2.120 (lut1p): Nr. 120 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichsminister des Auswärtigen. 11. Juli 1925

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Nr. 120
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichsminister des Auswärtigen. 11. Juli 1925

R 43 I /424 , Bl. 408-414 Umdruck

Betr. Sicherheitspakt und Rheinlandfragen.

Die mit dem Sicherheitspakt zusammenhängenden Fragen sind in erster Linie Fragen der auswärtigen Politik und gehören deshalb dem Auswärtigen Amt an. Ohne dies irgendwie verkennen zu wollen, möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben, die die von den Sicherheitsverhandlungen berührten Rheinlandfragen betreffen. Ich fühle mich hierzu verpflichtet, weil die rheinische Bevölkerung gerade auch von meinem Ministerium erwartet, daß es im Schoße des Reichskabinetts den Hoffnungen und Befürchtungen des besetzten Gebiets Ausdruck gibt.

In der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags am 1. d. M. hat besonders der Zentrumsabgeordnete Dr. Kaas nachdrückliche Bemühungen um Besserung der Lage des besetzten Gebiets in Verbindung mit den Sicherheitsverhandlungen verlangt. Im gleichen Sinne ist die deutsche öffentliche Meinung eingestellt. Ich darf dabei auch auf die am 3. d. M. veröffentlichten Richtlinien der Deutschen Volkspartei für die deutsche Antwort in der Sicherheitsfrage hinweisen1. Die Antwort von Briand2 versucht unter Ziffer III aus dem Schweigen des deutschen Sicherheits-Memorandums über die Rheinlandfragen eine deutsche Zustimmung dazu zu konstruieren, daß der abzuschließende Sicherheitspakt „weder die Bestimmungen des Versailler Vertrags über die Besetzung der rheinischen Gebiete, noch die Erfüllung der in dieser Hinsicht im Rheinlandabkommen3 festgesetzten Bedingungen berühren darf“.[418] Diese Ausführungen Briands bieten die Möglichkeit, bei der deutschen Antwort die Rheinlandfragen anzuschneiden und dabei nicht bloß der französischen Auslegung des deutschen Memorandums entgegenzutreten, sondern geradezu deutsche Forderungen auf diesem Gebiete anzukündigen und erkennen zu lassen, daß ein Sicherheitspakt an den Rheinlandfragen nicht vorübergehen kann. Ins einzelne gehende Forderungen werden naturgemäß erst in den Sicherheitsverhandlungen selbst geltend gemacht werden können. Die Berührung des Problems in der deutschen Antwort erscheint mir aber angesichts der von Briand in seiner Note beliebten Konstruktion nunmehr unumgänglich notwendig. Ein weiteres Schweigen würde mit Recht als deutsche Zustimmung zur Ausschaltung der Besatzungsfragen aus dem Sicherheitskomplex ausgelegt werden. Hierdurch würde die spätere Behandlung dieser Fragen unzweifelhaft erschwert.

1

Im Interesse einer Generalbereinigung der Besatzungsfragen, die unmittelbar nach Lösung der Sicherheitsfrage in Angriff zu nehmen sei, hatte die DVP in ihren Richtlinien (s. auch Anm. 18 zu Dok. Nr. 116) gefordert: Alsbaldige Beseitigung des Delegierten-Systems, Unterstellung aller Streitigkeiten aus dem VV (insbes. über das Rheinlandabkommen) unter ein Schiedsverfahren, Ablehnung jeder Wiederaufnahme früherer Sanktionen (nach „Germania“ vom 3. 7., Ausschnitt in: BA-ZSg 103/702).

2

Frz. Note an die RReg. vom 16. 6. S. Anm. 3 zu Dok. Nr. 110.

3

„Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, Belgien, dem britischen Reiche und Frankreich einerseits und Deutschland andererseits, betreffend die militärische Besetzung der Rheinlande.“ Das am 28.6.19 unterzeichnete Abkommen bestimmt (Art. 2) u. a. die Einsetzung eines „Interalliierten Hohen Ausschusses für die Rheinlande“ („Rheinlandkommission“), bestehend aus je einem Vertreter der vier Besatzungsmächte. S. RGBl. 1919, S. 1337 .

