1.4 (lut2p): Nr. 174 Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem französischen Außenminister in Ascona am 7. Oktober 1925, 11.30 Uhr

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Nr. 174
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem französischen Außenminister in Ascona am 7. Oktober 1925, 11.30 Uhr

R 43 I /427 , Bl. 155-160

[Ostschiedsverträge, Völkerbundsfragen, Rheinlandfragen]

Am 7. Oktober habe ich mich um 11½ Uhr vormittags mit Herr Briand in Ascona getroffen. Herr Briand war verabredungsgemäß bereits da, als ich eintraf. Es waren auch noch Herr Berthelot und ein anderer französischer Herr anwesend, die sich aber abseits hielten. Das Gespräch zwischen Herrn Briand und mir, das eine Stunde dauerte, hat sich auf der Terrasse eines Cafés vollzogen, wo wir allein saßen. Wir haben zunächst allgemein politische Gesichtspunkte ausgetauscht. Herr Briand versicherte mir, daß die große Mehrheit des französischen Volkes den Frieden und die Verständigung mit Deutschland wolle. Er fügte hinzu, daß, so sonderbar es erscheinen möchte, das französische Volk ein intimeres Verhältnis mit Deutschland jetzt mehr erstrebe als mit England. Ich habe erwidert, daß auch das deutsche Volk unzweifelhaft in seiner großen Mehrheit den Frieden wolle, daß natürlich gerade bei dem deutschen Volk auf dem Wege der positiven Regelung gewisse seelische Hemmungen lägen. Als ich dann darauf hinwies, daß Europa sich politisch und wirtschaftlich verständigen müsse, um gegenüber Amerika bestehen zu können, stimmte Herr Briand lebhaft zu. Herr Briand äußerte dann weiter, daß er bereit sei, mit mir jeden Gegenstand zu besprechen, dessen Besprechung ich wünschte. Darauf erwiderte ich, daß ich diese Gelegenheit begrüßte und daß ich es ihm überlassen möchte, mit welchem Gegenstand wir heute beginnen wollten. Vorher hatte Herr Briand bereits bemerkt, daß wohl auf diese erste Zusammenkunft weitere folgen müßten, und zwar wohl auch mit Herrn Chamberlain, damit nach Möglichkeit alle Schwierigkeiten vor den eigentlichen Sitzungen ausgeräumt seien. Auf meine Frage, mit welchem Gegenstand wir heute beginnen wollten, äußerte[684] Herr Briand, daß es wohl am besten sei, wenn wir mit der Frage der gestrigen Tagesordnung, also mit dem Problem der Garantie der Ostverträge begännen. Auf meine Bemerkung, daß der Artikel 6 des Paktentwurfs1 ja nur einen Rahmen darstelle und daß es mir außerordentlich wertvoll sein würde zu wissen, wie sich Frankreich die Ausfüllung des Rahmens dächte, antwortete Herr Briand mit allgemeinen Ausführungen über das französisch-polnische Bündnis2 und über die Notwendigkeit für Frankreich, daran weitgehend festzuhalten. Dabei bemerkte Herr Briand unter Wiederholung von Darlegungen, die er bereits in der gestrigen Sitzung gemacht hatte, er sei durchaus kein Anhänger der Bündnisse im alten Sinne, die immer eine Spitze gegen irgend jemanden hätten, sondern sein ganzes Bestreben sei, Bündnisse, die jetzt beständen, in den friedlichen Geist des Völkerbundes zu überführen. In der Wechselrede stellte ich dann die unmittelbare Frage, ob Frankreich bei der Garantie des Artikel 6 an ein System, ähnlich wie es für die englische Garantie vorgesehen sei, gedacht habe, also insbesondere ob im Falle flagranter Verletzung ein automatisches Eingreifen Frankreichs ohne ein vorhergehendes Verfahren denkbar sein solle. Briand erwiderte, daß man wohl zunächst an eine ähnliche Konstruktion wie bei der englischen Garantie gedacht habe, daß diese Angelegenheit aber durchaus diskussionsfähig sei und er jedenfalls die Tendenz habe, die Dinge, soweit irgend möglich, auf der Grundlage des Völkerbundes zu erledigen. Ich wies weiter in der Wechselrede darauf hin, daß der ganze Gedanke einer Garantie durch Frankreich für das deutsche Volk untragbar sei, einmal aus gefühlsmäßigen Gründen, von denen Herr Briand sagte, daß er sie durchaus zu würdigen wisse, und zweitens, weil Frankreich Nachbar nur Deutschlands sei, während England Nachbar sowohl Frankreichs wie Deutschlands sei. Daraus, so führte ich aus, ergebe sich, daß praktisch die Ostgarantie nur gegen Deutschland und zugunsten Polens wirken könne. Das Gespräch wurde sozusagen zusammengefaßt in der wiederholten Feststellung, daß die französische Tendenz daraufhin ginge, die Sache auf der Grundlage von Völkerbundsgedanken zu erledigen. Briand machte mir den Vorschlag, ob ich nicht auf dieser Grundlage meinerseits einen Vorschlag unterbreiten wolle. Ich habe demgegenüber darauf hingewiesen, daß Deutschland überhaupt nicht imstande sei, sich in die bestehenden französisch-polnischen Beziehungen hinreichend hineinzudenken, um einen konkreten Vorschlag machen zu können, wie denn überhaupt der ganze Ausgangspunkt außerhalb des deutschen Gedankenkreises läge. Dagegen habe ich darauf hingewiesen, daß vielleicht Fromageot irgendwelche Gedankenskizzen dieser Art Gaus gegenüber aussprechen könne. Briand erklärte schließlich, daß er bereit sei, auf Grund dieses Gesprächs den Versuch eines neuen Vorschlags zu machen. Als ich dann noch einmal sagte, daß jeder Vorschlag auf diesem Gebiete, auch ein Vorschlag, der sich noch so sehr an den Völkerbund anlehne, für Deutschland große Schwierigkeiten biete, betonte Briand seinerseits, aber ohne jede Schärfe, daß er mit dem Vorschlag des Artikel 6 des Paktentwurfs schon sehr weit gegangen sei und nicht wisse, ob er weiter gehen könne.

