1.4 (wir1p): IV Wirtschafts- und Finanzpolitik

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 53). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 1Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

Extras:

 

Text

[LV] IV Wirtschafts- und Finanzpolitik

In seiner Regierungserklärung vom 1.6.1921 hatte Wirth bereits auf die enge Verflechtung der Wirtschaftspolitik mit den Erfordernissen der Kontributionsverpflichtungen hingewiesen. Das Wirtschafts- und Finanzprogramm, das er dem Reichstag entwickelte, enthielt dementsprechend auch in erster Linie eine Ankündigung von Maßnahmen, die dem Reich die notwendigen Geldquellen hierfür erschließen sollten: eine Novellierung der Steuergesetzgebung und vage Pläne zur Erfassung der Sachwerte; beides ist im Zusammenhang mit der Reparationspolitik schon erörtert worden255. Darüber hinaus propagierte Wirth eine Steigerung der Produktion und nationalwirtschaftliche Sparsamkeit, worunter er im einzelnen die Verbesserung der Zahlungsbilanz, die Drosselung der Einfuhr von Luxuswaren, soweit möglich, und eine Intensivierung der Wirtschaft, durch die das Reich zum „Agrarstaat und Industriestaat“ werden sollte, verstanden wissen wollte.

255

Siehe oben S. XXXIV ff.

Wenn das wirtschafts- und finanzpolitische Konzept in diesen Erklärungen verschwommen blieb, so war mit der Ankündigung des Abbaues der Reichssubventionen für die Lebensmittelversorgung, der jedoch das Lohn- und Preissystem nicht aus dem Gleichgewicht bringen sollte, ein klar umrissenes wirtschaftspolitisches Ziel angegeben.

Zu Beginn der Regierung Wirth gelang es, durch die ordnungsgemäße Verabschiedung des Reichshaushalts zu einer normalen Etatwirtschaft zu kommen. Darüber hinaus sollte das Finanzgebaren des Reiches dadurch auf eine feste Grundlage gestellt werden, daß die Regierung eine zur Regierungszeit Fehrenbachs entworfene Reichshaushaltsordnung in den Reichstag einbrachte, die allerdings erst im Dezember 1922 verabschiedet werden konnte256.

256

Siehe Dok. Nr. 44, P. 2 u. Dok. Nr. 41, P. 6; Dok. Nr. 65, Anm. 1.

Mit dem zwischen dem Reichsfinanz- und dem Reichsernährungsministerium in seinem Ausmaß umstrittenen Abbau der Brotgetreideverbilligung wandte sich die Regierung vorläufig von der Zwangswirtschaft ab: nach einigem Hin und Her zwischen den Ressorts und nach entsprechender Entschließung des volkswirtschaftlichen Ausschusses des Reichstages einigte man sich auf Maßnahmen, die eine Erhöhung des Brotpreises um 40% vom 15.8.1921 an zur Folge hatten257. Eine Initiative des Reiches in der Lohnpolitik sollte im August etwaigen Forderungen der Gewerkschaften und sonstiger Interessenverbände zuvorkommen258.

257

Siehe u. a. Dok. Nr. 47, P. 7 u. Dok. Nr. 50, P. 3.

258

Siehe Dok. Nr. 65, P. 3.

Das zweite Kabinett Wirth erhielt einen wirtschaftspolitischen Anstoß durch das Programm der Gewerkschaften vom 21. November 1921, in dem sie angesichts der Beschlüsse des Reichsverbandes der deutschen Industrie und der wachsenden Teuerung gesetzgeberische Maßnahmen forderten: eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik, die die Leistungsfähigkeit der Privatwirtschaft ausnutzen sollte, und eine Stillegung der Notenpresse; ferner sollten die Reichsbetriebe auf eine wirtschaftliche Basis gestellt und der Haushalt[LVI] balanciert werden. Diese Eingabe löste Stellungnahmen einzelner Reichsressorts aus, zu den geforderten gesetzgeberischen Maßnahmen führte sie jedoch nicht259. Unabhängig von den Plänen der Gewerkschaften, wohl eher, um dem Reichsverband der deutschen Industrie zuvorzukommen, legte das Reichsverkehrsministerium einen Referentenentwurf zum Eisenbahnfinanzierungsgesetz vor, der das Ziel verfolgte, die Reichsbahn in ein selbständiges wirtschaftliches Unternehmen mit eigenem Haushalt zu überführen; doch blieben diese Pläne im Ansatz stecken260.

