1.2.3 (ma31p): 3. Außenpolitik

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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[LIII] 3. Außenpolitik

Die außenpolitischen Beratungen der Reichsregierung galten zumeist der Vorbereitung und Auswertung der Ratssitzungen des Völkerbundes, wobei die Berichte Stresemanns über die einzelnen Sessionen die Grundlage für die Entscheidungen des Kabinetts bildeten116. Ihre besondere Bedeutung erhielten die viermal im Jahr stattfindenden Ratstagungen dadurch, daß sie neben den offiziellen Verhandlungen dem deutschen Außenminister die Gelegenheit boten, mit den Vertretern der übrigen „Locarno-Mächte“, insbesondere mit Briand und Chamberlain, in vertraulichen, zwanglosen Besprechungen sowohl die aktuellen internationalen Probleme wie auch die besonders Deutschland interessierenden Fragen der Entwaffnung, der Rheinlandbesetzung, des Saargebiets, des Memellandes, der Freien Stadt Danzig, der deutschen Minderheiten und des deutsch-polnischen Verhältnisses zu erörtern. Bei internationalen Konflikten – etwa zwischen Jugoslawien und Italien, Großbritannien und der Sowjetunion –, mit denen Deutschland konfrontiert wurde, hat sich die Reichsregierung der Mitwirkung an streitschlichtenden, vermittelnden Aktionen nicht entzogen, blieb dabei aber um die Wahrung strikter Neutralität bemüht. Das wurde ihr im Fall der britisch-sowjetischen Krise dadurch erleichtert, daß die englische Regierung keinen ernsthaften Versuch unternahm, das durch Rapallo und den Berliner Vertrag begründete deutsch-sowjetische Sonderverhältnis zu stören und Deutschland in eine antisowjetische Front einzugliedern117.

116

Dok. Nr. 201; 245, P. 1 und 2; 253, P. 2; 284; 287; 290; 314, P. 1; 358, P. 1; 381, P. 2; 437; 447, P. 10; 482, P. 2.

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Italienisch-jugoslawischer Konflikt: Dok. Nr. 209, P. 1; 217. Britisch-sowjetischer Konflikt: Dok. Nr. 242, P. 2; 245, P. 1.

Das primäre Ziel der deutschen Außenpolitik, dem alles andere unterzuordnen war, blieb auch weiterhin die Verminderung der Besatzungstruppen und vor allem die baldige Gesamträumung des besetzten Rheinlandes118. In der Verfolgung dieser Absicht stand das Reichskabinett, auch und gerade nach dem Regierungseintritt der Deutschnationalen, stark unter dem Druck der hochgespannten Erwartungen der Parteien und der öffentlichen Meinung. Zwar war die Räumung des besetzten Gebiets durch das Gespräch von Thoiry als offizielles Thema in die deutsch-französischen Verhandlungen eingeführt worden, aber nachdem sich das Thoiry-Projekt einer Obligationen-Mobilisierung als undurchführbar erwiesen hatte, verfügte das Reich über keine finanziellen Kompensationsmöglichkeiten mehr. Dennoch wies Stresemann in seinen Reden vor dem Reichstag119 wie in seinen Besprechungen mit Briand und Chamberlain immer wieder auf die Notwendigkeit der Rheinlandräumung hin und begründete dies damit, daß die weitere Aufrechterhaltung der Okkupation unvereinbar sei mit dem „Geist von Locarno“, mit der gleichberechtigten Mitarbeit Deutschlands im Völkerbund und dem Gedanken der deutsch-französischen Verständigung. Neben diese politische Begründung trat ergänzend seit Anfang[LIV] 1927 das juristische Argument, daß Deutschland nach Beendigung der alliierten Militärkontrolle einen Rechtsanspruch auf kompensationslose Räumung geltend machen könne, und zwar auf Grund des Art. 431 des Versailler Vertrags, demzufolge die Besatzung nach Erfüllung aller vertraglichen Verpflichtungen sofort zurückgezogen werden sollte.

