1.156.3 (wir2p): 3. Erklärung des Reichskanzlers.

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3. Erklärung des Reichskanzlers.

Der Reichskanzler bat, seine folgenden Ausführungen vertraulich zu behandeln. Er habe seit mehreren Tagen eine Reihe von Anregungen geprüft, die an ihn gelangt seien. Der französische Vorstoß, die englische Neuorientierung und der Blick auf den Dollar zeigten das ganze Elend, in dem wir uns befänden. Dies könnten wir nur überstehen, wenn eine Konzentration aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte erfolge. Die Reparationskommission habe die notwendigen Folgerungen nicht gezogen. Sache der Regierungspolitik sei es, gewisse Erklärungen abzugeben, daß es Menschen- und Christenpflicht sei, das eigene Volk vor dem Schwersten zu bewahren, Sachlieferungen und Kohlenlieferungen nicht mehr in dem bisherigen Umfang aufrechtzuerhalten und dem Vorstoß der Franzosen zu begegnen. Es müsse daher erwogen werden, was der Reparationskommission gegenüber vorgeschlagen werden könne. Er sei sich bewußt, daß der Art. 56 der Reichsverfassung ihm auch Rechte gebe, von denen er Gebrauch machen und noch heute eine Aussprache mit dem Herrn Reichspräsidenten herbeiführen wolle1. Fraglich sei nur, in welcher Form eine Erklärung zu erfolgen habe. Voraussichtlich werde er vor dem Reichstag erklären, daß die bisherige Politik nicht mehr durchgeführt werden könne, daß eine Konzentration der wirtschaftlichen Kräfte notwendig sei und daß, ohne Arbeitsleistungen freiwilliger Art zu übernehmen, das deutsche Volk nicht mehr gerettet werden könne. Die Dinge dürften nicht so hingeschleppt werden wie bisher. Er halte es für seine Pflicht, hierauf aufmerksam zu machen und gemäß Art. 56 vorzugehen. Unter Konzentration aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte verstehe[1137] er eine Umbildung der Reichsregierung durch Heranziehung der besten Kräfte, die für den Wiederaufbau in Frage kämen. Er würde dankbar sein, den Rat seiner Herren Ministerkollegen zu hören, jedoch bitte er, die Debatte nicht auf die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit seines Schrittes auszudehnen. Selbstverständlich sei, daß die Reichspräsidentenfrage vorher im Reichstag entschieden werden müsse. Er bat um die grundsätzliche Stellungnahme der Kabinettsmitglieder zu dem Problem der Konzentration der Kräfte und der Erhöhung der Arbeitsleistung des gesamten deutschen Volkes.

1

Artikel 56 lautet: „Der Reichskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag.“

Der Vizekanzler war der Auffassung, daß gegen die vom Herrn Reichskanzler vorgetragenen Grundsätze kaum etwas einzuwenden sei, daß man nach besten Kräften in diesem Sinne gehandelt habe, und daß es nun darauf ankomme, die Grundsätze in die Tat umzustellen. Er nehme an, daß der Reichskanzler bei den Reparationsleistungen hinsichtlich der Kohle und der sonstigen Sachlieferungen eine Einschränkung, nicht etwa eine gänzliche Leistungsverweigerung im Auge habe. Was die Konzentration der Kräfte, d. h. Erweiterung der Regierung anlange, so stehe er persönlich dem Bestreben sympathisch gegenüber; welche Stellung seine Fraktion einnehmen würde, sei eine andere Frage. Es würde sich fragen, ob sich die vorhandenen Gegensätze angesichts der gesteigerten Not zurückstellen ließen.

Der Reichskanzler erwiderte, daß er mit Absicht von einer Konzentration der Kräfte gesprochen hätte, und daß er damit die Notwendigkeit betont habe, dem Reichskanzler freie Hand zu lassen, das Kabinett so zu bilden, wie es der Notlage entspräche. Er werde dem Reichspräsidenten Vortrag halten und bitte die Herren Ministerkollegen, sich für eine auf den Abend einzuberufenden Sitzung bereitzuhalten2. Voraussetzung für jedes Gelingen sei die absolute Geheimhaltung der Aussprache vor dem Vortrag beim Herrn Reichspräsidenten.

2

Protokoll einer solchen Sitzung in R 43 I nicht ermittelt, siehe aber Dok. Nr. 392, P. 2. Einem Protokoll ten Hompels zufolge hatte jedoch am 23.10.22 „mit dem Reichskanzler“ eine Besprechung stattgefunden, bei der „sämtliche Parteien von den Vereinigten Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei“ anwesend waren, und die der RK mit folgenden Worten eingeleitet hatte: „Reichskanzler weist darauf hin, daß § 56 der Verfassung dem Reichskanzler das Recht gebe, die Richtlinien der Politik festzulegen. Es sei selbstverständlich, daß der Kanzler hierbei Wert darauf legen müsse, im Einvernehmen mit dem Reichstag vorzugehen, insbesondere in so schwierigen Lagen wie der heutigen, welche sich mit der Lage der früheren Regierung im Sommer 1918 vor dem Zusammenbruch vergleichen lasse. Von seiten der Demokraten sei die bedeutsame Anregung gegeben zu einer Gesamtaussprache zwischen Kanzler und den Parteien. Die Sammlung der wirtschaftlichen Kräfte zur Rettung des deutschen Volkes müsse die Parole sein. Von akutem Interesse sei die erlassene Devisenordnung. Diese könne aber nicht isoliert behandelt werden, sondern nur im Rahmen der Gesamtpolitik. Mit einer einfachen Beseitigung sei es nicht getan. – Der Kanzler gibt sodann einen Rückblick über die Reparationspolitik. Das gesetzte Ziel, die Gegenseite zu der Einsicht von der Unmöglichkeit der geforderten Reparationsleistungen zu übeuzeugen, sei im wesentlichen erreicht. Die Goldzahlungen seien bereits eingestellt. Nun erhebe sich die Frage, ob wir noch weiterhin Sachleistungen unter den heutigen Verhältnissen ausführen könnten. Er habe die Alliierten niemals darüber im Zweifel gelassen, daß, wenn noch das Reparationsproblem bis zum Winter hingeschleppt würde, die Dinge eine Entwicklung nehmen könnten und voraussichtlich würden, die es dem deutschen Volke unmöglich machten, Sachlieferungen in dem bisherigen Umfange weiter zu leisten. Er sei sich noch nicht klar darüber, ob der Reichstag unter diesen Verhältnissen sich, wie beabsichtigt, morgen schon vertagen könne. Er müsse sich vorbehalten, eventuell noch eine programmatische Regierungserklärung vor seinem Auseinandergehen abzugeben.“ (Nachlaß ten Hompel /16). Debatte dieser Sitzung siehe Dok. Nr. 392 Anm. 4.

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