2.170.6 (lut1p): b) Investigationen.

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b) Investigationen.

Geheimrat Nord berichtete über den Gegenstand. Der Völkerbundsrat habe im September v. J. einen Beschluß gefaßt, dem später einige Ergänzungen hinzugefügt worden seien, und diesen der Deutschen Regierung mitgeteilt6. Der Empfang sei bestätigt, die Prüfung vorbehalten worden. Das Ergebnis der Prüfung sei folgendes:

6

Es handelt sich um den vom Völkerbundsrat am 27.9.24 angenommenen, am 19.3.25 mit Schreiben des Generalsekretärs des VB an das AA amtlich notifizierten „Organisationsplan für die Ausübung des Untersuchungsrechts“ nach Art. 213 des VV (Aktenexemplar des frz. Texts nebst dt. Übersetzung in R 43 I /444 , Bl. 2-23, hier: Bl. 3-6), der die Ablösung der Militärkontrolle durch die Völkerbundskontrolle regeln soll.

Die bedenklichste Bestimmung enthalte der Art. 5 des Protokolls, der sich auf die éléments stables in den Rheinlanden beziehe7; dieser Artikel sei nicht annehmbar. Es sei jedoch nicht notwendig, auf die Beseitigung des Art. 5 hinzuwirken. Es werde vielmehr genügen, den Gegner zu verpflichten, den Art. 5 auf die Rheinlande nicht anzuwenden. Die Gegenseite sei sich der Schwierigkeiten, die in diesem Artikel lägen, bewußt. Der Völkerbundsrat habe sich in späteren Sitzungen wiederholt mit dieser Frage befaßt, ohne jedoch einen neuen Beschluß zu fassen8.

7

Art. V des „Organisationsplanes für die Ausübung des Untersuchungsrechts“ lautet: „In den vom Rat festgelegten Fristen und mit seiner Zustimmung können die Vorsitzenden der Untersuchungsausschüsse an solche Punkte der entmilitarisierten Zonen, an denen die Kontinuität der Untersuchung sich als notwendig erweisen sollte, gewisse ständige Elemente [im frz. Text: „éléments stables“] abordnen.“

8

Über den historischen Entwicklungsgang der Investigationsfrage berichtet Nord in einer Aufzeichnung vom 14.10.25: Nach Annahme des Organisationsplanes (s. Anm. 6) und Beratung von Einzelfragen (Führung des Vorsitzes in den Untersuchungsausschüssen, Frage der éléments stables) auf der Tagung in Rom im Dezember 1924, sei die endgültige Ausarbeitung auf der Genfer Tagung im März 1925 erfolgt. Dabei sei aber die Frage der éléments stables vertagt worden. Der Völkerbundsrat habe sodann im Juni 1925 den Beschluß gefaßt, „daß eine Änderung der internen deutschen Gesetzgebung zur Angleichung an die Bestimmungen des Investigationsplanes nicht erforderlich ist.“ Die Frage der éléments stables sei erneut vertagt und seither nicht wieder behandelt worden. Nord fügt noch hinzu: „Der Völkerbund selbst hat zu den Beschlüssen des Völkerbundsrats über die Investigation keine Stellung genommen. Nach dem Wortlaut des Art. 213 des Vertrags von Versailles gehört sie zur Zuständigkeit des Völkerbundsrats. Die Völkerbundsversammlung hätte sich kraft ihrer allgemeinen Befugnisse mit der Investigationsfrage befassen können, sie hat aber darauf verzichtet.“ (R 43 I /444 , Bl. 94 f.).

General von Seeckt hielt die Auffassung des Geheimrats Nord für zu optimistisch. Er sei der Meinung, daß der Art. 5 ausdrücklich auf die Rheinlande[660] zugeschnitten sei, und es müsse ausdrücklich festgestellt werden, daß wir diesen Artikel nicht anerkennen könnten.

Geheimrat Nord wies darauf hin, daß der Art. 5 keine Mußvorschrift, sondern nur eine Kannvorschrift enthalte. Es genüge also, die Gegenseite zu verpflichten, von dieser Kannvorschrift keinen Gebrauch zu machen.

Ein Beschluß wurde nicht gefaßt.