In meinem Schreiben vom 26. Mai d. J. – Nr. I 2/790 –, von dem ich 5 Abschriften beifüge, habe ich als notwendigen Teil der Sicherheits- und Völkerbundsverhandlungen eine Generalbereinigung der Besatzungsfragen verlangt. Die Veredelung des Besetzungssystems müßte, wie ich dort ausgeführt habe, wenn es nicht gelingt, die Besetzung durch andere Bürgschaften überhaupt zu verdrängen, mindestens durch vertragliche Herabsetzung der Besatzungsstärke erfolgen4, durch Entfernung der farbigen Truppen, durch Austilgung des von der Rheinlandkommission organisierten Durchdringungs- und Bedrückungssystems, durch Wiederherstellung des im April 1923 vertriebenen Reichskommissariats5 bei der Rheinlandkommission und durch Einschaltung einer Schiedsinstanz gegenüber dieser Kommission. Ich darf auf diese Ausführungen Bezug nehmen und heute noch erweiternd und ergänzend folgendes ausführen.

4

Hierzu Frenken in seinem oben erwähnten Schreiben an das AA vom 26. 5.: „In Versailles war zugesagt worden, daß die deutsche Friedensgarnisonsstärke des besetzten Gebietes – rund 70 000 Mann – nur leicht überschritten werden würde. Nach Räumung der Kölner Zone würde demgemäß eine Besatzungsstärke von rund 50 000 Mann durchaus genügen.“ (R 43 I /424 , Bl. 415-417).

5

Nachdem im Herbst 1924 Bemühungen des AA um Wiederzulassung des Reichskommissariats ergebnislos verlaufen waren (s. diese Edition: Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 376, P. 3), hatte der RVM mit Schreiben an die Rkei vom 12.1.25 die Bestellung des OPräs. der Rheinprovinz zum „innerdeutschen“ RKom. angeregt. Darüber hinaus müßten Vertretungen der Länder in Koblenz eingerichtet werden, die ihre Tätigkeit in enger Fühlung mit dem OPräs. auszuüben hätten. Dagegen wandte sich das AA (Vermerk Grävells vom 23. 1.) und am 30. 3. der RWeM mit Schreiben an das AA, worin es heißt: Die Dringlichkeit dieser Frage mache es erforderlich, „schärfere Mittel anzuwenden, um den in der Hauptsache französischen Widerstand zu überwinden. Die Interalliierte Rheinlandkommission ist zweifellos auf die Mitwirkung der deutschen Behörden angewiesen. Wenn bisher die Tätigkeit der Landesbehörden usw. ihr das Fehlen der Vertretung der Reichsregierung nicht genügend fühlbar machte, so muß sich doch durch entsprechende bindende Richtlinien der Reichsregierung, auch ohne daß den Lokalbehörden der Vorwurf des passiven Widerstandes gemacht werden kann oder die Bevölkerung im einzelnen darunter leidet, erreichen lassen, daß die Interalliierte Rheinlandkommission das Fehlen einer Reichsvertretung selbst als störend empfindet und in dieser Hinsicht zugänglicher wird.“ (R 43 I /194 , Bl. 32-34, 35, 139 f.).

[419] A. Gestaltung des Sicherheitspakts und Modalitäten des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund.