259

Siehe Dok. Nr. 150, Anm. 3.

260

Siehe Dok. Nr. 163, P. 5 u. Anm. 4.

Umfassende Pläne zur Balancierung des Reichshaushaltes und zur Stilllegung der Notenpresse sollte das Finanzministerium vorlegen, aber auch sein Rundschreiben vom 9.12.1921 zeigte nur einen geringen Spielraum für wirkungsvolle Maßnahmen auf, darunter den Abbau der Zuschüsse des Reiches zu den Reichsbetrieben und für die Ernährung, – beides Maßnahmen, deren Folgen die Bevölkerung treffen würden261.

261

Siehe Dok. Nr. 165, Anm. 1.

Der dauernde Preisauftrieb, den die Regierung mit Verordnungen und Gesetzen gegen den Lebensmittelwucher zu bekämpfen versuchte262, führte trotz der für Januar 1922 vorgesehenen Gehaltserhöhungen263 zu Unruhen unter den Arbeitnehmern, weil die Löhne und Gehälter dem Kaufkraftschwund nicht standhielten. Diese Unruhen erreichten Ende Dezember mit einem allerdings schnell beigelegten Streik der Eisenbahnergewerkschaften einen vorläufigen Höhepunkt264. In grundsätzlichen Verhandlungen mit der Reichsregierung über die Finanzpolitik des Reiches hatten die Gewerkschaften u. a. noch einmal auf die steigende Unruhe in der Arbeiterschaft hingewiesen265. Die allgemeine Unzufriedenheit und die Unsicherheit der lohnpolitischen Lage führte dann allerdings zu dem Streik der Eisenbahnbeamten, der in seinem Verlauf die Gefahr einer Regierungskrise heraufbeschwor.

262

Siehe u. a. Dok. Nr. 158, insbesondere Anm. 4 u. Dok. Nr. 163, P. 4.

263

Siehe Dok. Nr. 189, Anm. 1.

264

Siehe Dok. Nr. 176, P. 5 u. Dok. Nr. 178.

265

Siehe Dok. Nr. 187 u. Dok. Nr. 191.

Auf die Streikabsichten der Reichsgewerkschaften der deutschen Eisenbahnbeamten und -anwärter, die zur Dachorganisation des deutschen Beamtenbundes gehörten, hatte Groener mit einer Bekanntmachung vom 25.1.1922 reagiert, in der er den Streik untersagte266. Am 1.2.1922 hatte eine Verordnung des Reichspräsidenten, die den Streik für Beamte verbot und die Aufforderung dazu unter Strafe stellte, die feste Haltung der Reichsregierung bekräftigt. Diese Taktik der Regierung führte jedoch nicht zum gewünschten Erfolg, und der Streik brach aus267.

266

Wortlaut s. Dok. Nr. 193, Anm. 6.

267

Siehe Dok. Nr. 197, Anm. 3 u. Dok. Nr. 198, Anm. 1.

In dieser Situation nahm der Reichskanzler die Fäden der Verhandlungsführung in die Hand, indem er sich auf einen Vermittlungsvorschlag derjenigen Gewerkschaften einließ, die den ohne Fühlungnahme mit dem Spitzenverband[LVII] proklamierten Streik ablehnten. Sie erließen einen Aufruf an die Streikenden, zur Arbeit zurückzukehren268, während der Reichskanzler zugestand, nach Abbruch des Streiks die Aufhebung der Verordnung des Reichspräsidenten zu erwägen. Auf Grund einer Vermittlungsaktion der MSPD269, die möglich geworden war, nachdem auch der Beamtenbund sich vom Streik seiner Unterorganisation distanziert hatte270, nahm er Kontakt mit den Gewerkschaften und dem Beamtenbund als dem Vertreter der Reichsgewerkschaft über die Bedingungen des Streikabbruchs auf.

268

Siehe Dok. Nr. 197; Wortlaut des Aufrufs Dok. Nr. 197, Anm. 4.

269

Siehe Dok. Nr. 199, Anm. 2.

270

Siehe Dok. Nr. 198, Anm. 5.

