2.106 (lut1p): Nr. 106 Der Deutsche Industrie- und Handelstag an den Reichskanzler. 17. Juni 1925

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[343] Nr. 106
Der Deutsche Industrie- und Handelstag an den Reichskanzler. 17. Juni 1925

R 43 I /2418 , Bl. 176-184

[Zolltarifnovelle]

Der Deutsche Industrie- und Handelstag hat sich in der Sitzung seines Hauptausschusses am 10. ds. Mts. in Frankfurt a. M. eingehend mit dem Entwurf eines Gesetzes über Zolländerungen1 befaßt. Wir haben aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit und zur besseren Verständigungsmöglichkeit geglaubt, von einer öffentlichen Entschließung absehen zu sollen, und haben uns darauf beschränkt, beschlußmäßig die Übereinstimmung mit den Grundgedanken festzustellen, die im Berichte des mitunterzeichneten ersten geschäftsführenden Präsidialmitgliedes und in der Aussprache zutage getreten sind. Wir beehren uns, diese grundsätzliche Auffassung im folgenden darzulegen:

1

S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 102.

Wir begrüßen mit Dank die Absicht der Regierung, neben den Steuerfragen und der Aufwertungsfrage auch die Zollfragen in der nächsten Zeit, noch vor dem Auseinandergehen des Reichstages2, zur Entscheidung zu stellen, um damit der Wirtschaft eine feste Grundlage zu geben. Auch in diesem Zusammenhange möchten wir darauf hinweisen, daß die Erreichung dieses Zieles besonders auch die umgehende Erledigung der Aufwertungsfrage, und zwar eine solche Entscheidung voraussetzt, die in keinem Punkte über dasjenige Maß hinaus Lasten wieder begründet, das zwischen der Reichsregierung und den sie stützenden Parteien in dem sogenannten Kompromiß3 vereinbart wurde. Wir bitten deshalb auch bei dieser Gelegenheit, durch dementsprechende endgültige Erklärungen und Formulierungen der Reichsregierung dem allzulange schon andauernden Streit ein Ziel zu setzen und der Wirtschaft schleunigst die notwendige Beruhigung zu geben.

2

12.8.1925.

3

S. Dok. Nr. 86.

Was den Gesetzentwurf über Zolländerungen selbst betrifft, so halten auch wir es für im höchsten Maße dringlich, alsbald einen vorläufigen Zolltarif fertigzustellen, der auf Grund des gegenwärtigen Überblickes über die innen- und weltwirtschaftlichen Verhältnisse der deutschen Industrie nach den Grundsätzen eines wahrhaft mäßigen Zollschutzes Sicherung bietet und zugleich für die Handelsvertragsverhandlungen den Beauftragten der Reichsregierung gegenüber den Abschließungs- und Hochschutzzollbestrebungen der Mehrzahl der wichtigsten Außenhandels- und Wettbewerbsländer ein geeignetes Werkzeug in die Hand gibt.

Ohne zu verkennen, daß von verschiedenen Gesichtspunkten aus auch gegen die von der Regierung vorgeschlagenen Zollsätze für Industriewaren mannigfache Einwände erhoben werden können, glauben wir, den Nachdruck auf möglichst baldige Verabschiedung im ganzen legen zu müssen. Sie kann u. E.[344] ohne Verletzung wichtiger Lebensbedürfnisse der einzelnen Wirtschaftszweige geschehen, da es sich um eine vorläufige Regelung handelt und es möglich sein wird, die Richtigkeit der vorgeschlagenen Sätze anhand der Entwicklung der nächsten Zeit nachzuprüfen und danach im endgültigen Zolltarif die geeigneten Änderungen vorzunehmen. Gegenüber dem Einwand, daß die Vorlage in manchen Sätzen eine für Verbrauch und Verarbeitung bedenkliche Erhöhung vorsehe, wird darauf verwiesen werden können, daß der tatsächlich wirksame Stand des deutschen Zollschutzes erst durch die Handelsvertragsverhandlungen festgelegt werden wird. In diesen aber wird, wie wir überzeugt sind, die deutsche Reichsregierung – in voller Übereinstimmung mit der von uns vertretenen grundsätzlichen Auffassung – dahin trachten, mit Hilfe des neuen Zolltarifs auf dem Boden mäßiger Vertragssätze und unbeschränkter gegenseitiger Meistbegünstigung einen der wirtschaftlichen Lage entsprechenden verstärkten, möglichst auf Förderung der deutschen Ausfuhr eingestellten Wiederaustausch innerhalb der Weltwirtschaft zu erreichen. Wir haben deshalb auch in unseren Kreisen empfohlen, Einzelwünsche, soweit irgend möglich, zurückzustellen, um nicht die Verabschiedung der Vorlage zu verzögern.