Sicherheit bedeutet für Deutschland vor allem Sicherheit des vertragsmäßig besetzten Gebietes und des deutschen Gebiets überhaupt vor widerrechtlicher Besetzung, vor widerrechtlicher Verlängerung der Besetzung und vor widerrechtlicher Wiederbesetezung. Die Gestaltung des Sicherheitspakts und die Modalitäten der Zulassung Deutschlands in den Völkerbund werden für diese Punkte ausschlaggebend sein. Die Note von Briand hat unter Ziffer IV und V die Gefahren erkennen lassen, die drohen. Die Note behält unter Ziffer IV das Recht Frankreichs zu militärischen Sanktionen vor, also zu Besetzungen über den räumlichen und zeitlichen Rahmen des Versailler Vertrages hinaus in einseitig-französischer Auslegung der Art. 429 und 430 oder der Anlage II §§ 17, 18 zum VIII. Reparationsteil des Versailler Vertrages oder auch allgemeiner Völkerrechtsnormen. Vorgänge nach der Art der Besetzung von Frankfurt-Hanau vom Frühjahr 1920, von Düsseldorf-Duisburg vom Frühjahr 1921 und des Ruhrgebiets vom Januar 1923 könnten sich danach in Zukunft ebenso wiederholen wie die Vorenthaltung der Räumung einer Besatzungszone. Soweit die Anwendung der Anlage II §§ 17, 18 zum Reparationsteil des Versailler Vertrages in Frage kommt, hat allerdings das Londoner Abkommen zwischen den alliierten Regierungen vom 30. August 1924 (Anlage IV des Schlußprotokolls der Londoner Konferenz, R.G.Bl. 1924, Teil II. S. 349) Hemmungen eingeschaltet. Aber die französische Sanktionsthese wurde nicht verworfen, vielmehr in Art. 5 des genannten Abkommens vorbehalten; Deutschland selbst ist an diesem Abkommen übrigens nicht als Partner beteiligt. Zu diesen von Frankreich schon bisher stets in Anspruch genommenen und teilweise auch verwirklichten Sanktionsmöglichkeiten sollen der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund in Auswirkung der Völkerbundssatzung (Art. 16) sowie die Schiedsverträge mit Belgien, Polen und der Tschechoslowakei in Verbindung mit der französischen Garantie für diese Verträge Frankreich neue Möglichkeiten des militärischen Erscheinens auf deutschem Boden eröffnen. Das Rheingebiet wäre in jedem Falle der Verwirklichung dieser französischen Absichten in erster Linie der leidtragende Teil. Die säkularen Ziele Frankreichs gegenüber Deutschland, d. h. Errichtung der französischen Vormachtstellung auf dem Rücken eines zerrissenen oder mindestens ohnmächtigen Deutschlands, sind noch nicht aufgegeben; die Hauptmethode dazu, die Beherrschung des Rheines, ebensowenig. Diese Bestrebungen haben in Frankreich unter jeder der vielen Regierungsformen, die dieses Land gesehen hat, machtvolle Vertreter gefunden, denen das Volk zujubelte. Ein deutsch-französischer Sicherheitspakt verdient diesen Namen nicht, wenn er diesen Gefahren nicht entgegentritt und sie ausschließt. Da ein Sicherheitspakt zwischen zwei so lange und so schwer verfeindet gewesenen Völkern wie Deutschland und Frankreich einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet, muß auch bei der Verschließung künftiger Konfliktsquellen die Radikalmethode angewandt werden. Die Vorbehalte Briands müssen fallen, der Versailler Vertrag und das Rheinlandabkommen müssen in allen Teilen unter Schiedsvertrag gestellt werden, wobei auch die Anwendung von Sanktionen, Repressalien und Zwangsmaßnahmen jeder Art auf Grund allgemeiner[420] Völkerrechtsnormen einzubeziehen ist. Ohne den Einbau eines lückenlosen Systems von Schiedsinstanzen in die deutsch-französischen Beziehungen läuft das Rheingebiet immer Gefahr, wieder Schauplatz der französischen Aktionen zu sein, und solche Aktionen, aus welchen Gründen und mit welchen unmittelbaren Zielen sie auch erfolgen, beleben die alten französischen Instinkte, die die Herrschaft am Rhein fordern, aufs neue.

Bezüglich des Art. 16 der Völkerbundssatzung glaube ich, hier keine Ausführungen machen zu müssen, da die Ausschaltung des Durchmarschrechtes fremder Truppen durch Deutschland und der andern aus Art. 16 drohenden Gefahren ohnedies zu den Forderungen der Reichsregierung gehört6.

6

Zu den dt. Vorbehalten gegenüber Art. 16, die von der RReg. mit Note an den Generalsekretär des Völkerbundes vom 12.12.24 und mit Memorandum an D'Abernon vom 25.2.25 geltend gemacht worden waren, s. Anm. 1 und 2 zu Dok. Nr. 43.

