1.5 (ma11p): Die Verhandlungen über eine Umbildung des zweiten Kabinetts Marx

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[XLV] Die Verhandlungen über eine Umbildung des zweiten Kabinetts Marx

Die Außenpolitik des Kabinetts Marx II, dessen Koalitionsparteien DDP, Zentrum und DVP im Reichstag nur über 138 von 472 Stimmen verfügten, wurde weitgehend von der sozialdemokratischen Opposition mitgetragen. Während der Verhandlungen über den Dawes-Plan und seine Ausführungsgesetze mußte sich das Kabinett aber auch um die Unterstützung der Deutschnationalen bemühen, zumal es sich darauf festgelegt hatte, für das Eisenbahngesetz die Zweidrittelmehrheit zu fordern, die nur mit Hilfe der DNVP zu erreichen war. In diesem Zusammenhang wurde durch einen Vorstoß der DVP die Frage der Regierungsumbildung wieder aktuell. Am Vorabend der entscheidenden Reichstagsabstimmung über die Dawes-Gesetze, am 28. August 1924, gab die DVP-Fraktion mit Billigung Stresemanns der DNVP die schriftliche Zusage, daß sie sich mit allen Mitteln für eine angemessene Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen einsetzen werde, falls diese die Mitverantwortung für die Londoner Abkommen und die neue Reparationsregelung übernähmen125. Obwohl am 29. August nur die Hälfte der DNVP-Fraktion für das verfassungsändernde Eisenbahngesetz stimmte, was freilich zur Annahme des Dawes-Plans genügte, löste die DVP schon bald ihr Versprechen ein, indem sie in einer dem Reichskanzler übergebenen Entschließung vom 25. September nachdrücklich die Aufnahme der Deutschnationalen in das Kabinett verlangte und sich zugleich von einer Wiederherstellung der Großen Koalition mit der SPD distanzierte126.

125

Die Zeit Nr. 205 vom 31.8.24.

126

Schultheß 1924, S. 91 f.

Die DVP war sehr daran interessiert, die DNVP, ihre gefährlichste Konkurrentin um bürgerliche Wählerstimmen, durch Beteiligung an der Regierung zu neutralisieren und im Einvernehmen mit ihr die innenpolitischen Aufgaben der nächsten Zeit – Verteilung der Reparationslasten, Steuerreform, Aufwertungsneuregelung und Zolltarifrevision – in Angriff zu nehmen. Stresemann selbst wollte die DNVP auf seine außenpolitische Linie festlegen; außerdem erwartete er, daß die Teilnahme an der Regierungsverantwortung auf die Deutschnationalen einen heilsamen Zwang zu politischer Mäßigung und konstruktiver Mitarbeit ausüben werde. Reichskanzler Marx hatte indessen gegen eine einseitige Erweiterung der Koalition nach rechts erhebliche Bedenken, weil sie nach seiner Ansicht die deutsche Außenpolitik belasten und in innenpolitischer Hinsicht die Sozialdemokraten zu scharfer Opposition herausfordern würde. Da er überdies mit dem Widerstand der Demokraten und des linken Zentrumsflügels gegen eine Bürgerblockregierung mit den Deutschnationalen rechnen mußte, suchte er zunächst eine einseitige Option in der Koalitionsfrage zu umgehen.

Anfang Oktober teilte Marx dem Kabinett und den Vertretern der Regierungsparteien mit, daß er beabsichtige, sowohl mit den Deutschnationalen als auch mit den Sozialdemokraten zwecks Bildung einer umfassenden Koalition[XLVI] der „Volksgemeinschaft“ Kontakt aufzunehmen. Die Mittelparteien erklärten sich mit dem Versuch des Kanzlers einverstanden, wenngleich die Erfolgsaussichten für das Zustandekommen der „ganz großen Koalition“ angesichts der kaum überbrückbaren Gegensätze zwischen der DNVP und der SPD skeptisch beurteilt wurden. Nach abtastenden Vorgesprächen, bei denen die beiden großen Flügelparteien ihre besonderen Wünsche und Vorbehalte anmeldeten, eröffnete Marx Verhandlungen auf der Grundlage allgemeiner Richtlinien des Kabinetts zur Verfassungs-, Außen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, die den Fraktionen zur Stellungnahme zugeleitet wurden. Die Sozialdemokraten hielten die Richtlinien besonders in sozialpolitischer Hinsicht für ergänzungsbedürftig und forderten unter Hinweis auf die monarchistische Propaganda der DNVP ein unzweideutiges Bekenntnis zur republikanischen Staatsform. Die DNVP wiederum antwortete mit einer programmatischen Entschließung, welche den Begriff der „Volksgemeinschaft“ in einer Weise definierte, die für die Sozialdemokraten unannehmbar sein mußte. Daraufhin zog sich die SPD sofort von den Verhandlungen zurück, so daß Marx schon am 10. Oktober das Scheitern seiner Bemühungen um eine Erweiterung der Regierungsbasis nach beiden Seiten konstatieren mußte. Jetzt, nachdem die Sozialdemokraten aus dem Spiel waren, lenkten die Deutschnationalen ein und erkannten die Richtlinien als geeignete Grundlage für weitere Koalitionsgespräche an. Ihre früheren Forderungen nach Überlassung des Kanzlerpostens und Umbesetzung des Außenministeriums hatten sie fallengelassen. Es hing nun von der Entscheidung der drei Regierungsfraktionen ab, ob der Weg der Mitte-Rechts-Koalition beschritten werden sollte127.

