1.162.1 (ma32p): Wahlreform und Splitterparteien.

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Wahlreform und Splitterparteien1.

1

In einem Vermerk ORegR Wiensteins vom 25.1.28 heißt es: In den letzten Tagen habe die Presse Mitteilungen darüber gebracht, daß große Parteien des RT beabsichtigten, noch in diesem RT gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung der Splitterparteien vorzubereiten. Diese Nachrichten seien zutreffend. MinR Kaisenberg (RIMin.) habe ihm, Wienstein, mitgeteilt, daß am 24. 1. hauptsächlich auf Initiative der DVP eine Besprechung der Hauptgeschäftsführer von SPD, DNVP, Zentrum, DVP und DDP stattgefunden habe. In der Besprechung sei ein vom Abg. Dittmann vorgelegter GesEntw. über „Wahlvorschläge, Stimmzettel und Mandatszuteilung“ (siehe unten Anm. 4) erörtert worden. Am 26. 1. würden wahrscheinlich die Fraktionsvorsitzenden der genannten Parteien einschließlich der BVP sich mit dem Problem befassen. „Für die wirksamste Bekämpfung der Splitterparteien hält MinR Kaisenberg die Abschaffung des Einheitsstimmzettels. Es müsse wieder der frühere Zustand unter der alten Reichsverfassung hergestellt werden, daß die Stimmzettel für jede einzelne Partei auf deren Kosten hergestellt und verteilt würden. Durch den Einheitsstimmzettel werde auch gerade für die zahlungsunfähigen Splitterparteien im ganzen Reich Propaganda gemacht. Herr Kaisenberg teilte weiter mit, daß auch die Kommunisten für Reformpläne in der angedeuteten Richtung vielleicht zu gewinnen sein würden. Reichsminister Dr. v. Keudell habe zu den Problemen noch nicht abschließend Stellung genommen, insbesondere auch nicht zu der Frage, ob nicht die Reichsregierung die Initiative ergreifen solle. Letzteres dürfte sich m. E. allerdings nicht mehr empfehlen, nachdem die Parteien offenbar ernstlich bemüht sind, selbst Abhilfe zu schaffen.“ (R 43 I /1000 , S. 25–27).

Der Abgeordnete Graf Westarp eröffnete und leitete die Sitzung. Auf seinen Vorschlag trug zunächst Ministerialdirektor von Kameke die einzelnen Möglichkeiten zur Bekämpfung der Splitterparteien vor. Nach dessen Ausführungen kommen folgende Möglichkeiten in Betracht2:

2

Zu den folgenden Änderungsvorschlägen vgl. die geltende Fassung des Reichswahlgesetzes, verkündet durch Bekanntmachung vom 6.3.24 (RGBl. I, S. 159 ), abgeändert durch Gesetz vom 13.3.24 (RGBl. I, S. 173 ), dazu die Reichsstimmordnung vom 14.3.24 (RGBl. I, S. 173 ). Literaturnachweise zum Reichstagswahlrecht in: Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, S. 186.

a)

Abschaffung des amtlichen Einheitsstimmzettels und Abwälzung der Kosten des Stimmzettels auf die Parteien,

b)

Auferlegung einer Kaution für die Parteien im Rahmen der mutmaßlichen Kosten des Stimmzettels,

c)

Erhöhung der zur Unterschrift unter einen Kreiswahlvorschlag erforderlichen Stimmzahl (z. Zt. mindestens 500),

d)

Aufnahme lediglich der Parteien mit Fraktionsstärke in den amtlichen Stimmzetteln,

e)

Einschränkung der auf den Reichswahlvorschlag entfallenden Mandate.

[1269] Es wurde zunächst über a) „Abschaffung des amtlichen Einheitsstimmzettels und Abwälzung der Kosten des Stimmzettels auf die Parteien“ gesprochen.

Sämtliche Abgeordnete betonen zunächst, daß sie nur für ihre Person sprächen.