Die Regelung der Investigationen nach Art. 213 des Versailler Vertrages7 muß gleichfalls klargestellt werden. Dauerkontrolle mit oder ohne Anwesenheit ständiger Besatzungselemente kennt der Versailler Vertrag für die entmilitarisierte Zone nicht. Poincaré selbst hat dies anerkannt in dem Briefe vom 28. April 1919, den er nach Einsichtnahme in den schließlich unverändert gebliebenen Text des Friedensvertragsentwurfs als Präsident der französischen Republik an den damaligen Ministerpräsidenten Clemenceau gerichtet hat. Gerade wegen des Fehlens einer Dauerkontrolle im Rheingebiet hat Poincaré in dem Brief, den das französische Sicherheitsgelbbuch unter Nr. 8 veröffentlichte, die Ausdehnung der Besetzungszeit auf mindestens 30 Jahre verlangt8. Deutschland befindet sich also durchaus in Übereinstimmung mit den Verfassern des Art. 213 des Versailler Vertrages, wenn es die Dauerkontrolle für die entmilitarisierte Zone in jeder Form ablehnt. Die Regelung der Frage im Sicherheitspakte ist trotzdem notwendig, da sonst nach dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund Überraschungen möglich wären, weil ja der Völkerbundsrat in dieser Angelegenheit mit Mehrheit beschließen, Deutschland also überstimmen kann.

7

S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 50.

8

Der Brief Poincarés ist gedr. in: Die Französischen Dokumente zur Sicherheitsfrage 1919–1923. Amtliches Gelbbuch des Französischen Ministeriums der Auswärtigen Angelegenheiten, S. 40 ff.

B. Verbesserung der Lage des besetzten Gebietes und des Saargebietes.

I. Verbesserung der Lage des besetzten Gebietes.

Im Auswärtigen Ausschuß des Reichstags wurde in der Sitzung vom 1. d. M. die Frage der Gegenleistungen Frankreichs für die deutsche Anerkennung der Westgrenze aufgeworfen. Die öffentliche Meinung Deutschlands erwartet diese Gegenleistungen vor allem in den Besatzungsfragen. Es mehren sich die Stimmen, die einen der Verständigungspolitik angemessenen Ersatz der Besetzung durch wirtschaftlich finanzielle Bürgschaften fordern, sei es sofort, sei es wenigstens in einigen Jahren. Eine Abkürzung der unerhört langen Besetzungsfrist von 15 Jahren auf beispielsweise 10 Jahre wäre zweifellos ein guter Fundamentstein für den Sicherheitspakt. Falls aber an der vertragsmäßigen Besetzung[421] selbst nichts zu ändern sein sollte, wären wenigstens Ausmaß und Art der Besetzung unbedingt zu mildern.

Die Herabsetzung der Besatzung würde unter der Voraussetzung, daß nicht neue große Standorte geschaffen werden, es ermöglichen, ohne wesentliche weitere Neubauten auszukommen. Die Quartierlast der Bevölkerung und die Inanspruchnahme von Schulen und anderen gemeinnützigen Anstalten für die Unterbringung der Besatzung würden im wesentlichen ausgeschaltet werden können. Die Entfernung der Farbigen würde Deutschland ersparen, immer wieder an die öffentliche Weltmeinung appellieren zu müssen, wenn die Sittlichkeitsverbrechen der Farbigen das deutsche Volk, wie so oft, in Erregung versetzen.

Ebenso notwendig erscheint eine radikale Umgestaltung der Art der Besetzung durch eine endgültige Austilgung des Durchdringungs- und Bedrückungssystems, das die Rheinlandkommission in den 5 Jahren ihrer Tätigkeit planmäßig ausgebaut hat. Die Rheinlandkommission hat dabei bis zu dem Sturze Poincarés im Mai 1924 zugleich offen das Ziel verfolgt, die Zugehörigkeit des Rheingebiets zum Reiche zu lockern und den Boden für den Rheinstaat von Frankreichs Gnaden zu ebnen. Im letzten halben Jahr der Ministerpräsidentenschaft Poincarés hat sie zudem den separatistischen Hochverrat, den sie im Lande eingeführt und immer am Leben erhalten hatte, mit Waffenhilfe zum Siege führen und Deutschland zertrümmern wollen. Die Sicherheit Deutschlands verlangt, daß die Besetzung auf die Linie zurückgebracht werde, die der Versailler Vertrag und das Rheinlandabkommen bei objektiver Auslegung selbst bezeichnen, d. h. auf die einfache Truppenanwesenheit zu Garantiezwecken. Lediglich die Anwesenheit der Truppen soll nach diesem Vertrage als Druck auf Deutschland wirken, daß es den Vertrag erfülle. Dagegen räumen die Verträge, von der Zeit des Belagerungszustandes abgesehen, der Besatzung keinerlei Kontrolle über die deutsche Verwaltung oder Bevölkerung ein. Reichsbankpräsident Dr. Schacht hat in seiner Rede auf der Tagung des „Reichsverbandes der deutschen Industrie“ in Köln am 25. Juni d. J. nachdrücklich die Freiheit von jeder Kontrolle im Interesse der Erfüllung des Dawes-Planes erneut verlangt9.

