2.113 (lut1p): Nr. 113 Das Auswärtige Amt an Staatssekretär Kempner. 26. Juni 1925

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[385] Nr. 113
Das Auswärtige Amt an Staatssekretär Kempner. 26. Juni 1925

R 43 I /1050 , Bl. 193 f.

[Tarifarische Bindungen der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft durch Handels- und ähnliche Verträge]

Die Deutsche Delegation für die Handelsvertragsverhandlungen mit Italien hat bekanntlich unter Zustimmung der Vertreter des Reichsverkehrsministeriums und der Deutschen Reichsbahngesellschaft die italienische Forderung, die auf eine Bindung der deutschen Eisenbahntarifpolitik hinauslief, abgelehnt1. Das italienische Außenministerium hat darauf der Botschaft in Rom durch Verbalnote vom 8. Mai d. Js. vorgeschlagen, bis zum Abschluß des Handelsvertrages die Eisenbahntariffragen durch besondere Vereinbarungen zu regeln. In dieser Verbalnote findet sich die Bemerkung, daß die Neuorganisation der deutschen Eisenbahnen erfolgt sei, „ohne daß dadurch die hier auf Grund der bestehenden Verträge schon in Kraft befindlichen Verpflichtungen berührt werden.“ Diese Bemerkung kann nach Auffassung des Auswärtigen Amts wie auch der Deutschen Reichsbahngesellschaft nur bedeuten, daß Italien unter Umständen auf die Bestimmungen des Friedensvertrages2 zurückzugreifen beabsichtigt, um seine Wünsche auf eisenbahntarifarischem Gebiet durchzusetzen. Die von der Italienischen Regierung gewünschten Verhandlungen über eine provisorische Regelung sind von hier aus abgelehnt worden; auf die Mitteilung dieser ablehnenden Stellungnahme durch die Botschaft in Rom hat das italienische Außenministerium bemerkt, die Reichsbahngesellschaft greife ihrerseits dadurch angeblich in das Hinterland Triests ein, daß sie bei der Österreichischen Regierung Schritte getan habe, um den Vorsprung, der sich für Italien aus den Adriatarifen ergebe, zu verringern. Die Italienische Regierung müsse den größten Wert darauf legen, daß bis zu den Eisenbahntarifverhandlungen die gegenwärtige Situation nicht durch deutsche Maßnahmen zu Ungunsten Italiens verschlechtert werde.

1

S. dazu die Kabinettsvorlage des RVM vom 4. 5. (Dok. Nr. 81).

2

S. Art. 321–326 VV.

Die Reichsbahngesellschaft, der diese Vorgänge mitgeteilt worden sind, hat sich dazu in den abschriftlich beigefügten beiden Schreiben eingehend geäußert3. Ohne auf die materielle Seite der Frage hier näher einzugehen, möchte ich vom Standpunkt der auswärtigen Politik zu der ganzen Frage und zu den einzelnen Ausführungen der Reichsbahngesellschaft grundsätzlich folgendes bemerken:

3

Die in R 43 I /1050 , Bl. 195-200 beiliegenden Schreiben sind beide datiert vom 28. 5.

Das Kabinett hat bekanntlich kürzlich davon abgesehen, zu der grundsätzlichen Frage Stellung zu nehmen, ob die Reichsregierung überhaupt in der Lage sei, die Deutsche Reichsbahngesellschaft durch Staatsverträge, insbesondere durch Handelsverträge, bezüglich ihrer Tarifgestaltung und Tarifpolitik zu binden4. Es kann zugegeben werden, daß im gegenwärtigen Zeitpunkt kein aktueller[386] Anlaß vorliegt, diese Frage endgültig zu entscheiden. Immerhin erscheint es mir notwendig, gegenüber den Ausführungen der Reichsbahngesellschaft mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß der Standpunkt der Reichsbahngesellschaft, die sich selbst nur noch als „selbständiges Reparationsinstrument und -organ“ aufgefaßt wissen will, zu den bedenklichsten außenpolitischen Konsequenzen führen muß. Die bei der Eisenbahn schon früher herrschende Übung, bei Vereinbarungen mit fremden Eisenbahnverwaltungen die politische Leitung möglichst auszuschalten, konnte so lange von dem zuständigen Ressort für auswärtige Politik hingenommen werden, als die Eingliederung der Verkehrs-, insbesondere der Eisenbahn-Verwaltung in den staatlichen Regierungsorganismus eine Gewähr dafür bot, daß die betreffenden Abmachungen sich im Rahmen der allgemeinen Außenpolitik halten würden. Ganz anders ist dagegen die Situation, wenn die Reichsbahngesellschaft auf Grund des Reichsbahngesetzes5 glaubt, losgelöst von der allgemein politischen und speziell von der außenpolitischen Leitung ihrer Tarifgestaltung ausschließlich nach eigenen Bedürfnissen und Wünschen vornehmen zu können. Wenn es für die wirtschaftspolitische und politische Bedeutung eisenbahntarifarischer Abmachungen noch eines Beweises bedürfte, so wäre dieser durch den bisherigen Verlauf der Verhandlungen mit Italien über Eisenbahnfragen erbracht. Die Tatsache, daß das italienische Außenministerium dieser Frage besondere Aufmerksamkeit zuwendet und auch einen gewissen diplomatisch-politischen Druck hier auszuüben versucht, illustriert die Sachlage zur Genüge. Wenn die Reichsbahngesellschaft dem Auswärtigen Amt empfiehlt, es möge sich „auf Grund der neuen durch die Daweskonstruktion gegebenen Rechtslage zum Eingriff in Tarifverhandlungen nicht für ermächtigt erklären“, so zeigt diese Anregung lediglich, daß die Reichsbahn die für sie vielleicht unbequemen, aber nun einmal gegebenen Zusammenhänge ihrer Tarifpolitik mit den wirtschaftspolitischen und auch allgemein politischen Fragen einfach verneinen will.

