1.71 (lut2p): Nr. 240 Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem britischen Außenminister zur Frage der alliierten Besatzungsstärke im Rheinland und zur Kadaverfrage am 1. Dezember 1925 in London

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Text

RTF

[934] Nr. 240
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem britischen Außenminister zur Frage der alliierten Besatzungsstärke im Rheinland und zur Kadaverfrage am 1.1 Dezember 1925 in London

1

Zur Datierung vgl. Anm. 3.

R 43 I /447 , Bl. 397 f.2

2

Am Kopf der Vorlage ist maschinenschrl. vermerkt: „Diktiert auf der Rückfahrt im Zuge am 4. Dezember 1925.“

Nach Abschluß der Besprechung mit den Engländern, Franzosen und Belgiern am Mittwoch, dem 2. Dezember3, nachmittags im englischen Auswärtigen Amt, bin ich zurückgeblieben, um Chamberlain noch zu sprechen. Ich habe Chamberlain mit größtem Ernst auf die Sachlage aufmerksam gemacht, die sich daraus ergebe, daß in dieser Besprechung völlig unzureichende Maßregeln und geradezu unmögliche Zahlen wegen der Herabsetzung der Truppen uns genannt worden seien. Ich habe allgemein politisch darauf hingewiesen, daß das deutsche Volk nach dem Londoner Abkommen4 in einer fast allgemeinen Stimmung gewesen sei, wie sie den in Locarno verfolgten Plänen entspreche. Diese Stimmung hätte einen schweren Rückschlag erfahren durch die Nichträumung der Kölner Zone am 10. Januar. Ich müßte fürchten, daß, wenn jetzt nicht in naher Zukunft eine sehr starke, entsprechend der Zusage der Botschafterkonferenz der deutschen Friedenspräsenzstärke annähernde Herabsetzung der Truppen vollzogen werde, es dann einen noch viel schwereren Rückschlag gegen die von Locarno ausgehende Entwicklung innerhalb des deutschen Volkes geben würde und daß weder ich noch Stresemann diesen Rückschlag bestehen könnten. Chamberlain sagte mir, und zwar von vornherein, ohne daß ich den von mir hier skizzierten Gedankengang bereits zu Ende dargelegt gehabt hätte, er sei durch die von Briand genannten Zahlen betroffen gewesen (choqué). Er habe schon während der Sitzung durch einen Zettel und dann nach der Sitzung Briand auf eine Erklärung aufmerksam gemacht, die er (Briand) in Locarno abgegeben habe, über die eine Niederschrift von Berthelot vorhanden sei. Er werde seinerseits alles tun, was nur in seiner Kraft stehe, um Briands unzweifelhaft vorhandenen Willen im Kampf mit den französischen Generälen zu unterstützen. Das Gespräch wurde von mir immer wieder auf den wesentlichen Punkt zurückgeführt und vollzog sich so in großer Ausführlichkeit.

3

Muß heißen: Dienstag, dem 1. Dezember. Vgl. die Aufzeichnung Luthers über die vorangegangene Viererbesprechung (Dok. Nr. 239, s. dort bes. Anm. 4).

4

Londoner Dawes-Abkommen vom August 1924.

Dann brachte Chamberlain von sich aus die Kadaverfrage zur Sprache, und zwar in der Weise, daß er in höflichster Form mich um ein Dementi der klar aufgestellten Behauptungen5 bat. Ich habe ihm das Dementi in der Form gegeben,[935] daß ich ihm erklärt habe, an der ganzen Geschichte sei kein wahres Wort. Darauf äußerte Chamberlain, er werde die nächste Gelegenheit, falls sich eine solche Gelegenheit biete, dazu benutzen, um dieses Dementi bekanntzugeben. Das bisher von der deutschen Regierung durch die Presse bereits abgegebene Dementi sei ja in England übersehen worden. Daraufhin habe ich Chamberlain gesagt, daß ich ihn dringend bitten möchte, die Gelegenheit zur Richtigstellung dieser von uns sehr unangenehm empfundenen Angelegenheit seinerseits alsbald herbeizuführen. Dies sagte Chamberlain dann auch zu6.

5

Deutschland war während des Weltkrieges insbes. von brit. Seite vorgeworfen worden, sogen. Leichenverwertungsfabriken zur Gewinnung von Fett hinter den Frontlinien eingerichtet zu haben. Diese Angelegenheit wurde im November 1925 auf Veranlassung der Labour Party, die ein amtliches brit. Dementi herbeiführen wollte, wiederholt im brit. Unterhaus erörtert. Kriegsminister Worthington-Evans erklärte am 24. 11. auf die Frage nach der Herkunft des brit. Quellenmaterials: „Die Meldung, daß die Deutschen eine Fabrik zur Verwertung von Leichen eingerichtet hätten, erschien zuerst am 10. April 1917 im ‚Berliner Lokalanzeiger‘, in der ‚Indépendance Belge‘ und in ‚La Belgique‘. Die in Frankreich bzw. Holland veröffentlichten belgischen Blättermeldungen seien in der englischen Presse wiedergegeben worden mit dem Kommentar, daß dies das erste deutsche Eingeständnis sei über die Art und Weise, wie die Deutschen ihre Leichen verwerteten.“ Wenig später sei ein dt. Heeresbefehl mit Weisungen über die Ablieferung von Kadavern erbeutet und dem brit. Kriegsministerium zugeleitet worden, welches die Veröffentlichung des Befehls genehmigt habe. Belege dafür, daß mit dem Wort „Kadaver“ menschliche Leichen und nicht nur Tierleichen bezeichnet werden, seien damals in dt. Wörterbüchern gefunden worden (nach „Tägliche Rundschau“ vom 25. 11.).

6

Chamberlain hierzu am 2. 12. vor dem Unterhaus: „Der deutsche Reichskanzler habe ihn ermächtigt, zu sagen, daß niemals irgendwelche Grundlage für die Geschichte vorhanden war. Er wünsche namens der britischen Regierung hinzuzufügen, daß er dieses Dementi annehme, und er hoffe zuversichtlich, daß dieser falsche Bericht nie wieder werde erwähnt werden.“ („Tägliche Rundschau“ vom 3. 12.).

Luther

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