9

S. die ausführliche Zusammenfassung der Rede Schachts in: Schultheß 1925, S. 122 ff.

In die Praxis umgesetzt bedeutet die Liquidierung des Durchdringungs- und Bedrückungssystems der Rheinlandkommission die völlige Beseitung des Delegiertenapparates und die radikale Revision des Ordonnanzensystems.

Der Delegiertenapparat der Rheinlandkommission besteht bekanntlich darin, daß sie den deutschen Verwaltungsbehörden jeder Stufe (Landrat, Regierungspräsident, Oberpräsident) als eine Art Kontrollposten eine Delegation beigegeben hat (Kreisdelegierte, Oberdelegierte). Diese Einrichtung der Delegierten ist sowohl dem Versailler Vertrag wie dem Rheinlandabkommen unbekannt. Sie wurde auf Betreiben Frankreichs geschaffen, um die während des Waffenstillstands unter Kriegsrecht eingerichtete Verwaltungskontrolle der Besatzung unter anderem Namen und mit einigen Modifikationen weiterbestehen zu lassen. Deutschland hat die Zulässigkeit dieses Delegiertenapparates[422] immer bestritten. Die Rheinlandkommission versuchte die Einrichtung damit zu rechtfertigen, daß sie als Zivilbehörde eigene Organe brauche, um mit örtlichen Stellen in Verbindung zu treten. Es ist aber klar, daß diese Aufgabe ebensogut in jeder Garnisonstadt durch einen Verbindungsoffizier der Garnison nebenher erfüllt werden kann. Dies gilt umsomehr, als die Rheinlandkommission selbst überwiegend Offiziere als Delegierte verwandte. Die wahre Rolle der Delegierten ist in der nun fünfjährigen Friedensbesetzung mit aller Klarheit zutage getreten. Sie sind die Organe der Durchdringung und der Bedrückung, die die Rheinlandkommission selbst organisierte. Ohne sie wäre die systematische Knebelung der Presse, der Vereine und Versammlungen, die Überwachung der deutschen Führer, die Überwachung der deutschen Beamten, die wir in den verflossenen 5 Jahren im größten Ausmaße erlebt haben, nicht möglich gewesen. Sie lieferten die Unterlagen für die Massenausweisungen während des Ruhrkampfes, die ohnegleichen in der modernen Geschichte sind. Ich verkenne nicht, daß Verbindungsoffiziere der Besatzungstruppen selbst sich naturgemäß in der gleichen Richtung betätigen könnten wie die Delegierten. Die Rheinlandkommission wäre aber dann in der Ausführung ihres Durchdringungs- und Bedrückungssystems gehemmt, da sie bei ihren Instruktionen ein Einvernehmen mit der Armee herstellen müßte. Dadurch würde zum mindesten zeitlich ein retardierendes Moment in die Tätigkeit der Rheinlandkommission eingefügt, was zweifellos schon ein Vorteil wäre. Jedenfalls sind wir berechtigt, beim Abschluß eines Sicherheitspaktes zu verlangen, daß ein Apparat beseitigt werde, der in der Vergangeneheit dazu diente, Deutschlands Besitzstand am Rhein zu unterminieren und für dessen Fortbestand keinerlei Rechts- oder objektive Zweckmäßigkeitsgründe sprechen.

