1.78 (ma32p): Nr. 320 Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Mitteilungen des Fraktionsvorsitzenden der BVP Leicht. 19. Oktober 1927

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[1004] Nr. 320
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Mitteilungen des Fraktionsvorsitzenden der BVP Leicht. 19. Oktober 1927

R 43 I /2223 , Bl. 316–318 Abschrift1

1

Abschriften dieser Aufzeichnung übersandte StS Pünder im Auftrag des RK mit Begleitschreiben vom 20. 10. an den RFM und den RArbM „mit der Bitte um persönliche und vertrauliche Kenntnisnahme“; der RK werde die Angelegenheit in der nächsten Ministerbesprechung zur Erörterung bringen (R 43 I /2223 , Bl. 315).

[Wünsche der Bayer. Regierung betr. Belassung der Pfalz beim Landesarbeitsamt Bayern, Aufbringung der Mittel für die Besoldungserhöhung, Zurückstellung des Steuervereinheitlichungsgesetzes; Beilegung der Krise zwischen Bayern und dem Reich.]

Herr Prälat Leicht äußerte heute mir gegenüber den Wunsch, den Herrn Reichskanzler zu sprechen. Da dies im Augenblick infolge Abwesenheit des Herrn Reichskanzlers nicht möglich war, äußerte Herr Abgeordneter Leicht mir gegenüber seine Wünsche.

Es handelt sich um drei Punkte, und zwar zunächst um die Einrichtung des Landesarbeitsamts Pfalz. Bekanntlich soll das Landesarbeitsamt in der Südwestecke Deutschlands neben den Ländern Baden und Württemberg auch noch die Pfalz umfassen, während Bayern den Wunsch hat, die Pfalz entsprechend ihrer politischen Zugehörigkeit beim Landesarbeitsamt München zu belassen2. Herr Prälat Leicht erwähnte, daß er bereits mit dem Herrn Minister Brauns über die Angelegenheit gesprochen, bei diesem aber nicht viel Gegenliebe gefunden habe. Insbesondere habe der Minister darauf hingewiesen, daß die Reichsregierung nach Schaffung der selbständigen Reichsarbeitsverwaltung und Arbeitslosenversicherung3 für diese Dinge nicht mehr zuständig sei. Demgegenüber[1005] wies Herr Prälat Leicht aber darauf hin, daß nach einer Bestimmung des neuen Gesetzeswerkes der Reichsarbeitsminister in besonderen politischen Fällen ein Revisionsrecht habe4. Der Wunsch Bayerns ginge nun dahin, daß, falls wirklich die Reichsarbeitsverwaltung auf der Zuteilung der Pfalz zu dem südwestdeutschen Landesarbeitsamt bestehen sollte, der Reichsarbeitsminister von diesem seinem Vetorecht Gebrauch machen möchte. Wenn dies auch ein Einzelpunkt sei, habe er sich doch in Anbetracht der gesamtpolitischen Lage zu einem Prestigepunkt für Bayern entwickelt. Vor allem müsse auch bedacht werden, daß die Pfalz noch besetztes Gebiet sei. Falls diese unzweckmäßige Umorganisation geschaffen werde, sei zweifellos die Überführung von Akten notwendig, die wegen ihres politischen Charakters in diesen gefährdeten Grenzgebieten unmöglich anderen neuen Behörden überlassen werden könnten. Er habe den gemessenen Auftrag der bayerischen Regierung, mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit eines Entgegenkommens seitens der Reichsregierung hinzuwirken, und er dürfe deshalb ein Eingreifen des Herrn Reichskanzlers erwarten.

2

In Ausführung von § 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16.7.27 (RGBl. I, S. 187 ) hatte der vorläufige Vorstand der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung Anfang September 1927 einen Plan für die Neugliederung der Landesarbeitsamtsbezirke entworfen. Aus den bestehenden 22 Landesämtern für Arbeitsvermittlung sollten danach 13 Landesarbeitsämter mit großräumigen, wirtschaftlich leistungsfähigen Bezirken gebildet werden, nämlich: Ostpreußen, Schlesien, Brandenburg, Pommern, Nordmark, Niedersachsen, Westfalen, Rheinland, Hessen, Mitteldeutschland, Sachsen, Bayern und Südwestdeutschland. Der neuzubildende Landesarbeitsamtsbezirk Südwestdeutschland sollte das Gebiet der Länder Württemberg und Baden, den pr. Regierungsbezirk Sigmaringen sowie die bayer. Pfalz umfassen, die bisher zum bayer. Landesarbeitsamt gehörte (R 43 I /985 , Bl. 130–135; vgl. 155–158). Siehe dazu Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 374 f.; Syrup, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik, S. 308 ff.

Gegen die Absicht, die Pfalz aus dem Landesarbeitsamt Bayern auszugliedern, hatte der Verwaltungsausschuß des bayer. Landesamts für Arbeitsvermittlung in seiner Sitzung vom 24.9.27 einstimmig Widerspruch erhoben (R 43 I /985 , Bl. 161–170). Auch ein Teil der bayer. Presse und verschiedene bayer. Wirtschaftsorganisationen hatten gegen eine Abtrennung der Pfalz vom Landesarbeitsamt Bayern protestiert, wie die Reichsvertretung in München in ihren Berichten vom 24., 27. und 29. 9. an die Rkei mitteilte (R 43 I /2247 , Bl. 301–303, 305–308, 321–322, 329–330).