Soweit wir sehen, ist man in weiten Kreisen der Wirtschaft hierzu bereit. Wir haben in diesem Zusammenhang auch dahin zu wirken versucht, daß der grundsätzliche Streit um den Eisenzoll4 möglichst aus der gegenwärtigen und besonders aus der öffentlichen Erörterung zurückgestellt werden möge.

4

In der Zollvorlage der RReg. sind Änderungen des geltenden Eisenzolls (s. Zollgesetz vom 25.12.1902, RGBl., S. 309 ) nicht vorgesehen. Zur Eisenzollfrage s. auch Dok. Nr. 44 und 235, dort bes. Anm. 8–10.

Wir möchten daher in diesem Zeitpunkt einläßlicher nur zur Frage der Zölle für landwirtschaftliche Erzeugnisse Stellung nehmen. Daß eine gesunde Landwirtschaft für Volkserhaltung und Volksgesundheit wie auch für eine ausgeglichene Innenwirtschaft eine unumgänglich notwendige Grundlage bedeutet, ist in viel weiterem Maße Gemeingut der allgemeinen Erkenntnis geworden, als es zur Zeit früherer Zollkämpfe der Fall war, und wird insbesondere in den Kreisen von Industrie und Handel rückhaltlos anerkannt. Die Bestrebungen des Auslandes, eigene Industrien zu entwickeln und in möglichst weitem Umfange zu volkswirtschaftlicher Autarkie zu gelangen, und die daraus folgenden erhöhten Schwierigkeiten für den Absatz deutscher Waren auf dem Weltmarkt zeigen, daß der Industrialisierung der deutschen Wirtschaft und der Unterbringung des deutschen Bevölkerungszuwachses in der Industrie, gleichviel wie man darüber bevölkerungs- und staatspolitisch denken mag, von der Seite der Weltwirtschaft her zunächst bestimmte Grenzen gesetzt sind, deren Überwindung nicht ohne weiteres möglich ist. Aus dem gleichen Umstande folgt, daß der notwendige Ausgleich der deutschen Zahlungs- und Handelsbilanz nicht schon durch Bemühung um möglichste Steigerung der Ausfuhr erreicht werden kann, sondern daß es ebenso wichtig ist, den Einfuhrbedarf, wo immer es im Rahmen der Gesamtwirtschaftlichkeit möglich ist, nach Kräften zu vermindern, dadurch die Handelsbilanz zu verbessern, den innenwirtschaftlichen Güterumlauf und die deutsche Kapitalbildung zu stärken und so wiederum Voraussetzungen[345] für eine günstigere Gestaltung der Zahlungsbilanz zu schaffen. Wir begrüßen deshalb aufrichtig das Bestreben der Landwirtschaft, durch möglichste Intensivierung sich dem Ziel der ernährungswirtschaftlichen Unabhängigkeit Deutschlands zu nähern, ohne daß wir die – vielleicht weniger agrikulturtechnisch als wirtschaftlich bedingten – Grenzen verkennen, die vorerst diesen Bestrebungen gesetzt sind.

Aus diesen Gründen – wie in Übereinstimmung mit grundsätzlichen Wirtschaftserwägungen – kann die Notwendigkeit nicht bezweifelt werden, der Landwirtschaft zunächst den ungehemmten Anschluß an den Weltmarktpreis freizugeben, von dem sie jetzt noch, über den inneren Wertunterschied hinaus, durch die grundsätzliche Ausfuhrsperre für Getreide und durch die Gestaltung der Umsatzsteuer5 ferngehalten ist, die in gewissem Sinne wie eine Einfuhrprämie wirkt.