Die Abgeordneten Graf Westarp (D.Nat. Volkspartei) und Kempkes (D. Volkspartei) sprachen sich übereinstimmend gegen eine Beseitigung des amtlichen Einheitsstimmzettels aus. Dieser sei seinerzeit als großer Fortschritt empfunden worden3. Seine Abschaffung werde in der Öffentlichkeit kaum Beifall finden.

3

Der amtliche Einheitsstimmzettel war durch das „Zweite Gesetz zur Änderung des Reichswahlgesetzes“ vom 31.12.23 (RGBl. 1924 I, S. 1 ) eingeführt worden.

Der Abgeordnete Joos (Zentrum) sprach sich zunächst gegen die in dem beiliegenden Entwurf des sozialdemokratischen Abgeordneten Dittmann4 enthaltenen Vorschläge aus, die zu radikaler Natur seien. Wahrscheinlich werde sich der Parteiausschuß des Zentrums am Sonntag, dem 29. Januar mit der ganzen Frage der Wahlreform und der Bekämpfung der Splitterparteien beschäftigen.

4

Der anliegende Entwurf zu einem „Gesetz über Wahlvorschläge, Stimmzettel und Mandatszuteilung“ – mit Kopfvermerk Wiensteins „Entwurf Dittmann (VSPD)“ – lautet: „§ 1: Die Einreichung von Wahlvorschlägen für die Wahlen zum Reichstag und zu den Volksvertretungen der Länder kann durch Gesetz des Reiches bzw. der Länder von den besonderen Voraussetzungen der §§ 2 und 3 dieses Gesetzes abhängig gemacht werden. § 2: Für jeden Wahlvorschlag eines Wahlkreises kann gefordert werden, daß er soviel Unterschriften Wahlberechtigter aus dem Wahlkreise aufweist, als die Hälfte der Stimmenzahl beträgt, die zur Erzielung eines Mandats notwendig ist. § 3: Für jeden Wahlvorschlag eines Wahlkreises kann die Hinterlegung eines Geldbetrages gefordert werden, der der ungefähren Höhe der durch den Wahlvorschlag verursachten amtlichen Wahlkosten entspricht. Der Betrag wird zurückgezahlt, wenn auf den Wahlvorschlag des Wahlkreises bzw. des Wahlkreisverbandes mindestens ein Mandat entfällt, andernfalls wird er zur Bestreitung der amtlichen Wahlkosten verwendet. § 4: Für diejenigen Parteien, die im Reichstage eine eigene Fraktion bilden, gelten diese Voraussetzungen bei den Wahlen zum Reichstag und zu den Volksvertretungen der Länder ohne weiteres als erfüllt. § 5: Auf die amtlichen Stimmzettel werden bei den Wahlen zum Reichstag und zu den Volksvertretungen der Länder für die Parteien des § 4 in der Reihenfolge der Fraktionsstärke die Parteibezeichnung und die ersten vier Namen des Wahlvorschlags in besonderen Feldern aufgedruckt. Für die übrigen Wahlvorschläge ist auf den Stimmzetteln am Schluß ein Feld zur Eintragung freizulassen. § 6: Die Zuteilung von Mandaten auf die einzelnen Reichs- oder Landeswahlvorschläge kann nur bis zu der Mandatszahl erfolgen, die auf den gleichnamigen Wahlkreis- bzw. Wahlkreisverbandsvorschlägen erzielt worden ist. § 7: Die einschlägigen Bestimmungen im Reich und in den Ländern, die auf Gesetz oder Verordnung beruhen, behalten für die gegenwärtigen Gesetzgebungsperioden ihre Gültigkeit.“ (R 43 I /1000 , S. 35–37).

In bezug auf den amtlichen Einheitsstimmzettel äußerte er sich in dem Sinne, daß dieser auch schwere Nachteile habe. Er habe u. a. eine Erstarrung der Parteiorganisationen im Lande zur Folge und sei geeignet, eine lebhafte Parteitätigkeit und ein richtiges Parteileben zu hemmen.