127

Dok. Nr. 309, P. 3; 310312; 314, P. 3; 316327.

Als aber die Verhandlungen nach einer kurzen, durch den Abschluß der Dawes-Anleihe bedingten Unterbrechung am 15. Oktober wieder aufgenommen wurden, hatten die Reichstagsfraktionen der DDP, des Zentrums und der DVP Beschlüsse gefaßt, die einander widersprachen und einen Kompromiß in der Koalitionsfrage aussichtslos erscheinen ließen. Während die DDP und das Zentrum für die Beibehaltung der bisherigen Minderheitskoalition eintraten, wandte sich die DVP dagegen und bestand auf der Hinzuziehung der Deutschnationalen. Daraufhin erklärte das Zentrum, sich an einer nach rechts erweiterten Regierung nur unter der Bedingung beteiligen zu wollen, daß auch die Demokraten mitmachten. Aber die DDP lehnte eine Koalition mit der DNVP entschieden ab. Nach diesen Beschlüssen, die sowohl die Fortsetzung der bisherigen Regierung wie auch ihre Umbildung blockierten, erwog Marx bereits als letzten Ausweg aus der Koalitionskrise die Auflösung des Reichstags und die Ausschreibung von Neuwahlen. Das Kabinett warnte jedoch vor einem solchen Schritt und versuchte den widerstrebenden Kanzler dazu zu bewegen, ungeachtet der Stellungnahme der Fraktionen die Initiative zu einer Rechtserweiterung der Regierung zu ergreifen. Angesichts der Widerstände gegen ein Zusammengehen mit den Deutschnationalen sprach der Zentrumsminister Brauns von einem „indirekten Staatsstreich“ und warf die grundsätzliche Frage[XLVII] auf, „ob nur mit links regiert werden dürfe. Er frage sich, ob das noch verfassungsmäßig sei. Das parlamentarische System kenne als einzigen Maßstab die Mehrheitsverhältnisse. Eine Mehrheitsbildung sei auch jetzt möglich, man müsse eben nur bereit sein, sie auch mit rechts zu machen“128. Doch Marx äußerte starke Bedenken gegen die Bildung eines Rechtsblocks ohne Teilnahme der Demokraten, weil nach seiner Überzeugung in einer solchen Regierung das Einhalten eines politischen Mittelkurses nicht gewährleistet sein würde. Schließlich unternahm er nach wiederholtem Drängen der Minister einen Versuch, der darauf hinauslief, einem durch deutschnationale Vertreter ergänzten Kabinett wenigstens die wohlwollende Neutralität der DDP zu sichern. Der Kanzler appellierte an die DNVP, sich anstatt der geforderten vier Ministerposten mit nur drei Ressorts zu begnügen, während er gleichzeitig die Demokraten bat, ihr Fraktionsmitglied Geßler im Kabinett zu belassen, auch wenn sie sich nicht an der Koalition beteiligten. Die DDP verweigerte jedoch ihre Zustimmung, so daß nichts anderes übrig blieb, als beim Reichspräsidenten die Auflösung des Reichstags zu beantragen. Am 20. Oktober wurde der zweite Reichstag nach einer kaum halbjährigen Legislaturperiode aufgelöst129.

128

Dok. Nr. 329.

129

Dok. Nr. 328; 329; 333335; 336, P. 1; 338.

Vor dem Hintergrund einer spürbaren Besserung der wirtschaftlichen Lage zeigten die Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 eine deutliche Verschiebung von den radikalen zu den gemäßigten Parteien. Während Kommunisten und Nationalsozialisten erhebliche Verluste erlitten, erzielten die Sozialdemokraten hohe, die bürgerlichen Mittelparteien leichte Stimmengewinne. Aber auch die Deutschnationalen konnten zur allgemeinen Überraschung ihre bei den Maiwahlen errungene starke Position nicht nur behaupten, sondern sogar noch verbessern130. Daher war die entscheidende Frage, nach welcher Seite die Regierung erweitert werden solle, vom Wahlergebnis her nicht eindeutig zu beantworten. Nach der Mandatsverteilung hätte sowohl eine bürgerliche Koalition vom Zentrum bis zur DNVP wie auch die Große Koalition von der SPD bis zur DVP eine parlamentarische Mehrheit hinter sich gehabt. Indessen schied die Alternative der Großen Koalition wegen der ablehnenden Haltung der DVP aus. Bereits in der ersten Ministerbesprechung nach den Wahlen erklärte Stresemann, daß die DVP entsprechend einem einmütigen Beschluß ihres Vorstandes unbedingt eine bürgerliche Regierung mit den Deutschnationalen anstrebe; die DNVP müsse die Verantwortung für die nächsten innen- und außenpolitischen Entscheidungen mittragen. Marx, der seine persönliche Abneigung gegen einen Rechtsblock nicht verhehlte, zog aus dem DVP-Beschluß die Konsequenzen und zeigte mit dem Einverständnis der Minister am 15. Dezember dem Reichspräsidenten die Demission des Kabinetts an, das daraufhin mit der einstweiligen Fortführung der Geschäfte beauftragt wurde131.