5

S. dazu Dok. Nr. 139, P. 1.

Ob der Weltmarktpreis der Landwirtschaft gegenwärtig ein genügendes Entgelt für ihre Gestehungskosten bietet, ist bestritten. In weitem Umfang wird diese Frage bejaht werden können, wenn man von den besonderen einmaligen Schwierigkeiten absieht, unter deren Druck das Erntejahr 1924 stand. Denn die Preisschere, die im vorigen Jahre zuungunsten der Landwirtschaft weit klaffte, hat sich im wesentlichen geschlossen, Belastungen, unter denen die Landwirtschaft im Erntejahr 1924 litt und leidet, sind vorübergehender Art, die gegenwärtigen Preise für Getreide – nicht auch für Vieh, Fleisch, Kartoffeln usw. – stehen auf der Höhe ähnlicher Verhältniszahlen wie die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Noch bestrittener aber als die Frage, ob der jetzige Weltmarktpreis den jetzigen Gestehungskosten der deutschen Landwirtschaft genügt, ist die andere Frage, ob auch für die Zukunft mit einem den deutschen Gestehungsbedingungen entsprechenden Weltmarktpreis zu rechnen ist. Hierin liegt wohl die entscheidende Frage. Wenn hervorragende Gelehrte die Auffassung vertreten, daß mit einer Zeit steigender Getreidepreise zu rechnen sei und der deutsche Getreidebau, besonders zufolge des gemischten Betriebes und der Marktnähe, künftig den Wettbewerb mit dem ausländischen Getreidebau aufnehmen könne, aus Gründen, die gewiß volle Beachtung verdienen, so scheint andererseits doch auch uns die Möglichkeit nicht verkennbar, daß der Getreidebau in den nahezu beliebig erweiterungsfähigen, unerschöpft fruchtbaren, z. T. auch klimatisch begünstigten Gebieten Übersee und im Osten natürliche Vorzugsbedingungen genießt, die wieder einmal im Preise wirksam werden können.

Es ist deshalb zu verstehen, daß die Landwirtschaft solche möglichen Veränderungen ins Auge faßt und die Regierung ihre Politik auch auf die Möglichkeit eines sinkenden, den deutschen Anbaubedingungen nicht entsprechenden Weltmarktpreises einstellt. Auch in unseren Kreisen ist die grundsätzliche Auffassung ohne Widerspruch vertreten worden, daß der Getreidebau auch dann, wenn der Weltmarktpreis nicht mehr genügen sollte, nicht preisgegeben, sondern daß ihm dann durch einen echten zusätzlichen Zoll im Rahmen eines mäßigen Schutzzolles und im Rahmen der Erfordernisse der Gesamtwirtschaft über[346] den Weltmarktpreis hinaus zu einem den deutschen Gestehungskosten entsprechenden Preise verholfen werden soll.

Die vom Standpunkt dieser Anschauung gegenwärtig zu entscheidende Frage ist deshalb nicht die grundsätzliche Frage über Freihandel oder Schutzzoll, sondern ist die Frage, ob bei dem gegenwärtigen Weltmarktpreis und seiner in Aussicht zu nehmenden Entwicklung ein Schutzzoll für die deutsche Landwirtschaft nötig ist oder nicht.

