1.42 (lut2p): Nr. 211 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichsminister des Auswärtigen. 29. Oktober 1925

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Nr. 211
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an den Reichsminister des Auswärtigen. 29. Oktober 1925

R 43 I /425 , Bl. 361-364 Abschrift1

1

Diese Abschrift ging am 30. 10. an StSRkei mit der Bitte Frenkens, „dem Herrn Reichskanzler meine Erwägungen zu unterbreiten“.

Betrifft: Abkürzung der Besetzungsfristen.

Im Kreise der Reichsminister habe ich wiederholt mich nachdrücklich dafür ausgesprochen, daß ich zu den notwendigen Rückwirkungen, die das Vertragswerk von Locarno für das Rheinland haben muß, in allererster Linie die Verkürzung der in den Artikeln 428 und 429 des Versailler Vertrages vorgesehenen Besetzungsfristen zähle2. Da die in Paris eröffneten diplomatischen Verhandlungen3[816] voraussichtlich in der allernächsten Zeit in den Hauptlinien die ersten grundsätzlichen Entscheidungen herbeiführen werden, sehe ich mich genötigt, meine Ansicht nochmals geltend zu machen und die Bitte auszusprechen, daß dieser entscheidende Punkt in den Verhandlungen mit allem Nachdruck vertreten und durchgesetzt wird. Nicht bloß im Hinblick auf die gewaltige Bedeutung, die eine befriedigende Lösung dieser Frage für die öffentliche Meinung im besetzten Gebiete hätte, sondern auch aus Gewissensbedenken heraus, die ich bei der Erwägung empfinde, daß nunmehr auf lange Zeit hinaus unser Verhältnis zu Frankreich und Belgien ausschließlich auf friedliche Entwicklung abgestellt werden soll, während noch eine in der Geschichte unerhört lange Besetzungsdauer dem deutschen Volke die Frucht seiner Verständigungspolitik vorzuenthalten droht.

2

S. Dok. Nr. 120.

3

Zum Stand dieser Verhandlungen über Fragen des all. Rheinlandregimes s. Anm. 5 zu Dok. Nr. 210.

In erster Linie möchte ich dabei den Nachdruck legen auf die außerordentlich schwere Gemütsdepression, die sich der Bevölkerung der 2. und 3. Zone bemächtigen wird, wenn diese nie wiederkehrende Gelegenheit vorbeigegangen sein wird, ohne daß die fünf- bzw. zehnjährige (genau: 4 bzw. 9jährige) Dauer der weiteren Besetzung eine Abkürzung erfahren hätte. Es ist ja bekannt, daß bei den Friedensverhandlungen in Versailles, als im Schoße der Alliierten die Besetzungsfristen erörtert wurden, die Vertreter Englands eine kurze Besetzungsdauer nach Art der Besetzungen nach 1815 und 1871 als das Äußerste erklärten, was man einem modernen Volk zumuten dürfe. Die langen Besetzungsfristen waren schließlich der Preis, den die angelsächsischen Regierungen gegen ihre eigene Überzeugung dem französischen Annexionismus dafür bezahlten, daß er auf die Annexion des Rheingebiets und auf die Dauerbesetzung verzichtete. Dieser Handel beruhte auf Voraussetzungen, die gänzlich weggefallen sind. Die Erwägungen, die damals den Ausschlag gaben, können gegenüber dem Vertragswerke von Locarno sich nicht mehr sehen lassen. Umso mehr ist es geboten, in jene trüben Stunden hineinzuleuchten und der Gegenseite klarzumachen, daß die lange Besetzungsdauer des Versailler Vertrages aus einem Geist stammt, der nicht bloß mit dem Geist von Locarno nichts gemein hat, sondern ihn selbst zu ertöten droht, wenn ihm nicht die Wirksamkeit genommen wird. Die Bevölkerung der 2. und 3. Zone wird vermutlich wenig Hoffnung hegen, daß etwa im Laufe der nächsten Jahre nachträglich noch eine Verkürzung der Besetzungsfristen zu erreichen ist. Sie klammert sich mit all ihren Hoffnungen an die Erwartung, daß vor der Unterzeichnung oder der Ratifikation des Vertragswerkes von Locarno oder doch spätestens vor unserem Beitrittsgesuch an den Völkerbund eine bindende Zusage der Gegenseite über die Besetzungsdauer erfolgt, die jenen Erwägungen zum Siege verhilft, die selbst in den düsteren Tagen des März und April 1919 in Versailles die Ansicht der englischen Regierung und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen sind.