1

S. Anm. 10 zu Dok. Nr. 172.

2

S. Anm. 7 zu Dok. Nr. 173.

[685] Nachdem dieser Teil des Gesprächs abgeschlossen war, brachte Briand das Gespräch auf die Tagesordnung der heutigen Nachmittagssitzung. Wir verabredeten, daß der Artikel 6 nicht weiter besprochen werden sollte, bevor nicht der neue französische Vorschlag vorläge. Ich machte dabei darauf aufmerksam, daß im übrigen die Juristen wohl soweit fertig sein würden, daß wir uns mit dem Beschluß der Juristen befassen könnten. Briand bestätigte dies, schlug dann aber außerdem vor, die Völkerbundsfrage alsdann aufzunehmen, und regte an, daß wir beide auch über die Völkerbundsfragen sprechen möchten. Ich habe ihm darauf gesagt, daß Deutschland ja im September-Memorandum3 die moralischen und materiellen Gesichtspunkte dargelegt habe, die für Deutschland in Betracht kämen, und daß es diese Gesichtspunkte aufrechterhielte. Daß die moralischen Gesichtspunkte aufrechterhalten werden, habe ich im weiteren Gespräch nochmals erwähnt, ohne daß Briand darauf einging. Das Gespräch konkretisierte sich vielmehr auf Artikel 16. Hier war Briand, ich möchte fast sagen, bewegt darüber, daß Deutschland an seinem Standpunkt festhalte4. Er wiederholte mehrfach, daß, während er für die Ostverträge durchaus die Möglichkeit einer Formulierung sähe, hier die allergrößten Schwierigkeiten beständen, weil es sich wirklich um eine feste Auffassung im gesamten Völkerbund handele, und zwar nicht einmal allein unter den Mitgliedern des Rates. Er wies auch auf die März-Antwort des Völkerbundes5 hin. Was zunächst diese März-Antwort betrifft, so habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß diese Antwort unseren neuen Vorschlag noch gar nicht habe berücksichtigen können, der dahin ginge, nicht für Deutschland als solches eine Regelung zu treffen, die die äußere Form einer Ausnahme haben würde, sondern den Tatbestand der Abrüstung objektiv zu berücksichtigen6. Als Briand darauf aufmerksam machte, daß seines Erachtens der Artikel 16 uns ja gar nicht zwänge, wie dies auch in der Völkerbundsantwort hervorgehoben sei, habe ich erwidert, daß sich Deutschland hier auf keinen Fall in die Lage einer moralischen Isolierung bringen lassen wolle. Nun sei der Tatbestand aber so, daß das abgerüstete Deutschland tatsächlich im Sinne des Artikel 16 nicht verfahren könne. Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Maßnahmen würde immer die Gefahr bestehen, daß ein Krieg gegen Deutschland als Antwort auf solche wirtschaftlichen[686] Maßnahmen entstehe, dem Deutschland dann wehrlos gegenüberstehe. Praktische Waffenhilfe komme beim Zustand einer Abrüstung ja selbstverständlich nicht in Betracht, wohl aber schließe das Durchmarschrecht eine ernste Gefahr ein, da für solche Kriege, die man sich überhaupt in Europa noch vorstellen könne, gerade Deutschland als Durchmarschland in Frage komme. Diese Vorstellung sei für Deutschland nicht nur deshalb unmöglich, weil das deutsche Volk entwaffnet sei, sondern im Hinblick auf die praktischen Erfahrungen, die Deutschland lange Jahre hindurch gemacht habe und auch zur Zeit noch mache mit der Besetzung durch fremde Truppen. Wenn dem aber so sei, so würde Deutschland immer aus stärksten inneren Lebensnotwendigkeiten, soweit das rechtlich möglich sei, dahin wirken müssen, daß die juristische Voraussetzung des Artikel 16 zu einer Beteiligung nicht gegeben sei. Durch solche Stellungnahme aber könne Deutschland in jene moralische Isolierung kommen, von der es genug habe und die es auf keinen Fall auf sich nehmen wolle. Das Gespräch endete ohne positives Ergebnis. Briand wies immer wieder darauf hin, daß hier eine Schwierigkeit vorhanden sei, deren Lösung, wie er einmal sagte, „fast unmöglich sei“; er verbesserte sich dann schnell und sagte „unmöglich sei“.