118

Nach verschiedenen Äußerungen Stresemanns sollte das Jahr 1927 das „Jahr der Rheinlandräumung“ werden. Vgl. ADAP, Serie B, Bd. IV, S. 477, 604; Bd. V, S. 5.

119

Siehe die außenpolitischen Reichstagsreden Stresemanns vom 22.3.1927 (RT-Bd. 392, S. 9814  ff,), 23.6.1927 (RT-Bd. 393, S. 11001  ff.), 30.1.1928 (RT-Bd. 394, S. 12490  ff.) und vom 29.3.1928 (RT-Bd. 395, S. 13897  ff.).

Auf der Tagung des Völkerbundsrates im März 1927 konnte die deutsche Delegation insofern einen begrenzten Erfolg erzielen, als die französische Besatzungstruppe im Saargebiet durch einen interalliierten Bahnschutz ersetzt wurde. Aber in der Frage der Räumung des Rheinlandes, in der Stresemann vor der Presse in riskantem Optimismus bereits die Einleitung einer „Offensive“ angekündigt hatte, kam man nicht voran. Briand, in seinem Wirkungskreis durch Poincaré stark eingeschränkt, empfahl Stresemann, sich mit einer offiziellen Räumungsinitiative Zeit zu lassen, damit die öffentliche Meinung Frankreichs allmählich darauf eingestellt werden könne. In der Ministerratssitzung vom 15. März verhehlten die deutschnationalen Minister Hergt und Schiele nicht ihren Unmut über die Stagnation der Revisionspolitik und bezweifelten ebenso wie Hindenburg die Zweckmäßigkeit der von Stresemann befolgten Methode geduldigen und kompromißbereiten Verhandelns. Dennoch erklärte sich das Kabinett mit dem Vorschlag des Außenministers einverstanden, das Räumungsthema bis zur vollständigen Erledigung der Entwaffnungsfrage zurückzustellen120.

120

Dok. Nr. 201.

Im Zuge der Restabwicklung des Entwaffnungsprogramms hatte sich die Reichsregierung in einer Vereinbarung Ende Januar 1927 verpflichtet, eine Reihe kleinerer Betonbunker an der deutschen Ostgrenze zu zerstören. Die Forderung Frankreichs und der übrigen alliierten Kontrollmächte nach einer „Verifizierung“ der Zerstörungsarbeiten lehnte das Kabinett jedoch mit dem grundsätzlichen Einwand ab, daß nach dem inzwischen erfolgten Abzug der IMKK lokale Entwaffnungskontrollen rechtlich unzulässig seien. Da die Gegenseite indes hartnäckig auf ihrem Standpunkt beharrte, gab die Reichsregierung schrittweise nach: Nachdem ihr Vorschlag, die Inspektion durch einen Neutralen vornehmen zu lassen, zurückgewiesen worden war, stimmte sie schließlich einer Nachkontrolle durch alliierte Experten zu. Dabei gab sie auch ihre ursprüngliche Absicht auf, sich eine „Generalquittung“ über die vollständige Durchführung der Entwaffnung ausstellen zu lassen121.

121

Dok. Nr. 182, P. 1; 229; 242, P. 2; 245, P. 1.

Als trotz dieses Zugeständnisses die erwarteten Gegenkonzessionen der Besatzungsmächte auf dem Gebiet der Truppenverminderung infolge der französischen Verzögerungstaktik ausblieben, drohte eine ernsthafte Trübung der deutsch-französischen Beziehungen. Zusätzlich belastend wirkten, wie Stresemann vor dem Kabinett darlegte, eine „Hetzkampagne“ der französischen Presse über deutsche Entwaffnungsverstöße sowie „bedauerliche“ Reden Poincarés, welche die Kriegsschulddiskussion auf beiden Seiten des Rheins aufs neue anfachten. Aber ungeachtet aller Enttäuschungen und Rückschläge warnte Stresemann davor, aus den französischen „Unfreundlichkeiten“ die Konsequenz eines außenpolitischen Kurswechsels zu ziehen, etwa im Sinne einer stärkeren Anlehnung an England oder einer Annäherung[LV] an das faschistische Italien oder gar einer engeren Bindung an das bolschewistische Rußland. In realistischer Einschätzung der Verhältnisse blieb Stresemann davon überzeugt, daß Fortschritte in den Bemühungen um die Freigabe des Rheinlandes letztlich nur im Einvernehmen mit Frankreich und bei konsequenter Fortsetzung der Locarno-Politik erzielt werden könnten. Wohl mit Blick auf den ungeduldigen deutschnationalen Koalitionspartner bezeichnete er es als verhängnisvoll, „wenn in Deutschland die geistige Einstellung der Zeit vor Locarno wieder vorherrschend werden würde“122.