4

In der Kabinettssitzung vom 27. 5. (Dok. Nr. 94, P. 5).

5

Reichsbahngesetz vom 30.8.24, s. RGBl. II, S. 272 .

Ich lasse dahingestellt, ob diese Politik der bloßen Negation im Interesse der Reichsbahngesellschaft selbst liegt; sie ist jedenfalls nicht vereinbar mit den Erfordernissen der auswärtigen Politik. Alle Staaten haben von jeher die Fragen des internationalen Eisenbahnverkehrs als wichtige wirtschaftspolitische und politische Fragen und damit als integrierenden Bestandteil ihrer auswärtigen Politik aufgefaßt. Wenn der Reichsregierung bezüglich der Verfügung über die Reichsbahnen durch das Dawesabkommen auch Schranken gezogen sind, so kann vom Standpunkt der auswärtigen Politik unmöglich gegenüber fremden Staaten die Auffassung vertreten werden, daß das Reich auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens sozusagen abgedankt habe. Es scheint mir gerade im nationalen Interesse zu liegen, nach Möglichkeit die Stellung der Reichsregierung gegenüber der Reichsbahngesellschaft, insbesondere im Verkehr mit dritten Staaten, zu stärken und nicht, wie das der Reichsbahngesellschaft vorzuschweben scheint, noch mehr, als dies schon der Fall ist, zu schwächen. Ich darf in diesem Zusammenhang ganz besonders auf die Schlußbemerkung der Reichsbahngesellschaft[387] in ihrem Schreiben vom 28. Mai verweisen, wo die Frage aufgeworfen wird, „wie weit überhaupt das Deutsche Reich noch berechtigt und verpflichtet ist, die Deutsche Reichsbahngesellschaft zur Einhaltung eventueller Rechtspflichten aus dem Friedensvertrage anzuhalten.“ Ich kann diese Frage nur dahin auffassen, daß die Reichsbahngesellschaft sich gewissermaßen hinsichtlich der deutschen Gesetzgebung, zu der ja auch der Friedensvertrag zählt, als exlex betrachtet; mit anderen Worten: was für die Reichsregierung wie für jeden deutschen Staatsangehörigen gilt, soll für die Reichsbahngesellschaft, für die nur das Reichsbahngesetz maßgebend sein soll, nicht bindend sein. Diese Konsequenz ist derart unmöglich, daß ich Bedenken tragen würde, der Deutschen Reichsbahngesellschaft solche Gedankengänge zu unterstellen, wenn nicht der Wortlaut der oben angeführten Stelle in dem Schreiben der Reichsbahngesellschaft schlechterdings zu dieser Auslegung zwingen würde.

Ich habe es für notwendig erachtet, schon jetzt den grundsätzlichen Standpunkt des Auswärtigen Amtes der Auffassung der Deutschen Reichsbahngesellschaft entgegenzustellen, selbst wenn das Kabinett ein Bedürfnis für eine sachliche Stellungnahme in der ganzen Frage auch weiterhin nicht als vorliegend erachten sollte. Eine Erörterung der Frage mit der Reichsbahngesellschaft halte ich zur Zeit nicht für angezeigt6.

6

Die Angelegenheit während der Amtszeit Luthers nicht wieder im Kabinett behandelt. Zur Rechtsfrage nimmt das RJMin., von der Rkei mit Schreiben vom 20. 7. um gutachtliche Äußerung gebeten, am 5. 8. wie folgt Stellung: „Nach § 33 Abs. 1 des Reichsbahngesetzes hat die Reichsbahngesellschaft die in Staatsverträgen enthaltenen Bestimmungen über Tarife einzuhalten. Für die Auffassung der Gesellschaft, daß unter Staatsverträgen hier nur die eisenbahntariflichen Verträge zwischen dem Reich und den Ländern zu verstehen sind, fehlt es an jeder Grundlage. […] Nach dem die tarifrechtliche Regelung des Gesetzes beherrschenden Grundsatz des § 34 ist die Aufsicht über die Tarife aber so auszuüben, daß die Gesellschaft dadurch nicht gehindert wird, die zur Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen [insbes. der Reparationsleistungen] erforderlichen Einnahmen zu erzielen. […] Die Reichsregierung wird daher, wenn auch ihr Recht zum Abschluß von Handelsverträgen durch das Reichsbahngesetz formell nicht beschränkt ist, tarifarische Bindungen gegenüber ausländischen Staaten zweckmäßigerweise nur mit Zustimmung der Reichsbahngesellschaft eingehen.“ (R 43 I /1050 , Bl. 202 f.).

Dieser Auffassung wird bei den Verhandlungen über den dt.-ital. Handels- und Schiffahrtsvertrag, die am 31.10.25 zum Abschluß gelangen (RGBl. II, S. 1020 ), bereits in der Weise Rechnung getragen, daß spezielle Vereinbarungen über Eisenbahnbeförderungstarife nicht in den Vertrag aufgenommen werden. Die Vertragspartner erklären dazu in besonderem Protokoll vom 31. 10. (s. RT-Drucks. Nr. 1485, Bd. 405 ), alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen zu wollen, damit zwischen den beiderseitigen Eisenbahnverwaltungen Tarifvereinbarungen über den gegenseitigen und durchgehenden Eisenbahnverkehr getroffen werden können.

Abschrift dieses Schreibens geht sämtlichen Reichsministerien zu.

In Vertretung

Schubert

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