Industrie und Handel sind der Meinung, daß diese Frage heute mit besonderem Ernste geprüft werden muß, da die Folgen ihrer Bejahung ungleich schwerer wiegen als in den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufstieges vor dem Kriege. Denn jeder echte Zoll hat notwendigerweise, wie sehr das Ausmaß der Steigerung auch von der Konjunktur abhängen mag, eine Steigerung des Inlandspreises gegenüber demjenigen Stande zur Folge, der sich bei Zollfreiheit ergäbe und in Ländern der Zollfreiheit tatsächlich ergibt. Eine solche Preiserhöhung aber für die notwendigsten Nahrungsmittel, für Brot und Mehl, die einen desto höheren Anteil am Ernährungs- und Lebenshaltungsaufwand des Einzelnen einnehmen, je tiefer das Einkommen ist, widerstreitet den besonderen Erfordernissen der gegenwärtigen Wirtschaftslage, da gegenwärtig es vor allem not tut, den Innenmarkt zu beleben, die Kaufkraft zu schonen, die Kapitalbildung auch im Kreise der mittleren und kleinen Einkommen zu ermöglichen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mit dem Auslande wiederherzustellen und zu stärken. Wir verkennen nicht, daß eine Aufbesserung der landwirtschaftlichen Preise zu einer verstärkten Kaufkraft der Landwirtschaft für Konsum- und Produktionsgüter, zu Kapitalbildung und Intensivierung führen kann und z. T. muß. Aber vorerst sind die bedenklichen Folgen einer Preiserhöhung wohl erheblich stärker als die günstigen. Zunächst ist zu besorgen, daß die Preiserhöhung für Getreide, Mehl und Brot und ihre sich fortpflanzenden Wirkungen starke Lohnforderungen auslösen werden. Ihnen durch eine allgemeine Lohnerhöhung zu entsprechen, wäre wirtschaftlich unmöglich. Eine Lebenshaltungsverteuerung aber, die innerhalb der gegenwärtigen Löhne, Gehälter und sonstigen Einkommen der nichtlandwirtschaftlichen Bevölkerung getragen werden müßte, würde – abgesehen von schweren sozialen Spannungen – wirtschaftlich die Kaufkraft für andere Erzeugnisse der heimischen Wirtschaft und die Sparkraft noch enger, als es jetzt schon der Fall ist, begrenzen und damit die gesamte Volkswirtschaft schwer treffen, mit ihr auch die Landwirtschaft, die den Zoll zu einem großen Teile in Form der Verteuerung ihrer Bedarfsgegenstände selbst tragen müßte. Noch bedenklicher als diese Folgen an sich sind, wären sie dann, wenn die durch den Zoll bewirkte Preiserhöhung im Hinblick auf den Weltmarktpreis gar nicht von Lebensnotwendigkeiten der Landwirtschaft gefordert sein würde – ein Fall, der bei der unsicheren Lage der Entwicklung als durchaus möglich, ja, wenn man den Urteilen der wissenschaftlichen Sachverständigen zustimmen will, als wahrscheinlich ins Auge zu fassen ist6. Bei dieser Lage liegt der Wunsch nahe, daß die Entscheidung über die Getreidezölle[347] überhaupt nicht jetzt erfolgen, sondern bis zu besserer Klarheit aufgeschoben werden möge, da es für diese an festen Grundlagen noch weit mehr fehlt als für die Entscheidung über irgendeine andere Zollfrage. So, wie nun einmal das Schicksal der Zollvorlage sich gestaltet hat, kommt aber wohl nur mehr eine Entscheidung im ganzen in Betracht. Wir verkennen hierbei nicht das Gewicht der Gründe, aus denen die Landwirtschaft, entgegen der Auffassung hervorragender, aufrichtig um die Landwirtschaft besorgter wissenschaftlicher Sachverständiger, sich nicht darauf verlassen will, daß der Weltmarktpreis auf einer der jetzigen ähnlichen und der Landwirtschaft im großen ganzen genügenden Höhe bleibt. Dazu kommt das Gewicht der handelspolitischen Gründe, die immerhin, auch wenn die großen Getreideländer, mit denen Deutschland früher Tarifverträge schloß, hierfür zunächst ausscheiden, für die Einsetzung eines Verhandlungszolles sprechen.

6

S. den Bericht des Zolltarifausschusses des Vorl. RWiR (RT-Drucks. Nr. 1136, Bd. 403 ), der in der Zeit vom 27. 5. bis zum 16. 6. unter Hinzuziehung zahlreicher Sachverständiger aus Landwirtschaft, Industrie und Wissenschaft über die Zollvorlage beraten hatte.

