zurücktreten. Sie kann deshalb zurücktreten, weil sie zum Teil durch die Kohlenfrage abgelöst ist. Wegen des Kohlenmangels brauchen wir auch weniger Minette. Durch Austausch der Erzvorräte unter den verschiedenen Firmen und durch stärkere Heranziehung der inländischen Erze würden wir 3–4 Monate lang das Ausbleiben der Minette ertragen können.

Reusch und v. Schaeven schließen sich dem an.

Schmitt: Wenn Loucheur mit Einstellung der Minette-Lieferungen droht, kann ich ihm also entgegnen, daß wir es darauf ankommen lassen? (Allgemeine Zustimmung.)

Vögler: Ohne unsere Erklärungen abschwächen zu wollen, weise ich darauf hin, daß wir die Minette-Sperre um so eher ertragen können, je schärfer wir die unerlaubte Ausfuhr von Schrott verhindern. Jetzt gehen große Mengen Schrott nach Italien, der Schweiz und auch nach Holland.

Schmitt: Ich bitte, sich zu den möglichen Folgen einer Besetzung des Ruhrgebiets durch die Entente zu äußern.

Kirdorf: Das läßt sich nicht vorher sagen, weil es ganz von dem Verhalten der Entente nach der Besetzung abhängen wird. Ich bin überzeugt, daß die Kohlennot auf alle Fälle im nächsten Jahr noch größer sein wird. Wenn das Betriebsräte-Gesetz durchgeht, kommen wir unvermeidlich zu weiteren Schichtverkürzungen und damit zu erhöhtem Kohlenelend.

Reusch: Die Frage ist nicht nur für das Ruhrrevier, sondern für ganz Deutschland zu prüfen.

Klöckner: Nach dem besetzten Gebiet zu urteilen, tun die Engländer allgemein alles, um die Werke in Betrieb zu halten. Sie sorgen insbesondere für Kohlenlieferungen. Wird das Ruhrrevier besetzt, so wird es seiner Industrie vielleicht ganz gut gehen. Abgesehen von Süddeutschland, das von der Entente vielleicht bevorzugt behandelt werden würde9, würden aber die Folgen einer Besetzung des Ruhrreviers für das übrige Deutschland entsetzlich sein.

9

Vgl. dazu Dok. Nr. 36, Anm. 9.

Kirdorf: Ich bin nicht so sicher, daß die Industrie bei der Besetzung nicht zu Schaden kommt. Ich verweise auf die Vorgänge an der Saar. Wenn die Engländer die Besetzung ausführen, möchte es angehen. Von den Franzosen und Belgiern ist aber nichts Gutes zu erwarten.

Hilgenstock: Nicht nur im Falle Röchling10, sondern auch bei Neunkirchen sind die Franzosen so vorgegangen, daß sie die überwiegend mit deutschem[358] Kapital arbeitenden Werke bei der Kohlenbelieferung benachteiligten gegenüber den mit belgischem oder französischem Kapital arbeitenden Werken. Die Folgen der Besetzung für die Kohlenversorgung des übrigen Deutschlands sind ganz unübersehbar. Der Reichskohlenkommissar hat sich in Versailles auf das schärfste gegen die Vorlieferungen ausgesprochen. Gegenüber den Forderungen der Finanzvertreter hat er seinen Widerspruch schließlich zurückgestellt.

10

Den dt. Eisen- und Stahlindustriellen Hermann und Robert Röchling, denen Hüttenwerke in Lothringen und an der Saar gehörten, wurde französischerseits ihre Tätigkeit im besetzten frz. Gebiet während des Weltkriegs zur Last gelegt. Robert Röchling, der sich in frz. Haft befand, war im Dezember 1918 vor allem deshalb verurteilt worden, weil er die dt. Feldzeugmeisterei und die Kriegsrohstoffabt. bei der Zerstörung frz. Hüttenwerke beraten hatte (vgl. dazu die Erklärungen der Friko im RWeMin. vom 18.10.19 und der Friedensabt. des AA vom 31.10.19 in: R 43 I /342 , Bl. 104 und 115 f.).

