1.14.1 (wir2p): Allgemeine Lage.

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 2Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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Allgemeine Lage.

Der Reichskanzler berichtet über seinen Besuch bei Lloyd George2, sodann über die Besprechungen, die er im Anschluß daran mit Tschitscherin gehabt [714] hat. Bei den Besprechungen mit Tschitscherin sind folgende Punktationen festgesetzt worden:

2

In den Akten des AA findet sich abschriftlich eine unsignierte Aufzeichnung über diese Unterredung, hier datiert vom 19.4.1922, 12–14 h. Danach hatten an dieser Besprechung in der Villa de Albertis in Quarto bei Genua auf deutscher Seite Wirth, Rathenau, von Maltzan und Dufour, auf britischer Seite Lloyd George, Sir Philipp Lloyd Greame und die Sekretäre Sir Maurice Hankey und Sir Edward Grigg teilgenommen. Das Protokoll verzeichnet u. a.: „Lloyd George eröffnete die Unterredung mit dem Hinweis auf Äußerungen, die M. Barthou über den deutsch-russischen Vertrag getan habe und schilderte, daß es sein ernstestes Bestreben gewesen sei, die Genua-Konferenz zu einem Erfolge zu bringen. Es wären ihm von französischer Seite andauernd die größten Schwierigkeiten in den Weg gelegt worden. Er wäre auf dem besten Wege gewesen, diese Schwierigkeiten zu beseitigen, und nun wäre dieser deutsch-russische Vertrag zustande gebracht worden, der drohte, die bisherigen Erfolge einfach zunichte zu machen. Es gäbe für Deutschland nur einen Weg, die Verhältnisse wieder richtig zu stellen, indem Deutschland offen zugäbe, daß ein Fehler gemacht worden sei. In jedermanns Leben, auch in dem Leben der Staaten, wären Fehler nicht zu vermeiden, und im Interesse des Friedens, im Interesse der Reparationserleichterungen, die Deutschland erhoffe, würde es zweckmäßig sein, den Vertrag, den Deutschland mit Rußland geschlossen habe, einfach zurückzuziehen und deutscherseits zu erklären, daß ein neues Abkommen getroffen werden solle mit den übrigen europäischen Staaten und Rußland, widrigenfalls Deutschland natürlicherweise an den Sitzungen der 1. Kommission in russischen Angelegenheiten keinen Platz mehr haben könne. […] Auf den deutsch-russischen Vertrag von Rapallo übergehend, schilderte Herr Rathenau ganz genau die Vorgänge der letzten Woche, wonach unzweifelhaft hervorgeht, daß deutsche Delegierte Vertretern der britischen Delegation unzweideutig zu verstehen gegeben haben, daß wenn Deutschland in mehreren Punkten des Londoner Sachverständigen-Memorandums, die für Deutschland unannehmbar sind, kein Entgegenkommen gezeigt würde, die Deutsche Regierung genötigt sein würde, mit anderen Leuten, also der Sowjet-Regierung, ein Abkommen zu treffen, damit Deutschland nicht in die unangenehme Lage komme, zwischen zwei Stühlen zu sitzen für den Fall, daß die übrigen Staaten Europas, besonders die Entente-Staaten, ohne Deutschland zu einem Abkommen mit der Sowjet-Regierung gelangen würden. Die 1. Kommission der Genua-Konferenz habe nur eine Plenarsitzung gehabt und dann wäre, ohne die deutschen Vertreter zu befragen, seitens der vier zur Genua-Konferenz einladenden Mächte zu privaten Besprechungen übergegangen worden, zu denen auch ein- oder zweimal, so lauteten die erhaltenen Nachrichten, Vertreter der Sowjetregierung geladen worden wären. Von zuverlässiger Seite wäre der Deutschen Delegation mitgeteilt worden, daß ein Abschluß zwischen den erwähnten vier Staaten und Rußland bevorstehe, und so wäre der Deutschen Regierung nichts anderes übrig geblieben, aus