2.39 (str1p): Nr. 39 Besprechung mit den gewerkschaftlichen Spitzenverbänden über die Lage in den besetzten Gebieten im Reichsarbeitsministerium vom 4. September 1923, 14.30 Uhr

Zur ersten Fundstelle. Zum Text. Zur Fußnote (erste von 11). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 39
Besprechung mit den gewerkschaftlichen Spitzenverbänden über die Lage in den besetzten Gebieten im Reichsarbeitsministerium vom 4. September 1923, 14.30 Uhr1

1
 

Am 1.9.23 hatte das Ruhrhauptreferat des RArbMin. die TO mitgeteilt. Eine Einladung war bereits am 27. 8. ergangen (R 43 I /215 , Bl. 5). Der Bericht wurde von RegR Wienstein angefertigt.

R 43 I /215 , Bl. 8–9

Ministerialdirektor Sitzler wies einleitend darauf hin, daß die Versammlung keinerlei Beschlüsse in Bezug auf die Fragen der Abwehr2 zu fassen habe und daß die Versammlung lediglich den Zweck habe, eine Aussprache über die schwebenden Fragen herbeizuführen.

2

MinDir. Sitzler dürfte sich damit auf die Ruhrabwehrausschüsse beziehen, über die K. Jarres in einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1926 berichtet: „Für den Abwehrkampf waren mehrere Abwehrausschüsse im Süden der Rheinprovinz, in Köln und namentlich im Industrierevier gebildet, die von der Regierung halboffiziell anerkannt wurden. Der wichtigste und rührigste dieser Ausschüsse bestand im Ruhrrevier unter dem Vorsitz des leider verunglückten Reichs- und Staatskommissars Mehlich-Dortmund.“ Den Ausschüssen gehörten Vertreter der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerseite paritätisch an. Hinzu traten Vertreter bzw. Beauftragte der Reichs- und der Preuß. Staatsregierung (BA: NL Jarres  49).

Zu 1)

[Allgemeine Lage.]

Es wurde im allgemeinen die Lage in den besetzten Gebieten erörtert und darauf hingewiesen, besonders von Vertretern der Gewerkschaften, daß die vielfachen Notizen in der Presse, der passive Widerstand solle gemildert oder gar aufgegeben werden, äußerst schädlich seien3. In dieser Hinsicht müsse auf die Presse eingewirkt werden.

3

Der StKom. für öffentliche Ordnung berichtete am 5.9.23, es seien beunruhigende Anzeichen zu bemerken: „Es handelt sich um herumschwirrende Gerüchte, die Regierung beabsichtige ihrerseits, den passiven Widerstand abzublasen oder ihn zum mindesten in mehrfacher Hinsicht abzuschwächen, um einen günstigeren Verhandlungsboden zu finden. – Diese Gerüchte, die zum Teil auf Presseerörterungen zurückzuführen sein mögen, zum Teil einen unkontrollierbaren Ursprung haben, gestalten die ohnehin gespannte Lage noch nervöser. Es ist von Gewerkschaftsseiten nicht mit Unrecht darauf hingewiesen worden, daß, wenn tatsächlich ein Aufgeben oder eine andere Art des passiven Widerstandes beabsichtigt sei, es verhängnisvoll wirken würde, wenn dies vorzeitig bekannt würde“ (R 43 I /215 , Bl. 12).

Zu 2)

[Ernährungslage in den besetzten Gebieten unter besonderer Berücksichtigung der für die Herbstversorgung der Bevölkerung in Aussicht genommenen Maßnahmen.]

Der Vertreter des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft führt aus, daß die künftige Versorgung mit Kartoffeln zu Schwierigkeiten keinen Anlaß geben könne, da die Ernte zufriedenstellend sei4. Er teilt mit, daß die Reichsbank Kredite für Genossenschaften und für den Großhandel zur Beschaffung von Kartoffeln zugesagt habe5.

4

In einem „Bericht über den Stand des Wirtschaftslebens und der Volksernährung im August 1923“ des REM an den RPräs. hieß es hingegen: „Die Ernährungslage im besetzten und Einbruchsgebiet ist weiterhin gespannt geblieben. Insbesondere fehlen bis jetzt inländische Kartoffeln infolge der verspäteten Kartoffelernte im unbesetzten Deutschland. Holländische Kartoffeln, die eingeführt werden, sind infolge ihres hohen Preises auf Absatzschwierigkeiten gestoßen“ (R 43 I /1273 , Bl. 9). Zu berücksichtigen war auch das Preisgefälle zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet; während in der 3. Augustwoche in Berlin ein Kilo Kartoffeln 56 000 M kostete, betrug der Preis in Essen für die gleiche Menge 220 000 M (R 43 I /1273 , Bl. 8). Von der Kartoffelernte im Herbst wurde ein mittlerer Ertrag erwartet (ibid., Bl. 11).

5

Im Bericht des REM für den RPräs. (s. Anm. 4) wurde mitgeteilt, daß die Rbk sich bereit erklärt habe, Wechsel zu diskontieren, „welche neben der Unterschrift des Kartoffelhändlers noch die eines Kommunalverbandes tragen“. Außerdem war eine Kartoffelkreditbank gegründet worden, die vom Reich eine Garantie für die Finanzierung des Kartoffelumschlags in Höhe von 300 000 GM erhalten hatte (R 43 I /1273 , Bl. 11).

Über die Frage der Versorgung mit Getreide könne er noch keine abschließenden Mitteilungen machen6.