Doch glauben wir, darauf hinweisen zu sollen, daß es über die Möglichkeiten einigermaßen zuverlässiger Voraussicht hinauszugehen scheint, jetzt schon festzulegen, welcher Zoll in den nächsten Jahren als tatsächlich zur Erhebung kommender Mindestzoll notwendig ist. Die Gefahr, daß der Zollsatz sich als zu hoch gegriffen erweisen und über einen der deutschen Landwirtschaft genügenden Weltmarktpreis hinaus eine schädliche zusätzliche Preiserhöhung bringen kann, weckt im Hinblick auf die dargelegten schweren Folgen einer solchen Belastung ernste Bedenken, ob es richtig ist, den Getreidezoll jetzt schon auf einen Mindestsatz zu binden und für das Erntejahr 1926 als autonomen wie als Vertragssatz auf die Vorkriegshöhe festzusetzen7.

7

Die Zollvorlage der RReg. stellt bei den wichtigen Getreidearten die allgemeinen (autonomen) und die Vertragssätze (Mindestsätze) des Zollgesetzes von 1902 wieder her. Es sind demnach (ab 1.8.26) bei Roggen, Gerste und Hafer Zölle in Höhe von 7 (autonomer Satz) bzw. von 5 RM dz (Mindestsatz), bei Weizen in Höhe von 7,50 bzw. 5,50 RM dz vorgesehen. Während einer zehnmonatigen Zwischenzeit (1.10.25 – 31.7.26) sollen allerdings ermäßigte Zölle bei zahlreichen landwirtschaftlichen Produkten, insbes. bei Weizen (3,50 RM), Roggen (3 RM), Gerste (2 RM) und Hafer (3 RM) erhoben werden. Diese Übergangszölle sollen im genannten Zeitraum auch als Mindestzölle gelten.

Aus den gleichen Bedenken ist von Vertretern der Wissenschaft eine Anpassung des Zolles an den Weltmarktpreis in verschiedener Form vorgeschlagen worden, so als Bereitschaftszoll, der im Gesetz für den Fall bereitgestellt werden sollte, daß nach dem Urteil unabhängiger Sachverständiger bestimmte Voraussetzungen in den Preisverhältnissen eintreten, oder als beweglicher Zoll, der, zunächst in bestimmter Höhe festgesetzt, unter gewissen, ähnlich gearteten und in ähnlicher Weise festzusetzenden Voraussetzungen Abschläge mit dem Ziele erfahren solle, den Preis durch den Zoll nicht über eine gewisse Höhe steigen zu lassen. Dieser zweite Plan hat in den Kreisen des Handels rundweg Ablehnung gefunden; auch nach unserer Überzeugung würde eine solche Zollgestaltung, wenn schon das Studium der Frage für späterhin nicht von der Hand gewiesen werden soll, eine Unsicherheit in die deutsche Getreideversorgung bringen, die zum mindesten jetzt unerträglich wäre. Auch dem Bereitschaftszoll und ebenso dem sogenannten temporären Zoll stehen erhebliche Bedenken wirtschaftlicher Art, vor allem aber politischer Art entgegen, so daß wohl auch diese Möglichkeit einer Anpassung ausscheidet.

[348] Dann aber bleibt nur übrig, auf andere Weise vorzusorgen, daß der Zoll nicht über das notwendige Maß hinausgeht. Zunächst empfiehlt es sich unseres Erachtens, die Möglichkeit der handelsvertraglichen Ermäßigung der Zölle auch bei Getreide nicht auszuschließen. Wir verkennen nicht, daß hierdurch in der Landwirtschaft das Gefühl des Schutzes, das gerade bei ihr für die Produktionssteigerung von hoher Bedeutung ist, gemindert wird. Aber da von den großen Getreideausfuhrländern, mit denen Deutschland vor dem Kriege Handelsverträge mit Tarifabreden geschlossen hat, zunächst kaum eines hierfür in Betracht kommt, die verbliebenen großen Getreideausfuhrländer aber mit uns wohl auch für die nächste Zeit zu Tarifabreden nicht bereit sein werden, ist auch vom Standpunkt der Landwirtschaft die Gefahr, daß die Getreidezölle zu sehr angegriffen werden, wohl nicht groß.