Im Kabinett kam es hierüber zu harten Auseinandersetzungen, wobei insbesondere Bauer und Hermes als Gegner der Wirthschen Verhandlungstaktik auftraten; Wirth konnte jedoch den Beschluß durchsetzen, daß über den Abbruch des Streiks unter der Bedingung verhandelt werden sollte, daß die Reichsgewerkschaft sich durch den Beamtenbund vertreten lasse271. Im Wege dieser Verhandlungen erreichte er schließlich eine Beilegung des Streiks durch ein gewisses Entgegenkommen in der Frage der ausstehenden Disziplinierungen272.

271

Siehe Dok. Nr. 199.

272

Wortlaut der ausgehandelten Erklärung s. Dok. Nr. 203, Anm. 4.

Im Reichstag kam es zu heftigen Debatten über den von Wirth während des Lohnkonfliktes beschrittenen Weg; er sah sich gezwungen, das Vertrauensvotum zu stellen, das nur mit knapper Mehrheit zu seinen Gunsten entschieden wurde273. Auch im Kabinett gab es ein Nachspiel: eine scharfe Kontroverse zwischen Groener, der sein Ressort in den Hintergrund gedrängt sah, und Wirth führte fast zu einer Regierungskrise274.

273

Siehe RT Bd. 352, S. 5823 .

274

Siehe Dok. Nr. 211, P. 4.

Zu Beginn des Jahres 1922 hatte die Wirtschaftspolitik der Regierung von außen neue Anstöße erhalten: durch die Resolutionen von Cannes und die Anregungen, die die Alliierten, insbesondere die Engländer auf der Konferenz von Cannes formuliert hatten275. Sowohl die Vorlage des Gesetzentwurfes über die Autonomie der Reichsbank276 als auch die Vorbereitungen zur Konferenz von Genua277, die vom Auswärtigen Amt getroffen wurden, gingen hierauf zurück.

275

Siehe RT-Drucks. Nr. 4140 , S. 44 Bd. 372 u. Bericht Rathenaus vor dem Kabinett Dok. Nr. 173 u. Dok. Nr. 175.

276

Siehe Dok. Nr. 214, Anm. 1.

277

Siehe dazu Dok. Nr. 234, Anm. 1.

Durch die auch in anderen Staaten verwirklichte Autonomie der Reichsbank hoffte die Reparationskommission insbesondere, eine Einflußnahme der deutschen Regierung auf die Vermehrung der Zahlungsmittel zu unterbinden; die Reichsbank, die soeben mit der Neufassung des Gesetzes über den Kassenbestand der Reichsbank „Reparationspolitik“ betrieben hatte278, griff den Vorschlag bereitwillig als Legalisierung eines bereits bestehenden Zustandes auf,[LVIII] und nur das Reichswirtschaftsministerium meldete bei der Beratung des entsprechenden Gesetzentwurfs Bedenken an279.

278

Siehe Dok. Nr. 172, P. 1, Anm. 1.

279

Siehe Dok. Nr. 214; zur Entstehung des Gesetzes s. Dok. Nr. 216, Anm. 4.

Mit einer Resolution von Cannes vom 6.1.1922 hatten die Vereinigten Alliierten Mächte einstimmig eine Konferenz aller europäischen Staaten über wirtschaftliche und finanzielle Fragen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Mittel- und Osteuropa beschlossen, die nach Genua einberufen werden sollte. Nach dem Regierungswechsel in Frankreich, bei dem Poincaré Briand abgelöst hatte, interpretierte die französische Regierung in einer Zirkularnote vom 15. 2. 1922 die für die Konferenz von Genua aufgestellten Tagesordnungspunkte jedoch dahingehend, daß eine Möglichkeit zur Diskussion des Reparationsproblems nicht mehr gegeben sei, und machte ihre Teilnahme von der Zustimmung der übrigen einladenden Mächte hierzu abhängig280. Das Auswärtige Amt bereitete in Zusammenarbeit mit den einzelnen Ressorts die Konferenz, auf der über das wirtschaftliche und finanzielle Hauptproblem des Reiches nicht gesprochen werden sollte, zwar gründlich vor, doch klang schon vorher immer wieder an, was sich im Ministerrat vom 5. April mit aller Deutlichkeit zeigte281: niemand im Kabinett hegte hochgespannte Erwartungen in bezug auf die Ergebnisse der Genueser Konferenz. Rathenau wies noch einmal vor allem auf die Verengung des ursprünglichen Programms hin: infolge des Fernbleibens der Vereinigten Staaten könnten die Probleme der internationalen Entschuldung, wegen der Verschlechterung der englisch-französischen Beziehung die Reparationsprobleme nicht berührt werden. Als positives Ergebnis müsse man infolgedessen bereits ansehen, wenn internationale Kommissionen zustande kämen, die möglicherweise auch die Konferenz überdauerten, und wenn es gelänge, spätere Begegnungen vorzubereiten, in denen die wichtigsten deutschen Probleme erörtert werden könnten.