3

Dt. Memorandum an die Ratsmächte des Völkerbundes vom 29.9.24. Zum Inhalt s. Anm. 17 zu Dok. Nr. 62.

4

Zu den dt. Vorbehalten gegenüber Art. 16 der Völkerbundssatzung, die auf diplomatischem Wege wiederholt geltend gemacht worden waren, s. Anm. 1 und 2 zu Dok. Nr. 43.

5

Antwortnote des Völkerbundsrats vom 14. 3. auf die dt. Note an den Generalsekretär des Völkerbundes vom 12.12.24 (s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 43). Zum Inhalt s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 50.

6

Vorschlag der dt. Note an die frz. Reg. vom 20.7.25, worin es wörtlich heißt: „Deutschland kann als Mitglied des Völkerbundes erst dann als gleichberechtigt gelten, wenn seiner Abrüstung auch die in der Völkerbundssatzung und in der Einleitung zu Teil V des Versailler Vertrags vorgesehene allgemeine Abrüstung folgt. Es muß deshalb, wenn der alsbaldige Eintritt Deutschlands in den Völkerbund ermöglicht werden soll, eine Lösung gefunden werden, welche die Zeitspanne bis zur Verwirklichung der allgemeinen Abrüstung überbrückt. Die Lösung müßte sowohl der besonderen militärischen und wirtschaftlichen als auch der besonderen geographischen Lage Deutschlands gerecht werden.“ Die Note ist gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 16.

Wir kamen dann noch auf die sogenannten Nebenpunkte. Ich habe ausdrücklich genannt die Frage des Besatzungsregimes im Rheinland und einige offene Punkte in der Abrüstungsfrage. Bevor ich in der Aufzählung fortfuhr, bemerkte Briand, ohne daß das irgendwie den Charakter einer Unterbrechung meiner Darlegungen gehabt hätte, es sei vielleicht richtiger, diese Angelegenheit in einer zweiten Besprechung zu erledigen7. Dabei setzte er hinzu, daß das natürlich nur eine Besprechung zwischen uns Beiden sein könne, die nicht stattgefunden haben dürfe, es sei denn, daß wir zu einem Ergebnis kämen. Ich habe dann, indem ich dieser Auffassung zugestimmt habe, dann noch erwähnt, daß in einer Reihe von Punkten Frankreich vielleicht von sich aus handeln könne und habe nochmals hervorgehoben, daß neben den beiden von mir genannten Fragenkreisen noch einige andere Fragenkreise in Betracht kämen. Ich habe auch hier, wie schon vorher im Gespräch, darauf hingewiesen, daß es sich um für Deutschland außerordentlich wichtige Angelegenheiten handele.

7

S. Dok. Nr. 194.

Folgende Punkte seien aus dem Gespräch noch hervorgehogen:

Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland gab Briand der Auffassung Ausdruck, daß, sobald Deutschland im Völkerbund sei, Rußland nachfolgen werde.

Wegen der Räumung von Düsseldorf und Duisburg8 erklärte Briand, daß er geräumt habe, obwohl Herriot auf seine Anfrage, ob eine Verpflichtung zur Räumung bestehe, nicht mit einem Ja geantwortet habe. Ich habe darauf geantwortet, daß das ein Mißverständnis sei, das ich überhaupt nicht verstehen könne.

8

Die Räumung dieser im Jahre 1921 besetzten Städte war in den Monaten Juni–August 1925 erfolgt.

[687] Was das Kommen der Polen und Tschechen anbetreffe, so teilte Briand mit, die Polen würden am Donnerstag [8. 10.] kommen. Darauf habe ich gesagt: „Schon?“ Aus dem weiteren Gespräch ergab sich, daß die Polen und Tschechen an den Vollsitzungen zunächst nicht teilnehmen sollen. Ich habe meinerseits darauf hingewiesen, daß es nach meinem Gefühl schon reichlich viel Menschen seien, ohne daß ich in der Lage wäre, einen Abänderungsvorschlag zu machen. Danach erklärte Briand, es sei ihm angenehm, die Polen und Tschechen hier zu haben, um mit ihnen über die Dinge sprechen zu können9.

9

Die Vertreter Polens und der Tschechoslowakei, Skrzynski und Benesch, werden erstmals am 15. 10. zu den Vollsitzungen der Konferenz hinzugezogen (s. Dok. Nr. 193).

Luther, 7.10.25

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