Zudem darf die Landwirtschaft als sicher erwarten, daß Reichsregierung und Reichstag auch auf dem Wege eines Handelsvertrages nicht den Zoll unter das ihr notwendige Maß senken werden. Manches spricht im Gegenteil dafür, daß ein Zolltarif ohne Mindestzölle vom Standpunkt der Landwirtschaft bessere Verhandlungsunterlagen bietet als ein Zolltarif mit Mindestzöllen, die vom Gegner ohne weiteres und ohne besondere Gegenleistungen in Anspruch genommen werden.

Aus diesen Gründen wie aus grundsätzlichen handelspolitischen Erwägungen glauben wir, gegen die Festsetzung von Mindestzöllen wirtschaftliche Bedenken erheben zu sollen. Zum mindesten sollte diese grundsätzliche Frage der großen Zolltarifreform vorbehalten werden.

Aber auch dann, wenn Mindestzölle nicht festgesetzt werden, ist keineswegs sicher, daß auf dem Wege des Handelsvertrages und der Meistbegünstigung diejenigen Zollermäßigungen rechtzeitig eingeführt werden, die nach dem Weltmarktpreisstande jeweils – vielleicht auch nach dem Urteil der Regierung – angemessen erscheinen. Denn bei der gegenwärtigen handelspolitischen Lage besteht keine Gewähr dafür, daß die Reichsregierung rechtzeitig zum Abschluß solcher Verhandlungen kommen wird.

Es ergibt sich daher die Frage, ob in solchem Falle dem Bedürfnis der Zollsenkung auf autonomem Wege entsprochen werden kann. Hierfür eine Ermächtigung der Reichsregierung vorzusehen, wird voraussichtlich politischen Bedenken begegnen, in welcher Form man auch eine solche Ermächtigung ausgestalten mag. Dafür aber, daß eine allenfalls auch nach dem Urteil der Regierung notwendige autonome Zollermäßigung auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung erreicht werden kann, besteht nach manchen Erfahrungen keine volle Gewähr, und so ist immerhin mit der Gefahr zu rechnen, daß, wenn die Regierungsvorlage Gesetz werden sollte, ab 1. August 1926 ein autonomer Zollsatz von 7,– M gegenüber Nichtvertragsländern und ein Mindestzoll von 5,– M gegenüber Vertragsländern auch dann erhoben werden müßte, wenn dieser Zollsatz sich nach der bis dahin zu übersehenden Entwicklung als zu hoch erweise. Aus diesen Gründen ist bei uns eindringlich die Anschauung vertreten worden, daß in der Bemessung des Zollsatzes zunächst große Vorsicht walten, die vertragliche Ermäßigung offengehalten und eine Erhöhung für das Erntejahr[349] 1926 jedenfalls nicht auf den alten autonomen Satz von 7,– M und den alten Mindestzollsatz von 5,– M vorgesehen werden, sondern daß es hierfür bei niedrigeren Sätzen, sei es dem Zollsatz der Übergangszeit8, oder, um eine gewisse Verhandlungsspanne zu gewinnen, bei autonomen Sätzen in der Höhe der Vorkriegsvertragssätze verbleiben solle.

8

S. zuvor Anm. 7.

Die Notwendigkeit der Mehlzölle und der grundsätzlichen Wiedereinführung des Einfuhrscheinwesens unter Vorbehalt seiner Ausgestaltung im einzelnen9 wird auch von uns rückhaltlos anerkannt.

9

Betrifft § 3 Abs. 2 der Regierungsvorlage, der die Bestimmungen des Zollgesetzes von 1902 über die Erteilung von Einfuhrscheinen (§ 11) zwar aufhebt, die RReg. jedoch ermächtigt, mit Zustimmung des RR anzuordnen, „daß diese Vorschriften uneingeschränkt oder eingeschränkt oder mit Abänderungen wieder in Kraft treten.“