Das Ordonnanzensystem der Rheinlandkommission ist auf eine geradezu unübersehbare Fülle von Artikeln angeschwollen. Nach dem Rheinlandabkommen sind lediglich Ordonnanzen zulässig, die sich als notwendig erweisen, um die Sicherheit, die Bedürfnisse und den Unterhalt der Besatzungstruppen zu gewährleisten. Eine waffenstarrende Besatzung hat den stärksten Schutz in sich selbst. Die Militärjustiz, der eine Militärpolizei zur Verfügung steht, ermöglicht ihr die Verfolgung und strenge Bestrafung aller Delikte, die sich gegen die Besatzung richten. Die Härte dieser Justiz sowohl in den Strafen wie in der ganzen Handhabung der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung ist unerträglich. Auch hier muß radikaler Wandel geschaffen werden, wenn ein Sicherheitspakt haltbar bleiben soll. Dabei stelle ich zur Erwägung, ob nicht anläßlich eines Sicherheitspaktes von der Besatzung eine umfassende Amnestie verlangt werden soll.

Trotz der günstigen Lage, in der sich die Besatzung in bezug auf ihre Sicherheit befindet, hat die Rheinlandkommission den Verträgen zuwider ein engmaschiges Ordonnanzensystem voll absolutistischen Polizeigeistes geschaffen, als ob sie eine zweite Regierung im Lande wäre, die niemand Rechenschaft schuldet. Die Presse, das Vereins- und Versammlungswesen, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung und der Behörden wurden durch dieses System derart eingeengt, daß von einem wirklichen Bedrückungssystem gesprochen werden muß.

[423] Gewiß sind im Verfolg des Londoner Abkommens vom August v. J. einige Spitzen abgeschliffen worden. Ich habe in meinem Schreiben vom 30. März 1925 – I 4/82110 – die Punkte im einzelnen angeführt, die heute noch den Bestimmungen des Londoner Abkommens und dem Geiste von London widersprechen. Ich vermag mich nicht damit zu begnügen, den Standpunkt dieses Schreibens aufrechtzuerhalten. Der Sicherheitspakt verlangt mehr. Deutschland kann nicht in wirklichem Frieden mit Frankreich leben, wenn nicht dieses ganze Ordonnanzensystem, das letzten Endes kein anderes Ziel hat als die Losreißung der Rheinlande, zusammengestrichen wird. Einige wenige Ordonnanzen werden genügen für den Unterhalt und die Bedürfnisse der Besatzungstruppen, zumal in dem Abkommen von Paris vom 5. Mai 1925 die Besatzungslasten zum größten Teil eine neue Behandlung erfahren haben11. Was die Sicherheit der Besatzung anlangt, so ist zu beachten, daß die Besatzung bei nennenswerter Gefahr den Belagerungszustand verhängen und dadurch jede Vorsorge treffen kann. Für normale Zeiten aber genügt es, wenn in einer einzigen Ordonnanz die zum Schutze einer Besatzung üblichen Sicherheitsbestimmungen über Waffen- und Sprengstoffbesitz, Brieftaubenverkehr, Versammlungen unter freiem Himmel und einige derartige Punkte mehr getroffen werden. Alles übrige kann und soll wegfallen. Die strengen Strafen, die bei jeder Beleidigung oder Bedrohung oder gar bei jedem tätlichen Angriff gegen die Besatzung seitens der Militärjustiz drohen, sind ein genügender Schutz. Deshalb sind auch Anweisungen eine unnötige Härte, auf deren Abstellung gedrungen werden muß. Für die noch Ausgewiesenen ist Freiheit der Rückkehr zu verlangen.

10

Dieses Schreiben in R 43 I /434 , Bl. 24-31.

11

S. RGBl. 1925 II, S. 315 . Das Abkommen regelt Art und Umfang der dt. Verpflichtungen gegenüber den Besatzungstruppen sowie die Anrechnungsfähigkeit dieser Kosten auf die jeweiligen Reparationsannuitäten des Dawes-Plans. – Zur Besatzungslastenfrage teilt der RFM in einem Schreiben an das AA vom 29. 7. mit, die durch Art und Ausmaß der Besetzung verursachten Kosten seien bereits erheblich höher als im Pariser Abkommen vom 5.5.25 vorgesehen. „Dies tritt insbesondere im gegenwärtigen Moment in die Erscheinung, da durch die aus dem Ruhrgebiet zurückgezogenen Truppen erhebliche Mehranforderungen an Quartieren im altbesetzten Gebiet verursacht werden, die nicht nur auf eine vorübergehende Belegung beschränkt sind und mit Rücksicht auf die Wohnungsnot der Bevölkerung eine vermehrte Wiederaufnahme der freiwilligen Bautätigkeit des Reiches veranlassen. Ebenso macht sich mit gleicher Wirkung bereits jetzt bemerkbar, daß durch die bevorstehende Räumung der 1. Zone eine Verstärkung der Belegung der 2. und 3. Zone eintreten wird. Nachdem im laufenden Etatjahre bereits 38,5 Mio Mark zur Fortsetzung begonnener und stillgelegter freiwilliger Wohnbauten […] als Ersatz für von der Besatzung beschlagnahmte Gebäude und Wohnungen vorgesehen waren, tritt damit ein neuer erheblicher finanzieller Mehrbedarf an das Reich heran, von dem noch nicht feststeht, ob und in welchem Umfange er […] außerhalb der Annuität den Reichsetat belasten wird.“ (R 43 I /424 , Bl. 502 f.).