Vögler: Da die Unmöglichkeit der vertragsmäßigen Kohlenlieferung doch einwandfrei feststeht, müssen wir nach dem Vertrag mit der Besetzung rechnen.

Schmitt: Ich glaube nicht, daß die Kohlenlieferungsfrage das allein ausschlaggebende Moment für eine etwaige Besetzung sein wird, sondern allgemein politische Gesichtspunkte, wie z. B. die Baltikumfrage oder die Auslieferungsfrage. Nach der bisherigen Aussprache würden wir also in der Minettefrage es auf einen Kampf ankommen lassen können. In der Kohlenfrage müßten wir aber noch versuchen, weiter zu lavieren, jedoch in der tatsächlichen Lieferung unser möglichstes zu tun.

Reichsminister: Wenn die Franzosen glauben sollten, durch bevorzugte Behandlung Süddeutschlands nach der Besetzung des Ruhrreviers dort politische Eroberungen zu machen, so werden sie sich, wie ich als Süddeutscher ausdrücklich betonen möchte, schwer täuschen. Auch die Pfalz ist unter dem Druck der Besetzung womöglich noch reichstreuer geworden als je. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das so stark geschwächte Frankreich sich mit der Verwaltung größerer deutscher Gebiete belasten kann und will. Im übrigen habe ich die Erklärung der Herren, die Folgen der Minettesperre und einer etwaigen Besetzung tragen zu wollen, gern zur Kenntnis genommen, da sie unsere Stellung stärkt. Ich werde dem Kabinett von dieser Überzeugung der Vertreter der rheinisch-westfälischen Industrie Mitteilung machen.

Wiedfeldt: Die Besetzung des Ruhrreviers wird gewiß katastrophal für das ganze übrige Deutschland sein, aber die Durchführung des Friedensvertrages wird in jedem Falle zur Katastrophe führen.

Schmitt: Darf ich auf die Notwendigkeit zurückkommen, daß mehr für die Aufklärung über die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse, die sich aus der Ausführung des Friedensvertrags ergeben, sowohl bei der Regierung, wie in der Nationalversammlung geschehen muß. Kann man nicht die Arbeitsgemeinschaften, außerhalb aller inneren Politik, heranziehen, um die Kenntnis solcher Tatsachen auch in den Kreisen der Arbeitnehmer zu verbreiten?

Kirdorf u[nd] Reusch bezweifeln, daß die Arbeitsgemeinschaft für diese Aufgabe geeignet sei. Die Metallarbeiter hätten überdies die Arbeitsgemeinschaft bereits gekündigt.

Vögler: Regierung und Nationalversammlung sind m. E. außerstande, die Fragen der äußeren Politik unabhängig von den Fragen der inneren Politik zu betrachten. Die Vorgänge in Stuttgart mit der Kündigung der Arbeitsgemeinschaft[359] durch die Metallarbeiter11 sehe ich als eine Stärkung für die Arbeitsgemeinschaft an; sie hat sich damit von der rein sozialistischen Politik frei gemacht. Das Betriebsräte-Gesetz sehe ich als den Ruin der Gewerkschaften an.

11

Der Dt. Metallarbeiterverband wurde, nachdem der langjährige 1. Vorsitzende RArbM Schlicke sein Amt niedergelegt hatte, von Kräften geführt, die die Gewerkschaft auf den Boden des Klassenkampfes zurückführen wollten. Eine entsprechende Verbandspolitik, die die Zusammenarbeit mit den Arbeitgebern in paritätischen Arbeitsgemeinschaften ausdrücklich verwarf, war auf der 14. Generalversammlung des Verbandes vom 13.–22.10.19 in Stuttgart gebilligt worden (Dt. Metallarbeiter-Zeitung, 1919, S. 172; Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 1919, S. 512 ff.).

Reichsminister: Ich will die Stellung der Gewerkschaften in meinem Wirkungskreis möglichst stärken. Wenn ich hierbei da und dort auf Widerstand bei der Industrie stoßen sollte, bitte ich um Ihre Unterstützung.