Selbsterhaltungsgründen einem Abkommen mit Rußland selbst näher zu treten. Dieses Abkommen hätte schon vor mehreren Wochen in Berlin zu einem Abschluß kommen können. Aber die Deutsche Regierung habe den Wunsch gehabt, ganz unbeeinflußt und ohne Präjudiz nach Genua zu kommen, um in offenster und loyalster Weise mit allen anderen Nationen die in Genua auftauchenden Fragen auf gleicher Basis mit den anderen Ländern zu verhandeln. Nicht Deutschland habe diesen Weg verlassen, sondern die Entente-Staaten, die den allgemeinen Verhandlungstisch verließen und es vorzogen, private Unterhaltung hinter dem Rücken zumal Deutschlands zu führen. – Was den deutsch-russischen Vertrag selbst anbelange, so könne an eine Zurückziehung desselben natürlicherweise unter keinen Umständen gedacht werden. Aber es ließe sich vielleicht irgend ein anderer Modus finden um den Vertrag einzuverleiben in irgend welche Abkommen, die die andern Staaten mit Rußland vielleicht treffen werden (hierzu schüttelte Lloyd George den Kopf und meinte, daß ein derartiger Weg kaum empfehlenswert wäre). […] Nunmehr ergriff der Herr Reichskanzler das Wort, um zu sagen, er habe seit dem 10. Mai 1921 die Leitung der Deutschen Regierung übernommen und habe, das würde wohl niemand bestreiten können, sich die erdenklichste Mühe gegeben, jedes Bestreben zur Befriedigung Europas zu unterstützen. Die Schwierigkeiten, die ihm dabei in den Weg gelegt worden wären in Finanz- und Entwaffnungsfragen, seien geradezu ungeheuerlich gewesen. Es wäre ihm aber sogar gelungen, auch die Entwaffnung in Bayern durchzuführen trotz der enormen innerpolitischen Schwierigkeiten, die ihm dort in den Weg gelegt worden wären. Auch er sei nach Genua von den größten Hoffnungen beseelt gekommen und wäre stark enttäuscht gewesen, als die Entente-Staaten sich zurückzogen und private Unterhaltung pflegten. Es wäre durch diese privaten Verhandlungen ein großes Maß von Mißtrauen bei ihm und den anderen deutschen Delegierten entwickelt worden. Dieses Mißtrauen wäre noch besonders gesteigert worden durch eine Mitteilung, die ihm persönlich und dem Herrn Außenminister von einem Vertreter der italienischen Delegation, Dr. Giannini, der ihn am Freitag, den 14. 4. in halbamtlichem Auftrage, jedenfalls auf Veranlassung des Herrn Schanzer, besucht habe. Her Giannini habe ihm persönlich ganz ausdrücklich gesagt, daß die Entente-Staaten vor einem Abschluß mit Sowjet-Rußland ständen. Darauf habe er sich entschlossen, sofort engere Fühlung mit der russischen Delegation in Rapallo zu suchen. Es hätte am 15. April nachmittags eine lange Unterredung zwischen Freiherrn von Maltzan und Mr. Wise stattgefunden, während welcher Mr. Wise unzweideutig zu verstehen gegeben wurde, daß, wenn Deutschland nicht ein Entgegenkommen in den ihm bedenklich erscheinenden Fragen gezeigt würde, die Deutsche Delegation genötigt sein würde, anderweit Anlehnung zu suchen. Freiherr von Maltzan schilderte dann noch eingehend die Unterhaltung, die er mit Vertretern der britischen Delegation gehabt habe. – Lloyd George sagte darauf, daß die erwähnten englischen Herren gar nicht maßgebende Persönlichkeiten seien. Er habe jedenfalls von den Unterredungen keine Kenntnis gehabt und erhob Vorwürfe, daß man sich nicht gleichzeitig mit seinem Sekretär in Verbindung gesetzt habe.“ (PA, Büro Reichsminister, 5 h adh. 2, Genua Bd. 2).

1.

Lloyd George wünscht Aufhebung des deutsch-russischen Vertrages. Wir haben von dieser Tatsache den Russen Mitteilung gemacht.

2.

Rußland lehnt die Aufhebung ab.

3.

