2.102 (ma31p): Nr. 102 Vermerk des Staatssekretärs Pünder über die Arbeitszeitfrage. 29. Oktober 1926

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Nr. 102
Vermerk des Staatssekretärs Pünder über die Arbeitszeitfrage. 29. Oktober 1926

R 43 I /2019 , Bl. 188–189

Bekanntlich haben gestern sämtliche Gewerkschaftsverbände sich dahin geeinigt, von der Reichsregierung alsbald die Durchführung des Achtstundentages zu verlangen. Das Nähere hierüber enthält nachstehende Pressenotiz:

„Eine Entschließung für Wiederherstellung des Achtstundentages. Berlin, 28. 10. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Gewerkschaftsring Deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände und der Allgemeine Freie Angestelltenbund haben in einer am Donnerstag, den 23. Oktober, abgehaltenen Konferenz folgende Entschließung angenommen: ‚Die herrschende Arbeitslosigkeit ist nicht zuletzt in der modernen wirtschaftlichen Entwicklung begründet. Es bedarf daher positiver Maßnahmen, um einen wesentlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit, die zwangsläufig durch die fortschreitende technische und betriebsorganisatorische Vervollkommnung verursacht wird, herbeizuführen.

Die unterzeichneten Spitzenverbände erklären, daß es nicht genügt, die Öffentlichkeit auf den Gegensatz zwischen dem heute herrschenden Überstundenwesen und der völligen Arbeitslosigkeit von Millionen hinzuweisen und vor dem System der Arbeitszeitverlängerung zu warnen, sondern daß es gesetzlichen Zwanges bedarf, um die Durchführung des Achtstundentages zu sichern. Die Verkürzung der derzeitigen Arbeitszeit liegt im Zuge der technischen und organisatorischen Entwicklung und ist die Vorbedingung für die Rückführung des Arbeitslosenheeres in die Betriebe.

[281] Die unterzeichneten Spitzenverbände stimmen aber auch darin überein, daß es nicht angeht, sich mit einer späteren Neuregelung der Arbeitszeit durch das endgültige Arbeitsschutzgesetz zufrieden zu geben, zumal mit dessen baldiger Verabschiedung nicht gerechnet werden kann. Es bedarf vielmehr sofortiger gesetzlicher Maßnahmen, um der gegenwärtigen Not zu steuern. Aus diesem Grunde fordern die unterzeichneten Spitzenorganisationen die sofortige Abänderung der geltenden Arbeitszeitbestimmungen im Wege eines Notgesetzes zur Wiederherstellung des Achtstundentages.‘“1

1

Auf diese Entschließung der Gewerkschaften antworteten die Unternehmerverbände mit einer am 2.11.26 veröffentlichten gemeinsamen Erklärung, in der es heißt: Die von den Arbeitnehmerorganisationen geforderte sofortige Wiederherstellung des Achtstundentages im Wege eines Notgesetzes müsse „nach der wirtschaftlichen Seite eine Verminderung der Produktionsleistung und damit letzten Endes eine Preisverteuerung mit allen ihren verhängnisvollen Folgen nach innen und außen nach sich ziehen […]. Vor allem aber würde dieser Schritt keine irgendwie ins Gewicht fallende Wiedereinstellung von Arbeitslosen zur Folge haben, wohl aber in seinen weiteren Auswirkungen die aufs tiefste zu beklagende jetzige Arbeitslosigkeit sicher nur noch verstärken. Die Arbeitszeit, wie sie jetzt in der deutschen Wirtschaft gehandhabt wird, ist auf gesetzlicher Grundlage im Einvernehmen mit den deutschen Arbeitnehmern so gestaltet worden, wie es den Lebensbedürfnissen der deutschen Wirtschaft zur Überwindung der aus dem Kriege, der Inflation und den weltwirtschaftlichen Veränderungen hervorgegangenen Schwierigkeiten entspricht. Die heutige, leider vielfach zu optimistisch angesehene, unserer Überzeugung nach noch durchaus ernste und nicht gesicherte Lage der deutschen Wirtschaft erlaubt es nicht, unsere Produktion so schweren Erschütterungen auszusetzen, wie sie die von den Gewerkschaften verlangte gesetzgeberische Maßnahme unserer festen Überzeugung nach mit sich bringen würde. Wir wenden uns daher mit größtem Ernst warnend sowohl an die Reichsregierung wie auch an die politischen Parteien mit der dringenden Bitte, das dem gesamten Volke drohende Unheil abzuwehren.“ (R 43 I /2019 , Bl. 199; auch in R 43 I /2059 , Bl. 281–282). Diese Erklärung der Unternehmerverbände wird im einzelnen begründet in einer Denkschrift „Zur Forderung der Gewerkschaften auf Vorlage eines Notgesetzes über die Arbeitszeit“, welche die Vereinigung der Dt. Arbeitgeberverbände am 6. 11. dem RK übersandte (R 43 I /2059 , Bl. 283–289).