Schmitt stellt fest, daß nach Meinung der Herren sich das objektive Tatsachenmaterial nur in unermüdlicher Kleinarbeit unter Mitwirkung aller Unterrichteten verbreiten läßt.

Zu der Frage der für den 19. November in Lüttich in Aussicht genommenen Besprechung deutscher und französischer Eisenindustrieller12 schlägt er vor, den Franzosen mitzuteilen, daß wir uns bei der augenblicklichen Situation, wie sie durch die Entente-Note vom 3. November geschaffen sei, von der Zusammenkunft nichts versprechen könnten, sondern vorschlügen, diese Besprechung erst stattfinden zu lassen, wenn wieder eine günstigere Atmosphäre vorhanden sei.

12

Anläßlich der o. a. Pariser Verhandlungen (s. Anm. 5) hatte Minister Loucheur im Beisein des frz. Schwerindustriellen Schneider Ende Juli der dt. Delegation auch Gespräche „über die zukünftige Entwicklung der deutschen und französischen Industrie“ angeboten und Pläne für eine gemeinsame Kartellpolitik entwickelt (Lersner an Haniel, 31.7.19; PA, Weltkrieg 31 Geh., Bd. 2). Die rheinischen Großindustriellen, die auf Bitten von GehR Schmitt am 16. 8. über die Vorschläge beraten hatten, hielten eine Verfolgung der Pläne z. Z. nicht für opportun. Von frz. Seite war das Projekt dennoch weiterverfolgt und eine gemeinsame Besprechung für Mitte November angeregt worden. Die Kartellverhandlungen werden deutscherseits am 22. 11. abgebrochen (Materialien dazu in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 84; vgl. auch Georges Soutou: Der Einfluß der Schwerindustrie auf die Gestaltung der Frankreichpolitik Deutschlands 1919–1921. In: Hans Mommsen u. a. (Hrsg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. S. 543–552).

Reusch: Wir haben außer dem politischen13 Grund auch noch einen anderen zur Absage: Nach der Auflösung des Stahlwerkverbandes ist unsere Industrie zur Zeit wenig geschlossen. Ich persönlich würde ablehnen, mich jetzt mit den Franzosen an den Verhandlungstisch zu setzen.

13

Im Protokoll irrtümlich: polnischen.

Thyssen und Vögler schließen sich dem an.

Klöckner: Man sollte jetzt alle Versuche zu Verhandlungen ablehnen, solange nicht geordnete Friedensverhältnisse bestehen. Trotzdem Frankreich uns schon die guten lothringischen Werke fortgenommen hat, hat es immer noch Angst vor dem deutschen Gewerbefleiß in den kommenden Jahen. Wir sollen daher durch Konventionen für die nächste Zeit weiter unschädlich gemacht werden. Ich mache das nicht mit, auch wenn unsere Regierung es will. Nach dem Vorgang vom 4. 11.14 können wir nicht verhandeln, solange wir mit der Möglichkeit von Vergewaltigungen rechnen müssen, solange Robert Röchling[360] in Amiens gefangen gehalten wird, und solange de Vendel, Schneider-Creuzot usw. alle Macht bei Loucheur haben und sie gegen uns ausnützen dürfen.

14

Gemeint ist wahrscheinlich das Bekanntwerden der in Anm. 3 zit. Dokumente.

Schmitt: Ich muß darauf hinweisen, daß die äußeren Verhandlungsformen bei den Franzosen stets durchaus korrekt waren. Im übrigen bin auch ich der Meinung, daß die Verhandlungsgrundlage nicht unsere jetzige Lage sein kann, sondern der Zustand Deutschlands nach Überwindung der gegenwärtigen Krise. Dies ist bei den Besprechungen mit Loucheur diesem gegenüber stets zur Voraussetzung gemacht worden. Er hat diesen Standpunkt auch formell als richtig bestätigt.

Die französische Kohlenförderung ist gestiegen. Wir müssen versuchen, daraufhin Abstriche von den 20 Millionen Tonnen zu machen, damit wir einen Teil des frei werdenden Betrags zur Erlangung von Minette verwenden können.