Der Abgeordnete Graf Westarp schnitt sodann die Frage einer grundlegenden allgemeinen Wahlreform an und kam zu dem Ergebnis, daß diese nach seiner Ansicht zwar insofern noch von dem jetzigen Reichstag erledigt werden könne, als er keinen Hinderungsgrund dagegen sehe, daß der Reichstag bis zu seinem natürlichen Ende zusammenbleibe. Andererseits seien jedoch bei fast allen Parteien gewisse Hemmungen dagegen vorhanden, eine grundlegende[1270] Wahlreform jetzt noch vorzunehmen, so daß er an diese Möglichkeit jetzt nicht glaube.

Widerspruch wurde hiergegen nicht geäußert.

b) Auferlegung einer Kaution für die Parteien im Rahmen der mutmaßlichen Kosten des Stimmzettels.

Ministerialdirektor von Kameke erläuterte, daß diese Kaution dann zurückgezahlt werden solle, wenn die betreffende Partei mindestens ein Mandat erhalte.

Der Gedanke der Kaution fand bei den anwesenden Parteivertretern keinen Anklang.

c) Erhöhung der zur Unterschrift unter einen Kreiswahlvorschlag erforderlichen Stimmzahl (z. Zt. mindestens 500).

Auch dieser Gedanke fand keine Zustimmung. Es wurde betont, daß hier leicht die Vorschrift der Reichsverfassung verletzt werden könne, daß die Wahlen geheim seien.

d) Aufnahme lediglich der Parteien mit Fraktionsstärke5 in den Stimmzetteln.

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D. h. mit mindestens 15 Abgeordneten.

Dieser im § 5 des Dittmannschen Entwurfs festgelegte Gedanke wurde für beachtlich erklärt.

e) Einschränkung der auf den Reichswahlvorschlag entfallenden Mandate.

Ministerialdirektor von Kameke erläuterte den bestehenden Rechtszustand an einem Beispiel. Er führte aus, daß bei Verbindung zweier Wahlkreise zu einem Wahlkreisverbande die Stimmen der beiden Wahlkreise zusammengerechnet würden und dann eventuell zusammen ein Mandat ergäben, daß also z. B. bei Erzielung einer Stimmzahl von 31 000 Stimmen im Kreise A und von 32 000 Stimmen im Kreise B die kleinere Stimmenzahl von 31 000 Stimmen dem Kreise B zugerechnet werde und dann in diesem Kreise ein Mandat ergäbe. Weil nun die weitere Vorschrift bestehe, daß auf den Reichswahlvorschlag nicht mehr Mandate im ganzen entfallen dürften, als Mandate in den einzelnen Kreisen erzielt worden seien, sei bei dem jetzigen Rechtszustand, besonders bei den Splitterparteien immer noch die Möglichkeit der Erringung einer hohen Mandatszahl auf Reichswahlvorschlag groß. Diese Möglichkeit werde erheblich eingeschränkt, wenn man nur die Zuteilung so vieler Mandate auf Reichswahlvorschlag gestatte, als die Wahlkreise aus eigener Kraft erzielt hätten, d. h. nicht im Falle der Verbindung wie in dem eben angeführten Beispiel in einem Wahlkreisverband.

Eine derartige Bestimmung würde übrigens die großen Parteien des Reichstags kaum treffen, dagegen empfindlich die kleineren Parteien, wie z. B. die Nationalsozialisten und die Wirtschaftspartei.

Auch dieser Gedanke wurde für nicht unbeachtlich erklärt.

Zum Schluß stellte der Abgeordnete Graf Westarp fest, daß vor allem die Frage einer Abschaffung oder Einschränkung des Einheitsstimmzettels den Fraktionen der Regierungsparteien alsbald vorgetragen werden müsse.

[1271] Der Reichsminister des Innern erklärte, daß er besonders über diese Frage demnächst eine Besprechung der Regierungsparteien und der Sozialdemokraten sowie der Demokraten veranlassen wolle6. Vorher wolle er noch den Abgeordneten Dittmann (S.P.D.) um sein Einverständnis bitten, daß sein Entwurf sämtlichen Regierungsparteien und den Demokraten mitgeteilt werde, um bei der in Aussicht genommenen größeren Aussprache gleichfalls als Unterlage zu dienen.

6

Siehe Dok. Nr. 406.

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