Danach begnügen sich die Gewerkschaften nicht mehr mit dem in Aussicht gestellten Arbeitsschutzgesetz2, da diese Regelung ihnen zu lange dauert. Vielmehr verlangen sie ein sofortiges Notgesetz zur Wiederherstellung des Achtstundentages. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch parlamentarisch scheint mir die ganze Angelegenheit durch diesen gemeinsamen Beschluß aller Gewerkschaften reichlich kompliziert worden zu sein. Wie eine Mehrheit für ein solches Notgesetz zustande kommen soll ohne Beeinträchtigung der gegenwärtigen Regierungskoalition, ist mir einstweilen völlig unklar. Diese Sorgen teilen, wie ich festgestellt habe, namentlich auch der Herr Reichswirtschaftsminister Dr. Curtius und auch Herr Minister Stresemann.

2

Siehe Dok. Nr. 105, Anm. 1.

In dieser Angelegenheit besuchte mich gestern abend Herr Dr. Fritz Thyssen. Er bezeichnete diesen Vorstoß der vereinigten Gewerkschaften als ganz katastrophal. Er führte aus, daß die Stellung der deutschen Schwerindustrie nach Gründung der Vereinigten Stahlwerke A.G.3 und des internationalen Stahlkartells4 eine überaus starke sei. Die wirtschaftlichen und politischen[282] Auswirkungen des internationalen Stahlkartells seien in ihrer Tragweite noch ganz unabsehbar. Jedenfalls versprächen sich alle deutschen Wirtschaftsführer von dieser Gründung außerordentlich viel. Wenn es gelungen sei, auf diesem wichtigsten wirtschaftlichen Gebiet eine volle Anerkennung Deutschlands als eines der ersten Machtfaktoren der Weltwirtschaft zu erreichen, so habe dies eine doppelte Ursache gehabt: einmal sei es die vorangegangene Gründung der Vereinigten Stahlwerke A.G. gewesen, die in der Reihe der stahlerzeugenden Großkonzerne der Welt jetzt an erster Stelle stünde; der andere Grund sei der gewesen, daß sich die deutschen Unterhändler und nicht zuletzt er selbst darauf hätten berufen können, daß die Arbeitsverhältnisse innerhalb der deutschen Schwerindustrie gegenwärtig und anscheinend auch für die nächste Zukunft als recht günstig angesprochen werden könnten. Diese zuversichtliche Erklärung der deutschen Unterhändler erfahre jetzt durch den Vorstoß der deutschen Gewerkschaften einen überaus schweren Stoß. Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der deutschen Schwerindustrie würde höchstwahrscheinlich wieder schwinden. Die deutsche Schwerindustrie müsse daher entscheidenden Wert darauf legen, daß der Wunsch der Gewerkschaften nicht Wirklichkeit werde. Er habe bereits mit dem Herrn Reichsarbeitsminister Fühlung genommen, der aber anscheinend für seine Bedenken nicht das volle Verständnis habe. Anders scheine ihm Herr Reichsminister Dr. Stresemann zu den Dingen zu stehen, mit dem er kurz vor dem Besuch bei mir eine Aussprache gehabt habe. Er bitte dringend, vor entscheidenden Entschließungen des Reichskabinetts maßgebliche Vertreter der deutschen Arbeitgeberschaft, und namentlich auch ihn, im Kreise der Minister anzuhören5.

3

Die Vereinigten Stahlwerke AG waren im Frühjahr 1926 durch Zusammenschluß der Rhein-Elbe-Union, der Thyssen-Gruppe, der Phoenix-Gruppe und der Rheinischen Stahlwerke gegründet worden. Vorsitzender des Aufsichtsrats der Vereinigten Stahlwerke war Fritz Thyssen.

4

Zum Abkommen über die Internationale Rohstahlgemeinschaft siehe Dok. Nr. 110, Anm. 7.

5

Am 9. 11. fand in der Rkei eine Besprechung mit Vertretern der Vereinigung der Dt. Arbeitgeberverbände über die Arbeitszeitfrage statt (Dok. Nr. 110).

Ich habe Herrn Dr. Thyssen versprochen, seine Bedenken und Wünsche alsbald dem Herrn Reichskanzler vorzutragen, sowie auch dafür Sorge zu tragen, daß vor endgültigen Entschließungen des Reichskabinetts die Auffassung der Vertreter der Schwerindustrie zur Kenntnis des Ministerkollegiums kommen werde.

Dem Herrn Reichskanzler habe ich von dem Inhalt meiner Besprechung mit Herrn Dr. Thyssen heute morgen noch Mitteilung gemacht. Obiger Vermerk ist aber nach der Reise nach Erfurt dem Herrn Reichskanzler alsbald vorzulegen6.

6

RK Marx nahm an einer Tagung des Reichsausschusses der Zentrumspartei teil, die Ende Oktober in Erfurt stattfand.

[…]

Pünder

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