280

Siehe Material über die Konferenz von Genua, RT-Drucks. Nr. 4378, Bd 372 , hier auch die Ergebnisse der Konferenz, und Dok. Nr. 241.

281

So hatte etwa Rathenau auf die Schwäche der Position Lloyd Georges hingewiesen, der zufolge eine Verschiebung des Konferenzprogrammes zu Gunsten der russ. Frage eingetreten sei (Dok. Nr. 230, Dok. Nr. 231 und Dok. Nr. 234 bis Dok. Nr. 236).

Angesichts dieser im Kabinett nicht umstrittenen Prognosen Rathenaus, erschien es schwierig, der Delegation präzise Instruktionen für die Verhandlungen mitzugeben, und selbst die Form eines möglicherweise notwendigen Protestes gegen die Einengung des Konferenzprogrammes blieb unbestimmt. Frühere Erfahrungen und die wenig präzisen Weisungen für die Delegation, an deren Spitze allerdings der Reichskanzler stand, bestimmten einige Kabinettsmitglieder, insbesondere aber den Reichspräsidenten, vor der Gefahr von Differenzen zwischen Kabinett und Delegation zu warnen. Der Reichspräsident verwies hierbei nachdrücklich auf seine verfassungsrechtliche Stellung, nach der er das Reich völkerrechtlich zu vertreten habe und die Delegation diese Funktion nur auf der Konferenz ausübe. Verbindliche Abmachungen könnten in Genua aus diesem Grunde nur nach vorheriger Verständigung mit ihm getroffen werden282.

282

Siehe Dok. Nr. 241; ähnlich der RPräs. schon in Dok. Nr. 235.

[LIX] Der Verlauf der am 10.4.1922 eröffneten Konferenz – die Arbeit der Vollversammlungen und der Kommissionssitzungen – ist in einem Weißbuch dokumentiert, die Akten der Reichskanzlei enthalten nur wenig hierüber283. Die Überlieferung in den Akten der Reichskanzlei setzt mit dem Protokoll einer Delegationssitzung vom 17.4.1922 ein – der Rapallovertrag ist zu diesem Zeitpunkt bereits unterzeichnet.

283

Siehe RT-Drucks. Nr. 4378 Bd. 373 ; hier auch die Beschlüsse der einzelnen Kommissionen.

In zum Teil scharfen Auseinandersetzungen einmal innerhalb der Genua-Delegation, zum anderen mit dem in Berlin verbliebenen Kabinett wurde um eine Bewertung des überraschend abgeschlossenen Vertrages mit Rußland gerungen. Die Reaktion der an der Konferenz teilnehmenden Mächte auf den Abschluß des Rapallovertrages verschärfte die bestehenden Gegensätze noch284.

284

Zu den Differenzen innerhalb der Delegation s. u. a. Dok. Nr. 248 u. insbesondere Dok. Nr. 251; zu den Vorgängen im Kabinett s. Dok. Nr. 250 u. Dok. Nr. 252, P. 3; in Berlin war man nicht nur über den Abschluß des Rapallovertrages, sondern auch über die Auffassung der Delegation, sie stelle das Kabinett dar, verärgert (s. Dok. Nr. 252, P. 4).

In Genua wies Hermes wiederholt darauf hin, daß in der finanz- und reparationspolitischen Atmosphäre das Vertrauen zerstört sei, und er betonte in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, mit den Franzosen direkt Gespräche über Reparationen anzuknüpfen, weil der Versuch, in dieser Frage über die Engländer auf sie einzuwirken, wenig aussichtsreich erscheine285.