Rußland beabsichtigt, Verhandlungen mit England nicht abzulehnen, um eine England erwünschte Formel zu finden, die nicht in der Aufhebung des Vertrages bestehen kann, die aber einen Aufschub der Anwendung des Vertrages bis nach Beendigung der Konferenz enthalten könnte.

4.

Eine solche Verständigung kann nur in Übereinstimmung mit uns zustandekommen und zwar nicht so, daß Deutschland als der sich weigernde Teil übrig bleibt.

5.

Rußland wird für jede formale Modifikation Konzessionen verlangen und zwar nicht nur für sich, sondern für Deutschland und in Übereinstimmung mit Deutschland.

6.

Sollten die Akte von Genua oder ein Teil dieser Akte in gemeinsamer Übereinstimmung Deutschlands und Rußlands an die Stelle eines Teiles des gegenwärtigen Vertrages treten, so besteht Übereinstimmung, daß die in der betr. Akte nicht enthaltenen Bestandteile des Vertrages in Form einer Sonderabmachung aufrecht erhalten bleibt.

Punkte 3 – 6 sollen den Engländern deutscherseits zunächst nicht mitgeteilt werden. Zu Punkt 3 soll ihnen gesagt werden, daß die Auffassung bestände, daß Rußland geneigt sei, mit England zu verhandeln. Es sei außerdem möglich, den Alliierten zu sagen, daß Teile des Vertrages sehr wohl in eine Generalakte aufgenommen werden könnten, daß aber die restierenden Teile des Vertrages ungeachtet der Generalakte aufrecht erhalten bleiben sollten.

Reichsminister Rathenau berichtet über eine Besprechung, die er soeben mit Lloyd Grean3 gehabt habe. Bei dieser Besprechung habe er, Rathenau, erklärt, der Vertrag könne nicht zurückgezogen werden, erstens, weil dadurch gegen das Prinzip der Heiligkeit der Verträge verstoßen werde, zweitens weil die Russen es auch nicht wollten. Der Engländer habe auf der Zurückziehung des Vertrages insistiert und dies als Voraussetzung dafür bezeichnet, daß Deutschland weiterhin an den Verhandlungen mit den Russen teilzunehmen beabsichtige. Er habe diese Kombination abgelehnt, seinerseits dadurch als möglich bezeichnet, den Vertrag in die Generalakte einzufügen, aber den Vertrag erst nach Genua in Wirksamkeit treten zu lassen. Darauf habe er hinzugefügt, daß er nicht wisse, wie sich die Russen dazu stellen. Dabei habe sich herausgestellt, daß die Engländer der Auffassung seien, daß bei der Weigerung der[715] Aufhebung des Vertrages die Note der Konferenz an Deutschland bestehen bleiben solle4. Es handle sich also bei den Engländern um Alternativvorschläge: Zurückziehung des Vertrages – Beteiligung Deutschlands an den Kommissionsverhandlungen über die Russen, Weigerung der Zurückziehung des Vertrages – Aufrechterhaltung der Konferenznote.

3

Im Original fälschlich Lord Grean.