Die Forderung nach radikaler Revision des Ordonnanzensystems muß um so nachdrücklicher erhoben werden, als die Rheinlandkommission jetzt wieder in kleinlicher Weise Eingriffe in die Presse sowie das Vereins- und Versammlungswesen vornimmt12. Sie wird das auch in Zukunft immer tun, wenn das Ordonnanzeninstrument intakt bleibt. Ich möchte diese Ausführungen über das Ordonnanzensystem nicht schließen, ohne nochmals meine Beurteilung dieses Systems dahin klarzustellen, daß trotz der Milderungen, die London gebracht[424] hat, auch das gegenwärtige Ordonnanzensystem dazu ausreicht, um ohne Belagerungszustand in kürzester Frist das ganze öffentliche Leben des besetzten Gebietes sowie sein Verkehrsleben zu ertöten.

12

Umfangreiches Aktenmaterial hierzu, insbes. auch über frz. Eingriffe in die dt. Verwaltung in R 43 I /194  und 1842.

Ich bin mir darüber klar, daß diese Forderungen der Beseitigung des Delegiertenapparates und der Zusammenstreichung der Ordonnanzen zur logischen Folge haben, daß auch die Rheinlandkommission im Personal und im Geiste erneuert werden muß. Von den jetzigen Machthabern in dieser Kommission ist nicht zu erwarten, daß sie ein Werk, an dem sie 5 Jahre gearbeitet haben, aufgeben. Es ist unverkennbar, daß ein Personenwechsel auf die rheinische Bevölkerung den günstigsten Eindruck machen würde, da sie dann eher an einem Systemwechsel glauben würde. Selbstverständlich müßte auch das von der Rheinlandkommission geschaffene „Nachrichtenblatt“ in Coblenz, das für den französischen Imperialismus und gegen Deutschland Propaganda macht, ebenso verschwinden13 wie die sonstigen französischen Propagandaeinrichtungen, Lesehallen, die der kulturellen und wirtschaftlichen Durchdringung des besetzten Gebiets dienen sollen (Sections économiques, Sprachkurse usw.). Ebenso unerläßlich wäre der endgültige und völlige Abbruch der Beziehungen der Besatzung zu den Separatisten und die Einstellung jeder Begünstigung derselben.

13

Schon mit Schreiben vom 3. 1. an das AA hatte das RMinbesGeb. auf die „fortgesetzte unzulässige Einmischung“ dieser Zeitung in innerdt. Angelegenheiten hingewiesen und gebeten, durch eine Demarche bei den All. Regg. auf Einstellung des Blattes zu drängen. – Über eine Unterredung mit Sous-Directeur d’Europe Corbin berichtete Hoesch mit Schreiben vom 5. 3. an das AA: Corbin habe erklärt, Frankreich könne auf das Erscheinen eines Nachrichtenblattes nicht verzichten, weil die gesamte Presse des besetzten Gebietes gegenüber den Besatzungsmächten, insbes. gegenüber Frankreich völlig einseitig Stellung nehme. Hoesch fügt abschließend hinzu, er habe aber den Eindruck, daß auf das Blatt im Sinne einer vorsichtigeren Haltung eingewirkt werde (R 43 I /194 , Bl. 12-14, 156).