Wenn die Abkürzung der Besetzungsfristen nicht gelingt, wird die Bevölkerung der besetzten Gebiete neues schweres Mißtrauen gegen Frankreich und[817] Belgien fassen müssen. Die vertragsmäßigen Besetzungszwecke (Sicherstellung der Reparationsleistungen und Schutz vor einem unprovozierten Angriff Deutschlands) sind durch den Dawes-Plan sowie durch das Vertragswerk von Locarno erfüllt. Die Besetzung ist daher, juristisch gesprochen, sine causa. Da die Besetzung den vertragsmäßigen Zwecken nicht mehr dienen kann, so muß die rheinische Bevölkerung mit Naturnotwendigkeit vermuten, daß die Besatzungsmächte vertragsfremde Zwecke verfolgen wollen. Welcher Art diese Zwecke sind, wird mehr unbestimmt befürchtet als gegenwärtig erkannt werden kann. Es liegt aber nahe zu glauben, daß Frankreich mit der Festhaltung an der langen Besetzung einen Druck möglich machen will, wenn der Dawes-Plan und der Londoner Zahlungsplan4 endlich vollständig den wirklichen wirtschaftlichen Verhältnissen angepaßt werden sollen. Auf diese Gefahr hat der Herr Bayerische Ministerpräsident in der Sitzung in der Reichskanzlei am 21. d. Mts. besonders hingewiesen5. Ferner wird befürchtet, daß Frankreich es nicht aufgegeben habe, Loslösungsbestrebungen am Rhein zu fördern, sei es Loslösung vom Reichsgebiete oder Bekämpfung des preußischen, bayerischen und hessischen Besitzstandes am Rhein. Die jahrhundertealten rheinischen Bestrebungen Frankreichs, denen es unter jeder Regierungsform gehuldigt hat, haben ein außerordentlich tiefes Mißtrauen im rheinischen Volke geschaffen. Aus dieser Einstellung heraus wird das Verhalten Frankreichs zu der Frage der Besetzungsfristen geradezu als der Prüfstein angesehen, an dem sich der wahre Geist Frankreichs zeigt. Die Versprechungen Frankreichs gelten als unsicher, solange ihnen nicht eine derartige Tat folgt, die zeigen würde, daß es die Pläne von 1919 endgültig aufgegeben hat. Bekanntlich haben in der Besprechung der präsidierenden Mitglieder der Landesregierungen in der Reichskanzlei vom 21. d. Mts. und ebenso in der am 26. d. Mts. stattgehabten Besprechung der Länderressorts in meinem Ministerium gerade die Vertreter Preußens und Bayerns sich nachdrücklichst im Sinne der Abkürzung der Besetzungsfristen ausgesprochen. In der letztgenannten Besprechung schlug der Vertreter Bayerns vor, eine höchstens noch zweijährige Besetzungsfrist herbeizuführen6.

4

S. dazu „Die Berichte der von der Reparationskommission eingesetzten beiden Sachverständigenkomitees vom 9. April 1924“ (Sachverständigengutachten), S. 25 ff. und 32 f.; s. auch: „Gesetz über die Londoner Konferenz“ vom 30.8.24, dort Unteranlage I zu Anlage I des Londoner Schlußprotokolls vom 16.8.24, RGBl. II, S. 289 .

5

In dem Protokoll über diese Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder – hier abgedr. als Dok. Nr. 202 – ist eine derartige Äußerung des bayer. MinPräs. Held nicht wiedergegeben.

6

Eine Niederschrift über die genannte Besprechung mit den Länderressorts übersendet das RMinbesGeb. am 31. 10. Danach wurde insbes. über ein Minimalprogramm für die sogenannten Rückwirkungen bis zum 1.12.25 (s. dazu Dok. Nr. 212) verhandelt. Zum Problem der Besetzungsfristen äußerten sich im oben erwähnten Sinne u. a. MinDir. Loehrs (Preußen) und RegDir. Jolas (Bayern). Der Vertreter des AA, MinDir. Köpke, erklärte dazu, daß Botschafter v. Hoesch bei Unterredungen mit Tirard „die Beseitigung der Besetzung an die Spitze gestellt und mit juristischen und moralischen Gründen nachdrücklich vertreten“ habe (R 43 I /425 , Bl. 394-413).