6

Da das Angebot auf dem freien Getreidemarkt nur gering war und wegen der fortschreitenden Inflation und der Verknappung der Devisen eine Voraussetzung für „die gesicherte Einfuhr größerer Getreidemengen“ nicht bestand, wurde im REMin. bezweifelt, daß nach dem 15. Oktober eine sichere Brotvervorgung gewährleistet sei (Bericht des REM vom 30.9.23; R 43 I /1273 , Bl. 10).

Ministerialdirektor Sitzler ist der Ansicht, daß mit Einführung einer wertbeständigen Währung sich alles bessern werde.

Ein Gewerkschaftsvertreter macht noch auf die Wichtigkeit eines gesicherten Transportes der Lebensmittel aufmerksam.

Zu 3)

[Brennstoffversorgung für Industrie und Haushalt in den besetzten Gebieten.]

Der Vertreter des Kohlenkommissars führt folgendes aus:

Die Deputatkohlenempfänger hätten sich eingedeckt. Er schätze den monatlichen Bedarf für Hausbrand, Bäckereien und Mühlen auf 300 000–400 000 t. Eine Versorgung mit ausländischer Kohle sei unmöglich, da die Frage der Beschaffung von Devisen in ausreichendem Maße unüberwindliche Schwierigkeiten bereite. Es müsse genau geprüft werden, was in Bezug auf die Kohlenversorgung, insbesondere der Betriebe, geschehen solle.

Zu 4)

[Tarifpolitik der Fernstraßenbahnen in den besetzten Gebieten… .]

Zu 5)

[Verhalten von Beamten und Gewerkschaftsfunktionären zu der Forderung der Besatzung, als Geisel mit den Regiezügen zu fahren.]

[183] Ein Gewerkschaftsvertreter der Eisenbahn vertritt die Auffassung, daß unter keinen Umständen deutsche Geiseln in den Regiezügen fahren dürften7. Jeder Deutsche habe ein Verlangen der Besatzungsbehörden, als Geisel mitzufahren, abzulehnen. Die Eisenbahnbeamten können sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der passive Widerstand deshalb abgebaut werden solle, weil er nunmehr auch von anderen Kreisen als den Eisenbahnern, die bisher die Hauptlasten des Abwehrkampfes getragen hätten8, Opfer verlange9. Die Industrie im besetzten Gebiet habe es sehr geschickt verstanden, stets den passiven Widerstand der Eisenbahnbeamten als wesentlichstes Moment hinzustellen, um die Aufmerksamkeit von ihren Betrieben abzulenken und ihre Betriebe erhalten zu können. Das müsse einmal ganz offen ausgesprochen werden10.

7

Nach L. Erdmann, Die Gewerkschaften im Ruhrkampf, S. 123, hatten die Franzosen mit der Verschärfung der Besatzungsverwaltung seit Ende Februar 1923 dt. Eisenbahner gezwungen, auf Lokomotiven der unter frz. Regie fahrenden Bahnen mitzufahren, um dadurch Attentate zu verhindern.

8

Die RReg. hatte am 25.3.23 die Weisung erlassen, daß dt. Eisenbahner Anordnungen und Verfügungen der frz. Eisenbahnverwaltung im Ruhrgebiet unter keinen Umständen befolgen dürften; Zuwiderhandlungen würden disziplinarisch geahndet. Daraufhin war es zu Massenausweisungen gekommen (Kabinett Cuno, Dok. Nr. 95, Anm. 5). S. a. L. Erdmann, Die Gewerkschaften im Ruhrkampf, S. 95 ff.

9

Gemeint sein dürfte das „Gesetz über die Erhebung einer außerordentlichen Abgabe aus Anlaß der Ruhrbesetzung (Rhein-Ruhr-Abgabe)“ vom 11.8.23 (RGBl. I, S. 774  ff.).

10

Zu Mißstimmungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern war es im Ruhrgebiet besonders im August 1923 gekommen, s. dazu L. Erdmann, Gewerkschaften im Ruhrkampf, S. 210; H. Spethmann, 12 Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, Berlin 1929, S. 189 ff.

Ministerialdirektor Sitzler ist der Auffassung, daß man sehr wohl in einzelnen Fällen es zulassen müsse, daß Deutsche als Geiseln in Regiezügen führen. Zum Beispiel könne man einen prominenten Gewerkschaftsvertreter nicht der Gefahr der Ausweisung dadurch aussetzen, daß man ihm untersage, als Geisel in einem Regiezug mitzufahren.

Ein anderer Gewerkschaftsvertreter schließt sich dieser Auffassung an.

Zu 6)

[Benutzung der Regiezüge durch Vertreter der Gewerkschaften.]

Ein Vertreter der Eisenbahngewerkschaften spricht sich dahin aus, daß Regiezüge von Vertretern der Gewerkschaften nicht benutzt werden dürften.

Die übrigen anwesenden Gewerkschaftsvertreter wollen Ausnahmen in wichtigen Fällen zulassen.

Zu 7)

[Verschiedenes.]

Ein Gewerkschaftsvertreter teilt folgendes mit: Das städtische Arbeitsamt in Düsseldorf vermittelt die Überweisung von Arbeitskräften an die Franzosen. Dieses Vorgehen sei unglaublich und errege die gesamte Bevölkerung.

Ministerialdirektor Sitzler sagt zu, Ermittlungen dahin anzustellen, ob die mitgeteilten Angaben zutreffen11.

11

Weiteres wurde in R 43 I nicht ermittelt.

Die Sitzung wurde sodann geschlossen.

Extras (Fußzeile):