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[2095] Nr. 601
Der Vorsitzende der SPD Otto Wels an den Reichskanzler. 12. Dezember 1931
[Betrifft: Preis- und Lohnsenkung]
Sehr geehrter Herr Reichskanzler,
ich sehe mich gezwungen, Ihnen die Mitteilung zu machen, daß ich die allerernstesten Besorgnisse in Bezug auf die Zukunft habe, wenn es nicht gelingt, die Lohnsenkung bis zu einem Sichtbarwerden der Preisabzüge hinauszuzögern, so daß der Reallohn der Arbeiterschaft in der Tat nicht allzuweit unterschritten wird. Daß das Existenzminimum für die weitesten Schichten der Arbeiterklasse heute nicht mehr vorhanden ist, darüber brauche ich nicht zu reden.
Ich schreibe Ihnen die Zeilen, weil es mir an Zeit gebricht, den Versuch zu machen, Sie noch einmal persönlich zu sprechen, mit der dringenden Bitte, alles daran zu setzen, was noch Möglichkeiten nach dieser Richtung in sich schließt. Die Stimmen, die zu uns dringen, zwingen mich zu diesem Schritt1.
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Zur Haltung der SPD gegenüber der RReg. siehe auch Dok. Nr. 591 und Nr. 597.
Der RK beantwortete das Schreiben von Wels am selben Tage und führte u. a. aus: „… Mit Ihnen bin ich durchaus davon durchdrungen, daß eine unerträgliche Schrumpfung der Kaufkraft der breiten Massen der Bevölkerung durch die neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von den verhängnisvollsten Folgen sein würde. Von dieser Auffassung war auch die Reichsregierung bei ihren letzten Entschließungen beseelt. Den Niederschlag der Auffassung der Reichsregierung bitte ich aus der Einleitung der amtlichen Verlautbarung ersehen zu wollen, mit der die Reichsregierung am 8. d. M. die neue Notverordnung der Öffentlichkeit unterbreitet hat. In dem vorletzten Absatz dieser Einleitung wird ausdrücklich ausgeführt, daß die Reichsregierung sich erst, nachdem durch Maßnahmen der verschiedensten Art ein wesentliches Abgleiten sämtlicher Preise sichergestellt war, zu einem erneuten Eingriff in Löhne und Gehälter entschlossen habe. In demselben Absatz heißt es dann weiter: ‚Die schicksalhafte Verbundenheit von Löhnen und Preisen bleibt selbstverständlich auch für die Zukunft erhalten. Sollten heute noch nicht übersehbare Umstände eintreten, die diese Wechselbeziehung zwischen Löhnen und Preisen wesentlich verändern, so wäre eine neue Lage entstanden. Gerade um eine unerträgliche Schrumpfung der Kaufkraft des deutschen Volkes zu vermeiden, wird die Reichsregierung es als ihre vornehmste Pflicht ansehen, darauf zu achten, daß der jetzige Stand von Löhnen und Gehältern nur bei einem entsprechend tiefgehaltenen Stande aller Preise aufrecht erhalten bleiben kann.‘ Mit voller Absicht habe ich in dieser bedeutsamsten Frage des Gesamtprogramms die Reichsregierung in dieser eindeutigen Form für die Zukunft festgelegt. So sehr ich mir die Durchführung dieses Teiles des Gesamtprogramms mit allem Ernst und Nachdruck angelegen sein lassen werde, so war doch, da es sich hierbei um Fragen der zukünftigen Regierungspolitik handelt, eine gesetzliche Festlegung im Texte der Notverordnung technisch schwer durchführbar. Angesichts Ihrer Anfrage lege ich aber doch Wert auf diese Feststellung des Ziels der Regierungsarbeit, die ich übrigens schon wiederholt letzthin auch gegenüber dem Reichsarbeiterbeirat der Zentrumspartei getroffen habe“. Abschrift dieses Schreibens an Wels erhielt der RT-Abg. Ersing (Z). Der Entw. von der Hand des StS Pünder befindet sich in R 43 I/2375, S. 485–487.
Hochachtungsvoll
ergebenst
Ihr
O. Wels