Ich darf schließlich noch an die Forderung der Wiederherstellung des Reichskommissariats für die besetzten rheinischen Gebiete, sei es unter dieser, sei es unter einer anderen Bezeichnung, erinnern, auf der nach meiner Ansicht nunmehr erst recht nachdrücklich zu bestehen wäre, da bei dem Abschluß eines Sicherheitspaktes es doch nur eine Selbstverständlichkeit ist, daß die Reichsregierung die Möglichkeit erhält, auch ohne den umständlichen diplomatischen Weg bei der Rheinlandkommission ihre Gesichtspunkte zu vertreten und die Anschauungen der Rheinlandkommission kennenzulernen. Das Auswärtige Amt und ich haben diese Forderung, deren Erfüllung für die Befriedung des Rheingebietes notwendig ist, ständig mit solchem Nachdruck vertreten, daß ich hier es bei diesen Ausführungen bewenden lassen möchte und nur nochmals auf mein mehrfach genanntes Schreiben vom 26. Mai d. J. verweise.

II. Verbesserung der Lage des Saargebiets.

Bezüglich des Saargebiets ist das Auswärtige Amt selbst federführendes Reichsressort. Ich möchte mich deshalb auf wenige Bemerkungen beschränken. Die fünfzehnjährige Frist bis zur Volksabstimmung im Jahre 1935 sollte im Sinne der Verfasser des Versailler Vertrages Frankreich die Möglichkeit bieten, die Bevölkerung des Saargebiets durch materiellen Druck und durch Lockung[425] in ihrer Treue zu Deutschland irrezumachen. Dieses Ziel ist mit einem Sicherheitspakt nicht vereinbar. Frankreich müßte daher darauf verzichten, die Bevölkerung bezüglich der Abstimmung zu beeinflussen. Falls eine Änderung des Friedensvertrages in diesem Punkte, die natürlich in erster Linie erwünscht wäre, nicht zu erreichen ist, so wäre zu verlangen, daß bei der Zusammensetzung der Regierungskommission des Saargebiets die drei durch den Friedensvertrag nach der Nationalität nicht bestimmten Mitglieder sowie der Präsident der Regierungskommission aus den während des Weltkrieges neutral gewesenen Mächten genommen werden14. Bei solcher Regelung, der dann allerdings eine Reduktion und Erneuerung des nichtdeutschen höheren Personals der Regierungskommission folgen müßte, wäre eine gewisse Gewähr gegeben, daß die Regierungskommission als Treuhänderin des Völkerbundes handelt.

14

Präs. der 1920 vom Völkerbundsrat eingesetzten Kommission ist der Franzose Victor Rault, weitere Mitglieder sind gemäß Art. 48 des VV ein im Saarland ansässiger Deutscher und drei Staatsangehörige anderer Länder als Frankreich und Dtld.

Eine weitere unerläßliche Forderung wäre, daß Frankreich die Schulen, die es auf Grund von § 14 Absatz 1 des Kapitels 1 der Anlage hinter Art. 50 des Versailler Vertrages unterhält, auf das französische Personal und seine Kinder beschränkt.

Wenn nicht in solcher oder ähnlicher Weise die französische Politik im Saargebiet durch den Sicherheitspakt in neue Bahnen geleitet wird, so sind die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland dauernd mit Konfliktmöglichkeiten belastet, die den Sicherheitspakt untergraben würden.

Zum Schlusse bitte ich ergebenst um baldgefällige Stellungnahme zu den von mir vorgebrachten Gesichtspunkten15, die ich gegebenenfalls hinsichtlich der Besatzungsfragen zum Gegenstand einer Besprechung der Reichsressorts zu machen beabsichtige. Ich behalte mir auch ergebenst vor, sobald feststeht, daß es zu Sicherheitsverhandlungen kommt, in einer Besprechung den Vertretern der an der Besetzung beteiligten Reichsressorts und Länder die Möglichkeit zu geben, ihrerseits ihre Wünsche in Besatzungsfragen zu äußern.

15

Wachsmann vermerkt am 18. 8., das AA betrachte die von Frenken angeschnittenen Fragen als noch nicht entscheidungsreif. Es werde dem RMbesGeb. nicht antworten, seine Anregungen aber bei den Sicherheitspaktverhandlungen nach Möglichkeit berücksichtigen (R 43 I /424 , Bl. 504).

[…]

Frenken

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