Ich verkenne nicht, daß der Ruf des Volkes und der Ressorts nach Abkürzung der Besetzungsfristen beim Auswärtigen Amt viel Sympathie gefunden hat. Ich habe aber den Eindruck, daß dieser Forderung nicht der Rang beigelegt[818] wird, der ihr nach meiner Ansicht zukommen muß. Die Abkürzung der Besetzungsfristen müßte bei der Gegenseite mit solchem Nachdruck verlangt werden, daß die Staatsmänner der Besatzungsmächte sich darüber klar sind, daß sie mit der Ablehnung dieser Forderung ihr eigenes Werk gefährden. Über das Ausmaß der Abkürzung der Besetzungsfristen könnte naturgemäß in elastischer Weise verhandelt werden. Ich könnte mir denken, daß man bezüglich der noch zu ertragenden Besetzungsfrist die eine oder andere Lösung finden könnte. Der genannte bayerische Vorschlag aber, der eine Abkürzung auf noch insgesamt zwei Jahre ins Auge faßt, scheint mir psychologisch sich in der richtigen Linie zu bewegen, da er einerseits die Erwägungen eines Teiles der Alliierten selbst vom Jahre 1919 verwerten kann und da andererseits bei seiner Annahme immer noch eine Totalbesetzungsdauer von neun Jahren herauskäme, also fast das Vierfache unserer Besetzung französischer Gebiete von 1871–73, einer Besetzung, die doch immer als eine ganz außerordentlich schwere Belastung des französischen Volkes hingestellt worden ist. Im übrigen bin ich der Meinung, daß eine feste Haltung der deutschen Unterhändler in der Frage der Verkürzung der Besetzungsfristen einen Erfolg durchaus erwarten läßt und man hieran auf der Gegenseite das Paktwerk nicht scheitern lassen würde.

Von der Gegenseite wird dem Begehren nach Abkürzung der Besetzungsfristen vermutlich der Einwand entgegengesetzt werden, daß eine Abänderung der Bestimmungen des Versailler Vertrages innerpolitisch in Frankreich und Belgien nicht durchzusetzen sei. M. E. ist dieses Argument nicht durchschlagend, denn bei einer so grundlegenden Erneuerung der internationalen Beziehungen, wie sie das Vertragswerk von Locarno darstellt, müßten auch die Parlamente in Frankreich und Belgien umlernen. Aber es bieten sich selbst ohne formelle Abänderung des Versailler Vertrages zwei Möglichkeiten, die Besetzungsfristen abzukürzen. Entweder könnte unter Aufrechterhaltung des Rechts der Besetzung durch die Regierungen von Frankreich, Belgien und England auf die Ausübung dieses Rechts in dem durch die Abkürzung der Besetzungsfristen notwendig werdenden Ausmaße verzichtet werden. Die Besetzung würde dann sozusagen de jure zulässig sein, de exercitio nicht stattfinden. Oder (dies wäre ein zweiter Weg) man könnte den Artikel 431 des Versailler Vertrages7 in sinngemäßer Auslegung anwenden und sagen, daß Deutschland durch die freiwillige Annahme des Dawes-Planes und des Vertragswerkes von Locarno die aus dem Versailler Vertrag entstandenen Verpflichtungen durch eine Art Novation formal erfüllt habe, indem es neue freiwillige Verpflichtungen anstelle der im Jahre 1919 übernommenen gesetzt habe. Es könnten dann in sinngemäßer Anwendung des Artikels 431 die Besatzungstruppen zurückgezogen werden.

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Der Art. lautet: „Leistet Deutschland vor Ablauf der 15 Jahre allen ihm aus dem gegenwärtigen Vertrag erwachsenden Verpflichtungen Genüge, so werden die Besatzungstruppen sofort zurückgezogen.“

Ich bitte dringend darum, an diesen zahlreichen Erwägungen, mit denen ich meinen Antrag begründet habe, nicht vorbeigehen, sondern ihnen ein williges Gehör leihen zu wollen. Es handelt sich hier wirklich um eine Herzenssache des rheinischen und damit auch des ganzen deutschen Volkes. Es muß der Bevölkerung[819] des besetzten Gebiets in der 2. und 3. Zone ein aufrichtendes Trostwort zugesprochen werden, damit sie die Fortdauer der Besetzung nach unserem Beitritt zum Völkerbund und nach dem damit verbundenen Inkrafttreten des Vertragswerkes von Locarno verstehen und seelisch tragen kann. Man möge sich nicht täuschen lassen durch den Gedanken, daß die von uns angestrebten Erleichterungen des Besatzungsregimes das Volk beruhigen werden. Es ist im Gegenteil anzunehmen, daß es diese Verbesserungen als selbstverständlichen Mindestpreis ansehen wird, den der Gegner für das äußerst wertvolle Zugeständnis zahlt, das wir im Vertragswerk von Locarno ihm gemacht haben, und daß es finden wird, dieser Preis hätte unbedingt gesteigert werden müssen durch die Zugabe einer ganz wesentlichen Verkürzung der Besetzungsfristen.

Ich darf mir vorbehalten, bei sich bietender Gelegenheit diesen meinen Standpunkt auch im Schoße der Reichsregierung noch besonders zu vertreten.

Der Herr Staatssekretär in der Reichskanzlei hat Abschrift dieses Schreibens erhalten.

Frenken

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