285

Siehe Dok. Nr. 248.

Das Berliner Kabinett unter Vizekanzler Bauer schwenkte, insbesondere, nachdem eine Entspannung der deutsch-englischen Beziehungen eingetreten und die weitere Teilnahme Deutschlands an den Genueser Verhandlungen gesichert war, auf eine die Rückkehr der Delegation und ihre Berichterstattung abwartende Haltung ein286.

286

Siehe Dok. Nr. 250 u. Dok. Nr. 251, Anm. 1.

Am 3. Mai 1922 berichtete zunächst Hermes, der die Konferenz vor ihrer Beendigung verlassen hatte, vor dem Kabinett und vor den Parteiführungen über die Verhandlungen in der Finanzkommission, die er als erfolgreich bezeichnete287. Der Abschluß des Rapallovertrages habe – und mit dieser Ansicht vertrat er die auch vom Reichskanzler geäußerte Meinung288 – die Atmosphäre in Genua nur vorübergehend belastet289.

287

Siehe Dok. Nr. 259 u. Dok. Nr. 260.

288

Siehe Telegramm Wirth an den RPräs. vom 2.5.22 in Dok. Nr. 260, Anm. 2.

289

Siehe Dok. Nr. 260.

Ein Bericht der übrigen Delegationsmitglieder, die entgegen der ursprünglichen Absicht Wirths, in München eine Zwischenstation einzulegen, am 20.5.1922 doch unmittelbar nach Berlin zurückkehrten290, ist nicht in die Akten der Reichskanzlei gelangt: zwar stand die Berichterstattung am 22. und 23. 5. dreimal auf der Tagesordnung, doch beriet man in Wirklichkeit über die Verhandlungen des Ministers Hermes mit der Reparationskommission in Paris, was Wirth als vordringlich bezeichnet hatte291. In diesen Beratungen[LX] trat der zwischen der Berliner Regierung und der Delegation aufgetretene Zwiespalt deutlich zutage, etwa in der Polemik Bauers gegen die nach seiner Meinung von der Delegation betriebene „Politik auf eigene Faust“292. Eine spezielle Informierung des Kabinetts durch den Reichskanzler über den Verlauf der Genueser Konferenz und die Vorgänge um Rapallo ist nicht aktenkundig293.

290

Siehe Dok. Nr. 274, P. 7.

291

Siehe Dok. Nr. 277; Dok. Nr. 278 u. Dok. Nr. 279.

292

Siehe Dok. Nr. 277.

293

Die Aufforderung zu einer solchen Besprechung s. Dok. Nr. 279.

Als Folge des Markverfalls294 beschäftigte sich das Kabinett zunächst nur routinemäßig mit Entwürfen zur Anpassung von Gesetzen an die Geldentwertung, mit Besoldungsfragen und mit Neufestsetzungen des Preises für Umlagegetreide, über die der Brotpreis beeinflußt wurde295.

294

Zur Kursentwicklung seit April 1922 s. Darstellung Havensteins in Dok. Nr. 378.

295

Das Ziel der RReg., die Subventionen abzubauen, ließ sich infolge der Inflation zunächst nicht weiterverfolgen (s. Dok. Nr. 314, P. 2).

Ein rapider Währungsverfall nach der Ermordung Rathenaus ließ in wachsendem Maße auch das Vertrauen des Inlandes in die Mark schwinden; dies führte zunehmend zu einer Flucht aus der Mark und damit einem Steigen der Devisenkurse und zu immer neuer Teuerung. Angesichts der verhängnisvollen Wirtschaftsentwicklung, die in der Bevölkerung mit wachsender Neigung zu Unruhen verfolgt wurde296, legte das Reichswirtschaftsministerium im August 1922 einen Katalog möglicher Maßnahmen zur Eindämmung des Marksturzes vor. Vorgesehen waren u. a. Einfuhrbeschränkungen für Luxuswaren, Kontrolle des Devisenhandels und in diesem Zusammenhang zur Bekämpfung der Spekulation die Emission einer wertbeständigen Goldschatzanweisung297. Das Kabinett vertagte die Beschlußfassung darüber bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung über die Stundung der fälligen Ausgleichszahlungen gefallen sei298.

296

Vgl. Dok. Nr. 296, P. 1.