122

Dok. Nr. 284; siehe auch Nr. 287.

Im Herbst 1927 kam es endlich zur vorerst letzten „Rückwirkung“ von Locarno in Gestalt einer Verringerung der Besatzungstruppen um etwa 10 000 Mann. Da ein solcher Schritt im Grundsatz bereits 1925 zugesagt, seitdem von Stresemann und dem Auswärtigen Amt ständig angemahnt, von Briand aber mit Rücksicht auf die Widerstände der französischen Militärs immer wieder hinausgeschoben worden war, erschien die Truppenreduzierung nun nicht mehr als ein Akt alliierter Großzügigkeit, sondern als längst überfällige und zudem unzulängliche Erfüllung eines alten Versprechens.

Was die Gesamträumung betraf, so scheint sich das Kabinett bereits im August 1927 darüber im klaren gewesen zu sein, daß Zugeständnisse der Gegenseite in absehbarer Zeit nicht zu erwarten waren. Da Poincaré und die maßgebenden Faktoren der französischen Politik die Rheinlandbesetzung nach wie vor als unverzichtbare Garantie für regelmäßige deutsche Reparationsleistungen betrachteten – der Sicherheitsaspekt begann dagegen allmählich in den Hintergrund zu treten –, war der deutsche, auf Art. 431 des Versailler Vertrags gestützte Räumungsanspruch eine stumpfe Waffe. Marx äußerte daher die Ansicht, man solle sich „mehr auf das Weltgewissen und auf die Weltmeinung“, d. h. auf die allgemein zunehmende Einsicht in die Unhaltbarkeit der Besetzung verlassen als auf einen Artikel des Friedensvertrags, dessen Auslegung „in gefährlicher Weise dehnbar“ sei123. Auf der Septembertagung des Völkerbunds gab Briand, von Chamberlain sekundiert, Stresemann deutlich zu verstehen, daß ein förmlicher Räumungsantrag der deutschen Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur zum Mißerfolg führen würde. Aussichtsreiche Verhandlungen hielt Briand frühestens nach den französischen Kammerwahlen im April 1928 für denkbar, von denen er sich eine weitere Stärkung der verständigungs- und räumungsbereiten Kräfte in Frankreich versprach124.

123

Dok. Nr. 284.

124

Dok. Nr. 314; siehe auch Dok. Nr. 381, P. 2.

Als der Reparationsagent Gilbert Ende 1927 für eine Ablösung des provisorischen Dawes-Plans durch eine endgültige Regelung des Reparationsproblems ohne Transferschutz und ausländische Kontrollen zu werben begann125, löste er damit in Frankreich wie in Deutschland eine Diskussion über die Frage aus, ob und wie die vorzeitige Rheinlandräumung durch einen Frankreich befriedigenden Modus der deutschen Reparationsleistungen herbeigeführt werden könne. Um die Klärung dieser Frage zu beschleunigen, wies Stresemann während der Genfer Ratstagung im März 1928 Briand auf die kontinuierlich fortschreitende Entwertung des Besatzungspfandes[LVI] hin: Mit dem Näherrücken der regulären, friedensvertraglich festgelegten Räumungstermine für die beiden noch besetzten Rheinlandzonen (1930 bzw. 1935) schwinde naturgemäß die Bereitschaft Deutschlands, für die vorfristige Räumung finanzielle Kompensationen zu gewähren126. Die eigentliche Schwierigkeit lag freilich darin, daß weder in Berlin noch in Paris konkrete Vorstellungen über die Form reparationspolitischer Gegenleistungen existierten und nach Lage der Dinge auch nicht existieren konnten. Eine auf dem Dawes-Plan basierende Teilmobilisierung von Reparationsobligationen à la Thoiry kam, wie der Reparationsagent konstatierte, mit Rücksicht auf die anvisierte Endlösung der Reparationsfrage jetzt nicht mehr in Betracht127. Andererseits konnten Verhandlungen über die Endregelung, bei der die Mitwirkung der Vereinigten Staaten unentbehrlich war, nach allgemeiner Überzeugung erst nach den amerikanischen Präsidentenwahlen Ende 1928 beginnen128. Angesichts dieses Dilemmas mußte das vierte Kabinett Marx, das nach dem Auseinanderfallen seiner Koalitionsbasis im Februar 1928 außenpolitisch nur noch beschränkt handlungsfähig war, weitere Initiativen in der Räumungs- und in der Reparationsfrage der nächsten Reichsregierung überlassen.