3

Gemäß AVAVG vom 16.7.27 (RGBl. I, S. 187 ) war die Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung als selbständige Körperschaft des öffentlichen Rechts gebildet worden. Die Eingliederung des bisherigen Reichsamts für Arbeitsvermittlung in die Reichsanstalt war am 15. 9. erfolgt (R 43 I /985 , Bl. 120).

4

Gemäß § 47 des AVAVG führte der RArbM die Aufsicht über die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung.

Der zweite und dritte seiner Sorgenpunkte sei die finanzielle Seite der Besoldungsordnung und das Steuerrahmengesetz. Bayern müsse verlangen, daß in irgendeiner Weise seinen finanziellen Wünschen bezüglich der Aufbringung der Mittel für die Besoldungsordnung entgegengekommen werde5. Ebenso habe Bayern den dringenden Wunsch, daß das Steuerrahmengesetz vorläufig nicht materiell gefördert werde6. Unter diesem Gesichtspunkt habe er die dringende Bitte auszusprechen, daß die bereits wieder für den 8. November und folgende Tage angesetzte Beratung des Steuerrahmengesetzes im Reichsrat nicht stattfinde. Es erscheine ihm auch ganz ausgeschlossen, daß, abgesehen von der bayerischen Einstellung zu diesem Gesetz, dieser Reichstag noch in der Lage sein werde, dieses hochbedeutsame Gesetz mit politisch größter Tragweite vor seiner Auflösung zu erledigen.

5

Siehe dazu Dok. Nr. 321.

6

Gemeint ist der Entwurf des Steuervereinheitlichungsgesetzes, der am 15.7.27 dem RR vorgelegt worden war; vgl. dazu Dok. Nr. 283.

Über den zweiten und dritten Punkt werde er morgen vormittag eine Aussprache mit dem Herrn Reichsfinanzminister haben. Von dem Ausgang dieser Besprechung werde es ganz wesentlich abhängen, wie seine politischen Freunde sich weiterhin politisch einstellen würden. Vertraulich teilte mir Herr Prälat Leicht noch mit, daß ihm an sich nach dieser Richtung hin eine völlig gebundene und klare Marschroute gegeben sei, aber er wolle entsprechend seiner ganzen politischen Einstellung doch noch versuchen, zuvor in friedlicher Weise die politische Krisis zwischen Reichsregierung und bayerischer Staatsregierung beizulegen7.

7

Im Bericht des Reichsvertreters in München, v. Haniel, vom 19.10.27 heißt es u. a.: „Wie ich von zuverlässiger Seite erfahre, wird in der Bayerischen Volkspartei die Lage infolge der Absicht der Reichsregierung, den ursprünglichen Standpunkt des Reichsfinanzministers aufrechtzuerhalten, tatsächlich sehr ernst aufgefaßt. Gestern und heute fanden Beratungen wegen der weiteren Haltung der Partei statt. Maßgebende Mitglieder sind indes der Ansicht, daß ein Austritt aus der Reichskoalition unterbleiben werde, wenn der Reichsfinanzminister auch nur auf anderem Wege unter Aufrechterhaltung des Finanzausgleichs etwa durch Entgegenkommen auf dem Wege der Postabfindung oder auf andere Weise Bayern wirksame Hilfe bieten werde. Dabei wird betont, daß grundsätzlich an der Sprengung der Koalition kein Interesse bestehe.“ (R 43 I /2248 , Bl. 101–103). Und am 20. 10. berichtete Haniel aus München u. a.: „Das politische Leben in Bayern wird heute beherrscht von der Frage, wie sich die Beziehungen Bayerns und der übrigen Länder zum Reiche künftig gestalten sollen. Die Angelegenheit ist durch die Besoldungsvorlage und den Entwurf des Steuervereinheitlichungsgesetzes derart in den Vordergrund gerückt worden, daß alle anderen innerpolitischen Fragen dahinter zurücktreten. Vom bayerischen Standpunkt aus gesehen handelt es sich dabei nicht etwa um einen föderalistischen Vorstoß, sondern lediglich um einen Verteidigungskampf um die Rechte, die Bayern aus der Reichsverfassung in finanzpolitischer Beziehung für sich herleitet. Die tatsächlichen Schwierigkeiten, in die die bayerischen Staats- und Gemeindefinanzen infolge ihrer Abhängigkeit vom Reich geraten sind – Schwierigkeiten, die nach hiesiger Ansicht durch die Besoldungserhöhung und das Steuerrahmengesetz ins Unerträgliche gesteigert werden würden –, werden so stark empfunden, daß sie alle bürgerlichen Parteien zu einer Einheitsfront zusammengeführt haben. […] Gerade in den letzten Tagen ist bekanntlich die Möglichkeit eines Austritts der Bayerischen Volkspartei aus der Reichsregierungskoalition wegen der finanzpolitischen Konflikte zwischen Bayern und Reich erörtert worden. Der Eintritt einer solchen Eventualität dürfte abhängen von dem größeren oder geringeren Entgegenkommen, das in Berlin gegenüber den bayerischen Wünschen und Ansprüchen gezeigt wird. Ob z. B. die Koalitionstreue der genannten Partei der Belastungsprobe eines Steuervereinheitlichungsgesetzes in seinem jetzigen Inhalt gewachsen sein würde, möchte mehr als zweifelhaft erscheinen.“ (Bericht Haniels vom 20. 10. mit Sichtvermerk von Marx, R 43 I /2248 , Bl. 111–117). Die bayer. Wünsche und Beschwerden wurden von der RReg. in der Ministerbesprechung vom 21. 10. erörtert; siehe Dok. Nr. 322, P. 1.

gez. Dr. Pünder 19. 10.

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