297

Siehe Dok. Nr. 341, Anm. 1.

298

Siehe Dok. Nr. 344, Anm. 1.

Wenig später erhielt das Reichswirtschaftsministerium Unterstützung durch eine auch Ernährungs- und Transportfragen einschließende, umfassende Eingabe der Gewerkschaften an den Reichskanzler, die in einer Chefbesprechung eingehend erörtert wurde299. Zu einer intensiven Beratung der Pläne des Reichswirtschaftsministers kam es jedoch erst im Oktober, als die entsprechenden Gesetzentwürfe vorgelegt wurden.

299

Siehe Dok. Nr. 352, Anm. 2 u. Dok. Nr. 355.

Mit seinem Gesetzentwurf zur Einschränkung der Spekulation in Devisen berief sich Schmidt auf die Forderung Stresemanns nach energischen Maßnahmen auf diesem Gebiet. Um das „ehrliche Kapital vor ständiger weiterer Entwertung“ zu schützen, legte er gleichzeitig einen Plan zu wertbeständiger Anlagemöglichkeit vor300. Während jedoch der Gesetzentwurf zur Einschränkung der Devisenspekulation die Zustimmung des Kabinetts fand und auf dem Verordnungswege[LXI] erlassen wurde, vertagte man die Beschlußfassung über die als Ergänzungsmaßnahme geplante wertbeständige Anleihe301.

300

Siehe Dok. Nr. 382, P. 7.

301

Siehe Dok. Nr. 384; zum Erlaß der VO s. Anm. 3.

Wenige Tage später legte das Reichsfinanzministerium abändernde Vorschläge zu den Plänen für eine wertbeständige Anleihe vor, die zu grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten jedoch nicht führten302. Aber schon bei der ersten Beratung dieser Pläne widersetzte sich Havenstein für die autonome Reichsbank einer Ausgabe von Goldschatzanweisungen in Höhe der geplanten 400 Millionen Mark und wollte diesen Betrag auf höchstens 100 Millionen Mark herabgesetzt wissen303. Damit war – und das wurde auch in der Sitzung vom 24. Oktober 1922 deutlich304 – das Projekt des Reichswirtschaftsministeriums gescheitert.

302

Siehe Dok. Nr. 386, Anm. 1; der Vorschlag des RWiMin. ist zudem mit ausführlicher Begründung abgedruckt in: Hirsch, Währungsfrage, S. 69 ff.

303

Siehe Dok. Nr. 386; schriftl. Stellungnahme des Rbk-Kuratoriums vom 20.10.22 dazu abgedruckt in: Hirsch, Währungsfrage, S. 75 ff.

304

Siehe Dok. Nr. 392.

In der Kabinettssitzung vom 24.10.1922 hatte Schmidt nicht nur seinen Plan der wertbeständigen Anleihe, sondern außerdem offenbar mit Unterstützung seiner Fraktion den von Hilferding bereits im Vorwärts veröffentlichten Plan einer Markstützungsaktion vertreten, die mit 300 Millionen Mark aus dem Goldbestand der Reichsbank finanziert werden sollte. Havensteins Festhalten an der Unantastbarkeit des Goldbestandes, solange die deutsche Zahlungsbilanz passiv und die Reparationsfrage ungeklärt sei, deutete die Möglichkeit eines Konfliktes an, der möglicherweise nur wegen des Rücktritts der Regierung nicht zum Ausbruch kam305.

305

Siehe Dok. Nr. 392 mit Anm. 6.

In einem Schreiben vom 11. November 1922 an den Reichskanzler erklärte sich die Reichsbank u. a. nur unter der Voraussetzung, daß das Reich für zwei Jahre von allen Reparationslasten befreit bleibe, bereit, die Mark mit 500 Millionen aus dem Goldbestand zu stützen306.

306

Siehe Dok. Nr. 405; das in der Note an die Repko vom 14.11.22 enthaltene Stabilisierungsprogramm der RReg. bezog sich u. a. auch auf das Angebot der Rbk.

Als das Kabinett Wirth zurücktrat, war trotz der eindringlichen Warnungen von Wirtschaftsminister Schmidt307 und verschiedener Pläne wenig zur Eindämmung der Inflation geschehen.

307

Siehe Dok. Nr. 382, P. 7.

Extras (Fußzeile):