Bruhn: Bei der Interessengemeinschaft mit dem Gegner ist zu bedenken, daß wir den Vorteil unserer schlechten Valuta für die Ausfuhr haben und daß das unsere Stärke auf dem Weltmarkt bildet. Wir dürfen daher dem Gegner nicht sofort entgegenkommen. Wollen unsere Gegner die Konkurrenzverhältnisse für sich auf dem Weltmarkt bessern, so müssen sie unsere Valuta verbessern durch eine internationale Anleihe oder ähnliches.

Rabes und Lübsen sprechen über die Vorgänge, betreffend Ausführung des Luxemburger Abkommens15. Sie erklären es für notwendig, daß die Entscheidung vor die Interalliierte Kommission gebracht werde, die sich in diesem Frühjahr mit dem Luxemburger Abkommen befaßt hat.

15

Im Luxemburger Abkommen vom 25.12.18 verpflichtete sich Dtld. im Vertrauen auf die all. Zusage, den Verkehr zwischen den rechts- und linksrheinischen Gebieten nicht systematisch zu unterbinden, zur vorläufigen Erfüllung der von den All. verlangten sofortigen Lieferungen von Kohle und Koks und sonstigen für Lothringen verlangten Materialien (Protokolle in: Waffenstillstand, II, S. 233 ff). Die dt. Lieferungen erreichten nachfolgend nicht die gewünschte Höhe (s. dazu diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 5 b).

Schmitt: Die Bedenken gegen die Heranziehung der Interalliierten Kommission sind erledigt, da wie jetzt festgestellt worden ist, die Franzosen diesem Verfahren ausdrücklich zugestimmt haben.

Reichsminister verliest ein Telegramm von Unterstaatssekretär Bergmann mit Vorschlägen für die Verhandlungen der Essener Kohlenkommission16. Alle Fragen sollen von neuem angefangen und durchgesprochen werden; der Rechtsstandpunkt, daß wir bis Grenze oder fob17 Rotterdam zu liefern haben, kann grundsätzlich gewahrt werden, darf aber Entgegenkommen nicht ausschließen. Hälftige Teilung der Befrachtung zugunsten der Firma Worms wird empfohlen18. Die Preisfragen sollten nicht in Essen, sondern in Paris weiter beprochen werden19.

16

Es handelt sich um je ein offenes und ein chiffriertes Telegr. an UStS Schröder vom 5.11.19; Abschriften in: Nachl. von Le  Suire , vorl. Nr. 68.

17

Abkürzung für: free on board.

18

Zum Zusammenhang s. Dok. Nr. 90, P. 2.

19

Vgl. Dok. Nr. 107.

Lübsen: Das Syndikat wird es nur begrüßen, wenn jetzt eine amtliche deutsche Kommission die Verhandlungen führt, damit das Syndikat nicht als Vertretung der Regierung auftreten muß, sondern sich wieder auf die Rolle des[361] Sachverständigen und unter Umständen auch auf die Rolle der privatwirtschaftlichen Unternehmung zurückziehen kann. Er weist darauf hin, daß die Ententekommission in Essen sich zu einer gegnerischen Kontrollinstanz für die deutsche Kohlenverteilung und dadurch für die ganze Wirtschaft auswachsen kann. Die Essener Kommission sei sehr gefährlich.

Reichsminister: Wir können die Franzosen nicht hindern, diese Kommission hier zu halten. In die deutsche Kommission muß auch ein Vertreter des Reichswirtschaftsministeriums kommen. Die Besetzung der deutschen Kommission ist eine wichtige Personenfrage.

Zum Schluß dankt Herr Reichsminister Geßler für die ihm gebotene, erwünschte Gelegenheit zu einer offenen Aussprache. Er bittet um die tätige Unterstützung der anwesenden Herren bei Erfüllung seiner Aufgabe. Er würde sich freuen, wenn die Herren sich mit Anfragen und mit Nachrichten unmittelbar an ihn wenden würden.

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