1.139.2 (ma32p): 2. Bericht über die Genfer Verhandlungen.

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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2. Bericht über die Genfer Verhandlungen1.

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Dieser Tagesordnungspunkt ist auch abgedr. in: ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 219. – Zum Verlauf der 48. Tagung des Völkerbundsrats vom 5. bis 12.12.27 siehe: Schultheß 1927, S. 534 ff.; ADAP, Serie B, Bd. VII (dort zahlreiche Dokumente ab Dok. Nr. 173); Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 239 ff.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete zunächst über die polnisch-litauischen Verhandlungen2. Wenn auch keine endgültige Lösung erzielt worden sei, so sei doch eine fühlbare Entspannung eingetreten. Allerdings bezeichneten jetzt die beiden heimgekehrten Diktatoren3 sich jeder als den Sieger, so daß es fraglich sei, ob nicht doch neue Reibungen entstehen würden.

2

Siehe dazu ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 173–175, 179, 181, 184, 190, 197.

3

Pilsudski und Woldemaras.

In allen Rücksprachen über die polnisch-deutschen Beziehungen habe Herr Pilsudski sich überraschend entgegenkommend gezeigt. Insbesondere habe er vorgeschlagen, die besonders schwierigen Verhandlungspunkte, wie z. B. Chorzow[1178] und die Frage des Wiederkaufrechts in einem engeren Kreise von je 3 Vertretern jeden Landes so vorbereiten zu lassen, daß die Regierungschefs sie persönlich im Verlaufe des nächsten Halbjahrs erledigen könnten4. Auch bezüglich des Handelsvertrags erscheine es aussichtsreich, vielleicht nicht nur zu einem Provisorium, sondern zu einem regelrechten kurzbefristeten Handelsvertrag zu gelangen.

4

Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 192.

Über den Fragenkomplex „Ostlocarno“ hätten in der Tat die verschiedensten Besprechungen stattgefunden. Zunächst habe Briand mit Litwinow über die Möglichkeit russischer Nichtangriffspakte gesprochen, ohne dabei von den Russen eine positive Antwort erhalten zu haben. Bezüglich der deutschen Stellungnahme zu derartigen Nichtangriffspakten erklärte der Reichsminister des Auswärtigen, daß er eine deutsche Garantie für die baltischen Randstaaten als möglich bezeichnet, dagegen jede Garantierung des polnischen Besitzstandes über die Verträge von Locarno hinaus grundsätzlich abgelehnt habe. Im Zusammenhang mit diesen Besprechungen hätte sowohl Briand wie Chamberlain ihm nahegelegt, mit Herrn Pilsudski in aller Offenheit die Frage der deutsch-polnischen Grenze zu besprechen. Briand habe dabei geäußert, Deutschland werde Herrn Pilsudski entgegenkommender finden, als es irgend jemand in Deutschland glaube5. Chamberlain habe sich sehr offen über die fehlerhafte Grenzziehung des Friedens von Versailles im Hinblick auf den Korridor und Danzig ausgesprochen und gesagt, Pilsudski sei der einzige Pole, der Autorität und Macht genug hätte, in der Korridorfrage Änderungen herbeizuführen6. Im Zusammenhang mit einer Äußerung Zaleskis im Völkerbundsrat bezeichnete der Reichsminister des Auswärtigen es als denkbar, daß man auf polnischer Seite bei derartigen Plänen einer deutsch-polnischen Verständigung an Memel als polnischen Hafen denke. Die Unterhaltungen mit Pilsudski hätten hierfür aber keinerlei Anhaltspunkte gegeben. Da die persönlichen Beziehungen zum Marschall erst so neuen Datums seien, hielt der Reichsminister des Auswärtigen eine Erwähnung dieser heiklen Fragen zunächst auch nicht für zweckmäßig. Der Reichsminister des Auswärtigen teilte endlich mit, daß er soeben die Nachricht erhalten habe, es bestehe Aussicht dafür, daß drei der größten Gutsverwaltungen Ostoberschlesiens, nämlich Ballestrem, Friedländer-Rybnik und Schaffgotsch nicht liquidiert würden. Der Reichsminister des Auswärtigen bat, diesen Teil seines Berichts besonders vertraulich zu behandeln.

5

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 200.

6

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 202.

Bezüglich der deutsch-französischen Beziehungen habe Herr Briand positivere Äußerungen gemacht als bei der letzten Begegnung. Die Idee der deutsch-französischen Verständigung habe nach seiner Angabe so große Fortschritte gemacht, daß die Rheinlandräumung von den Linksparteien geradezu als Programmpunkt für die Wahl aufgenommen sei. Herr Briand habe als wünschenswert bezeichnet, daß nach Neubildung der französischen Regierung, also etwa im Juni nächsten Jahres, eine voll verhandlungsfähige deutsche Reichsregierung vorhanden sei. Dann könne vielleicht im September bei der Vollversammlung[1179] des Völkerbundsrats schon der entscheidende Schritt zur Räumung der besetzten Gebiete getan werden7.

7

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 173 und 193.

Botschafter v. Hoesch habe sich allerdings bezüglich derartiger Möglichkeiten wesentlich skeptischer ausgesprochen.

Die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich seien immer noch gespannt. England habe, verstimmt über die rücksichtslose Inszenierung des italienisch-albanischen Vertrages, jede Vermittlungsaktion abgelehnt8.

8

Zum ital.-alban. Bündnisvertrag vom 22.11.27 siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 146, 161 und 168.

Der Reichsminister der Justiz schlug vor, in einer besonderen Ministerbesprechung, wenn mehr Zeit zur Beratung vorhanden sei, erstens die Frage der deutschen Ostpolitik, zweitens die Rückwirkung der Äußerungen Briands und seiner Pläne auf die Festsetzung des deutschen Reichstagswahltermins zu besprechen. Der Reichsminister der Justiz äußerte die Ansicht, daß auch im Juni 1928 eine Regierung, die noch 6 Monate vor der Reichstagsauflösung stehe, als voll verhandlungsfähig angesehen werden könne.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erklärte unter Bezugnahme auf die Ausführungen des Reichsministers des Auswärtigen zum deutsch-polnischen Handelsvertrage, daß er den Abschluß eines eigentlichen Handelsvertrags unter den gegebenen Umständen für ebenso zweckmäßig halten würde wie den Abschluß eines Provisoriums.

Der Reichsminister des Auswärtigen berichtete sodann noch darüber, daß die russische Regierung von Deutschland den Schutz der russischen Interessen gegenüber der südchinesischen Regierung erbeten habe. Eine solche Bitte lasse sich nicht ablehnen. Ihre Erfüllung stoße aber deshalb auf Schwierigkeiten, weil Deutschland die südchinesische Regierung noch gar nicht anerkannt habe und deshalb keine akkreditierten diplomatischen Vertreter bei ihr habe. Die deutschen Konsuln seien aber angewiesen, sich der russischen Staatsangehörigen nach Möglichkeit praktisch anzunehmen9. Ein gemeinsames deutsch-russisches Kommuniqué über die Bereitwilligkeit Deutschlands zur Inschutznahme der russischen Interessen und die Begrenzung dieser Aktion werde vorbereitet.

9

Siehe ADAP, a.a.O., Dok. Nr. 220.

Der Reichswehrminister bat, bei den deutsch-russischen Verhandlungen über diese Angelegenheit jedenfalls zu berücksichtigen, daß wir über keinerlei Machtmittel an den chinesischen Küsten verfügten.

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