4

Der Text der Note vom 18.4.22 ist veröffentlicht in der Sammlung von Material über die Konferenz von Genua (RT-Drucks. Nr. 4378 , S. 60, Bd. 373). Es sei nicht gerecht und angemessen – so heißt es in der Note –, „wenn Deutschland, da es ein besonderes Abkommen mit Rußland getroffen hat, an der Diskussion eines Abkommens zwischen ihren Ländern und Rußland teilnehme; sie schließen daraus, daß die deutschen Delegierten, indem sie so handelten, ihren Verzicht auf weitere Teilnahme an der Diskussion der Klauseln eines Abkommens zwischen den verschiedenen, auf der Konferenz vertretenen Ländern und Rußland kundgetan haben.“ In einem Telegramm Wirths für den RPräs. und die Rkei vom 20.4.22 heißt es zur Erklärung der Note: „Gegnerische Kollektivnote verlangt nicht unseren Ausschluß aus der politischen Kommission, sondern besagt nur, daß wir an denjenigen Punkten Tagesordnung der Kommission, die für uns in deutsch-russischem Vertrage bereits geregelt sind, nicht mehr interessiert seien. Dieser Auffassung kann deutscherseits unbedenklich beigetreten werden, schon weil wir dadurch der mißlichen Notwendigkeit enthoben werden, Russen in allen Punkten gegenüber den anderen Mächten zu unterstützen. An der Beratung aller nicht durch unseren Vertrag betroffenen Fragen werden wir auch weiterhin teilnehmen. Soweit Russen ohne uns mit anderen Mächten verhandeln, haben wir Garantie, fortlaufend unterrichtet zu werden. Ihre Auffassung über Tragweite Artikels 2 Vertrages und über Unmöglichkeit der Vorlegung des Vertrages zur Genehmigung wird hier geteilt. Wir werden aber in der Antwortnote auf die naheliegende Unmöglichkeit hinweisen, Vertrag in die von der Konferenz beschlossene Gesamtregelung russischer Frage einzufügen.“ (R 43 I /468 , Bl. 139 f.).

Reichsminister Hermes warnt davor, diese Dinge zu formal aufzufassen und stellt zur Erwägung, ob bei der negativen Haltung Deutschlands nicht zu befürchten sei, daß Lloyd George uns weitere Schwierigkeiten bereite.

Reichsminister Rathenau weist darauf hin, daß in der Tat bei einem Scheitern der Verhandlungen zwischen Alliierten und Russen Lloyd George sehr wohl seinen Unmut an Deutschland auslassen könnte. Im übrigen sei Lloyd George darin unberechenbar, er lasse sich nur von seinen Interessen leiten, Deutschland mißhandeln, dazu habe er jederzeit Gelegenheit.

Es wird zur Besprechung der Antwortnote übergegangen.

v. Maltzan teilt ein soeben eingegangenes Telephonat des Sekretärs von Lloyd George mit, in welchem die Deutschen gebeten werden, den Schluß der deutschen Antwortnote nicht zu hart zu fassen, um die Angelegenheit nicht zu komplizieren.

Geheimrat Gaus verliest den Entwurf der Antwortnote5. Nach Vorschlag des Reichskanzlers und der Reichsminister Rathenau und Hermes werden einige Änderungen im Wortlaut vorgenommen.

5

In den Akten finden sich 3 Entwürfe zur Beantwortung der in Anm. 4 bezeichneten Note vom 18.4.22: eine als erster Entwurf gekennzeichnete Durchschrift, der gegenüber die endgültige Fassung vom 21.4.1922 (siehe RT-Drucks. Nr. 4378 , S. 64, Bd. 373) nur redaktionelle Änderungen aufweist (R 43 I /2451 , S. 1018-1024); 2. ein umfangreicherer Entwurf mit dem Vermerk „aus Genua von Herrn StS Dr. Hemmer, 24.5.22“, der stärker auf die Vorgeschichte des Vertrages und die durch die Verhandlungen der übrigen Mächte mit Rußland unter Ausschluß Deutschlands geschaffene Situation der dt. Delegation eingeht (R 43 I /2451 , S. 1026-1036); 3. ein als Material für die Note gekennzeichneter Entwurf, der wesentlich schärfer im Ton gehalten ist und den Abschluß des Rapallovertrages darstellt als eine Notwehrhandlung gegen die Majorisierung der übrigen Konferenzteilnehmer (R 43 I /471 , Bl. 29-32).

[716] Es wird vorgenommen, daß am nächsten Tage eine erneute Kabinettssitzung über die Note stattfinden solle6.

6

Am 20.4.1922 um 10 h findet in Genua eine halbstündige Sitzung statt (anwesend Wirth, Hermes, Schmidt, Hirsch, von Simson, Hemmer, von Maltzan, Müller, Gaus, Weigert, Meinel, Fellinger), in der nach einigen redaktionellen Änderungen beschlossen wird, die letzte Redaktion nach Rückkehr Rathenaus vorzunehmen (R 43 I /2451 , S. 1062).

Schluß der Sitzung: 10 Uhr 30 abends.

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