Wir bitten, hochverehrter Herr Reichskanzler, daß die Reichsregierung die hier erörterten Gedankengänge erneut würdigen und sich im Sinne unserer Darlegungen um Vermittlung und Ausgleich bemühen möge10. Wir erklären wiederholt, daß damit den Lebensbedürfnissen der Landwirtschaft nicht zu nahe getreten und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit ihr nicht beeinträchtigt werden soll, eine Zusammenarbeit, die wir jederzeit, nicht unter dem Zeichen des do ut des, sondern unter dem der gemeinsamen Verantwortung für die bestmögliche Erfüllung der Erfordernisse der gesamten Volkswirtschaft gerne pflegen und pflegen werden. Wir können deshalb auch nicht anerkennen, daß schon aus dem Grunde, weil Industriezölle in Vorkriegshöhe oder in erheblich gesteigerter Höhe erhoben werden und neue Erhöhungen vorgesehen sind, der Landwirtschaft erhöhte Zölle zugebilligt werden müßten. Parität bedeutet unseres Erachtens in dieser Frage nicht eine gleiche oder annähernd gleiche Erhöhung der Zollsätze, sondern bedeutet eine gleichmäßig sorgliche Erfassung der Lebensbedürfnisse der einzelnen Wirtschaftszweige. Hierfür aber kommt es nicht auf den Zollsatz an sich und noch weniger auf das Verhältnis des neuen Zollsatzes zum alten an, sondern darauf, in welchem Umfange der einzelne Wirtschaftszweig nach den tatsächlichen Gestehungskosten und Wettbewerbsverhältnissen eines Zollschutzes bedarf oder nicht.

10

Vgl. die Beschlüsse der Parteiführerbesprechung vom 20. 7. (Dok. Nr. 130).

Wir glauben, uns heute auf diese allgemeinen Gesichtspunkte beschränken zu sollen. Wir danken der Reichsregierung, insbesondere Ihnen, hochverehrter Herr Reichskanzler, für die Entschluß- und Tatfreudigkeit, mit der Sie die einheitliche Lösung der großen wirtschaftlichen Fragen in Angriff genommen haben. Wir stimmen mit der Reichsregierung darin überein, daß diese Lösung auf dem handels- und zollpolitischen Gebiete nur eine vorläufige Lösung sein kann, und halten, wohl in Übereinstimmung mit der Reichsregierung, es für geboten, daß die Arbeiten am endgültigen Zolltarif so sehr als irgend möglich beschleunigt und nach der Sommerpause alsbald wieder aufgenommen werden, um nach dieser Übergangszeit zu einer auf längere Zeit bestimmten Lösung zu kommen, von der wir hoffen, daß sie auf einem festeren Boden der deutschen Wirtschaft und unter einem günstigeren Stern der wirtschaftlichen Wiederannäherung der großen Handelsvölker stehen möge.

[350] Wir werden uns bemühen, für die Vorbereitung dieser großen Reform im Benehmen mit den Spitzenverbänden von Industrie und Handel geeignete Sachverständige zu benennen, die zu einer richtigen Gestaltung des Tarifs ebensowohl durch sachkundiges Urteil über die Verhältnisse des einzelnen Wirtschaftszweiges wie durch Einstellung auf eine zutreffende gesamtwirtschaftliche Beurteilung Nützliches beitragen können. Wir glauben, die Reichsregierung bitten zu dürfen, daß sie uns zur Mitarbeit an der Vorbereitung der Reform und der Durcharbeitung der einzelnen Fragen möglichst frühzeitig Gelegenheit gibt11.

11

Zu einer derartigen Zusammenarbeit zwischen RReg. und den Wirtschaftsverbänden kommt es während der Amtszeit des Kabinetts Luther nicht mehr. Die Vorarbeiten zur Neuregelung der Zolltarife beginnen erst in der Zeit des 4. Kabinetts Marx, das am 2.7.27 den „Entwurf eines Gesetzes über Zolländerungen“ im RT einbringt (RT-Drucks. Nr. 3513, Bd. 416 ). Die Verkündung dieses Gesetzes erfolgt am 15.7.27 (RGBl. I, S. 180 ).

Abdruck dieses Schreibens geht unmittelbar dem Herrn Reichswirtschaftsminister, dem Herrn Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, dem Herrn Reichsfinanzminister, dem Herrn Reichsarbeitsminister, sowie dem Büro des Herrn Reichspräsidenten zu.

Der Präsident

Franz v. Mendelssohn

Das erste geschäftsführende

Präsidialmitglied

Hamm

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