125

Dok. Nr. 381, P. 3.

126

Dok. Nr. 447, P. 10.

127

Dok. Nr. 437.

128

Zur Diskussion über die Endlösung der Reparationsfrage vgl. Dok. Nr. 381, Anm. 12; Dok. Nr. 399 (S. 1247 f., 1252 ff.); Nr. 457 (S. 1410 ff.). Dazu Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik, S. 421 ff.; Krüger, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, S. 426 ff.

Gelegentlich der Beratungen des Völkerbundes über Möglichkeiten der Kriegsverhütung und Friedenssicherung auf der Vollversammlung im September 1927 trat die polnische Delegation mit einem Resolutionsentwurf hervor, der den Abschluß von Nichtangriffspakten zwischen den Mitgliedstaaten zum Ziel hatte. Hinter diesem „polnischen Vorstoß“ vermutete die deutsche Delegation die Absicht, auf indirektem Wege die bisher von Deutschland verweigerte freiwillige Anerkennung und Garantie der deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze und damit ein „Ost-Locarno“ zu erlangen. Es gelang Stresemann jedoch im Zusammenwirken mit Chamberlain und Briand, den polnischen Antrag zu entschärfen und in eine den Angriffskrieg verurteilende Völkerbundsentschließung umzuformen. Um aber die Bereitschaft Deutschlands zu friedlicher Konfliktregelung in besonderer Weise zu dokumentieren, unterzeichnete Stresemann, nachdem entgegenstehende Bedenken Hindenburgs und einiger Reichsminister ausgeräumt waren, die Fakultativklausel zum Statut des Internationalen Gerichtshofs. Damit verpflichtete sich Deutschland als erste Großmacht, Rechtsstreitigkeiten mit anderen Signatarstaaten dem Urteil des Haager Gerichtshofs zu unterwerfen129.

129

Dok. Nr. 290; 314.

Im Frühjahr 1928 stand die Reichsregierung erneut vor einer bedeutsamen Entscheidung auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Der amerikanische Außenminister Kellogg hatte ein von Briand angeregtes französisch-amerikanisches Friedensabkommen zu einem multilateralen Kriegsächtungspakt ausgeweitet, dem zuerst die Hauptmächte und sodann die übrigen Staaten beitreten sollten. Frankreich wünschte jedoch mit Rücksicht auf seine Bündnisverpflichtungen die Einfügung einschränkender Vorbehaltsklauseln und legte einen entsprechenden Gegenentwurf vor. Von den USA wie auch von Frankreich um eine Stellungnahme gebeten, entschied[LVII] sich die Reichsregierung auf Anraten Stresemanns im wesentlichen für die amerikanische Paktversion. Hierbei spielte der Wunsch eine maßgebliche Rolle, die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu festigen und die Unterstützung der Vereinigten Staaten bei den anstehenden Verhandlungen über die Endregelung der Reparationen und über die internationale Abrüstung zu gewinnen130.

130

Dok. Nr. 463, P. 2; 466, P. 1.

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