130

Dok. Nr. 368, Anm. 10.

131

Dok. Nr. 368, P. 4; 369, P. 1; 370; 371; 372, P. 7.

Bei den Koalitionsgesprächen der nächsten Tage ergab sich eine ähnlich ausweglose Situation wie schon vor der Reichstagsauflösung. Die DVP beharrte[XLVIII] unentwegt auf der Koalition mit den Deutschnationalen, die DDP war dagegen, und das Zentrum wollte sich ohne Rückendeckung durch die Demokraten nicht an einer Regierung mit der DNVP beteiligen. Da keine der Mittelparteien bereit war, von ihrem Standpunkt abzugehen, kamen der Reichskanzler und der Reichspräsident überein, alle weiteren Verhandlungen bis zum Beginn des folgenden Jahres zu verschieben132.

132

Dok. Nr. 373375.

Die langwierigen, ergebnislosen Auseinandersetzungen um die Regierungsumbildung signalisierten eine ernsthafte Funktionsstörung der parteienstaatlichparlamentarischen Ordnung. Während einer Ministerbesprechung im engsten Kreise am 19. Dezember kam es zu einer Aussprache über die Ursachen der Regierungskrise und ihre Gefahren für die Konsolidierung des Staates. Geßler sah die Hauptquelle der Schwierigkeiten in einer verfehlten Konstruktion der Weimarer Verfassung und trat daher für die baldige Inangriffnahme einer Verfassungsreform ein. Als Ziel schwebte dem Reichswehrminister „eine starke Staatsautorität“ vor, „eine starke Zentrale, die mit solchen Rechten ausgestattet ist, daß derartige Krisen und eine solche Hilflosigkeit, wie wir sie heute sehen, nicht möglich sind. Der eine Weg, der dazu führt, ist die Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten nach dem Vorbild des amerikanischen Musters, der andere der der Stärkung einer einmal berufenen Reichsregierung gegenüber dem Parlament“133.

133

Dok. Nr. 375.

Bei der Wiederaufnahme der Koalitionsgespräche Anfang Januar 1925 stellte sich heraus, daß DVP, Zentrum und DDP an ihren früheren, einander widersprechenden Beschlüssen festhielten, so daß keinerlei Aussicht für die Bildung einer Mehrheitsregierung auf parlamentarischer Grundlage bestand. Angesichts des Immobilismus und der Kompromißunwilligkeit der Parteien gewann der schon des öfteren erörterte Gedanke eines nicht fraktionsgebundenen Kabinetts der „Persönlichkeiten“ an Boden134. Während der nun folgenden, recht undurchsichtigen Verhandlungen, die nicht mehr durch Protokolle aus den Akten der Reichskanzlei belegt werden können, bot Marx zwei deutschnationalen Politikern den Eintritt in eine als „überparteilich“ deklarierte Regierung an, die im übrigen so weit wie möglich in ihrer bisherigen Zusammensetzung erhalten bleiben sollte. Doch waren weder die DNVP noch die DVP mit einer solchen Lösung zufriedenzustellen. Die DVP wollte ein „verschleiertes Kabinett der Mitte“ nicht unterstützen, und die Deutschnationalen zogen es vor, die Entwicklung der Regierungskrise in Preußen abzuwarten, wo am 6. Januar die Große Koalition durch den Austritt der volksparteilichen Minister aus dem Kabinett Braun gesprengt wurde. Ein letzter Versuch des Kanzlers, die Regierung im Reich auf die schmale Basis einer Koalition aus Zentrum und Demokraten zu stützen, stieß bei der DVP auf scharfe Opposition, aber auch die Minister Luther, Geßler und Kanitz trugen Bedenken, einem solchen Kabinett anzugehören. Daraufhin gab Marx am 9. Januar den Auftrag zur Regierungsbildung[XLIX] endgültig zurück135. Als es dem parteilosen Finanzminister Luther am 15. Januar 1925 gelang, eine Regierung aus Fachministern und „Vertrauensmännern“ einer lockeren Koalition vom Zentrum bis zur DNVP zustande zu bringen, war die Tätigkeit des zweiten Kabinetts Marx beendet.

134

Dok. Nr. 383; 384.

135

Dok. Nr. 384, Anm. 4. Vgl. auch die Aufzeichnungen Koch-Wesers zu den Verhandlungen über die Regierungsumbildung in: Nachl. Koch-Weser , Nr. 32.

Günter Abramowski

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