Geheimrat Nord ging sodann auf die Investigation für das übrige unbesetzte Gebiet ein. Das Protokoll ginge hier von einer falschen Auffassung aus. Nach dem Versailler Vertrage kämen für die militärische Kontrolle Deutschlands durch den Völkerbund nur Untersuchungen ad hoc in Betracht9. Das Investigationsprotokoll sähe jedoch regelmäßige dauernde Investigationen vor, und zwar auch dann, wenn keine Verdachtsmomente für flagrante Verfehlungen vorlägen10. Dies widerspreche dem Art. 213 des Versailler Vertrages.

9

Art. 213 des VV: „Solange der gegenwärtige Vertrag in Kraft bleibt, verpflichtet sich Deutschland, jede Untersuchung zu dulden, die der Rat des Völkerbundes mit Mehrheitsbeschluß für notwendig erachtet.“

10

Bezieht sich wohl auf eine vom Völkerbundsrat am 14.3.25 beschlossene, am 19. 3. an das AA übermittelte Zusatzbestimmung zum Investigationsprotokoll (s. Anm. 6), in der die Vollmachten der Untersuchungsausschüsse des Völkerbundes wie folgt definiert werden: Die Untersuchungsausschüsse werden ermächtigt, „alle Maßnahmen zu treffen, welche sie für notwendig oder geeignet halten, um sich zu vergewissern, a) daß die Rekrutierung, die Organisation, der Effektivbestand und die Ausrüstung der Armee, der Marine, der Polizei und anderer ähnlicher Organisationen den Bestimmungen des betreffenden Friedensvertrages entsprechen, b) daß keine Vorbereitung getroffen wird, um das Militär- oder Marinepersonal zu mobilisieren“, […] d) daß die Gesetzgebung des Landes […] die Übereinstimmung mit den Militär-, Marine- und Luftbeschränkungen des entsprechenden Friedensvertrages gewährleistet, und daß diese Gesetzgebung gehörig befolgt wird.“ (S. die Anlage zum Schreiben Drummonds an AA vom 19.3.25 in R 43 I /444 , Bl. 2-23, hier: Bl. 7 und 484, R 43 I /484 , Bl. 329-332).

Es sei nun aber auch hier nicht erforderlich, auf Beseitigung der Bestimmungen des Protokolls hinzuwirken. Es werde genügen, wenn die Gegenseite verpflichtet werde, die Untersuchungen, die auf Grund des Protokolls vorgenommen werden sollen, zeitlich, örtlich und sachlich in vernünftiger Weise zu beschränken. Nur in zwei Punkten müsse allerdings eine Abänderung erzielt werden. Die geforderte unmittelbare Unterstellung deutscher Behörden unter die Kontrollkommissionen und die Forderung des Haussuchungsrechts11 sei unannehmbar und auch unvereinbar mit deutschem Recht. Derartige Rechte habe auch nicht einmal die bisher tätig gewesene Militärkontrollkommission innegehabt. Dem Völkerbundsrat sei übrigens bekannt, daß diese Forderungen mit deutschem Recht unvereinbar wären.

11

In der Zusatzbestimmung (s. Anm. 10) zum Investigationsprotokoll des Völkerbundsrates heißt es hierzu: „Das bevollmächtigte Ministerium hat der Kommission alle Auskünfte oder Schriftstücke zu liefern, welche die Kommission zu dem Zwecke fordern wird, um sich zu vergewissern, daß die Klauseln über die Entwaffnung […] innegehalten werden. Alle übrigen Ministerien müssen […] alle Archive und die gesamte in ihrem Besitz befindliche Korrespondenz […], insbesondere detaillierte Listen über den genauen Lagerort und die Menge der Waffen, Munition und Kriegsmaterialien, sowie die Etats, die auf den wirklichen Effektivbestand der Einheiten Bezug haben, zur Verfügung des Ausschusses stellen.“ Alle all. Verbindungsstellen seien durch die zuständigen Ministerien mit Vollmachten auszustatten, „durch die ihnen volle Befugnis gegenüber den Militär-, Marine- oder Zivilbehörden oder jedem Privatmann gegenüber erteilt wird, die geeignet ist, den Rechten des Untersuchungsausschusses Geltung zu verschaffen.“

[661] Ein weiteres Bedenken liege noch darin, daß das Investigationsprotokoll, das nicht nur für Deutschland, sondern auch für die übrigen besiegten Staaten gelte, Deutschland in keinem Falle gestatte, den Untersuchungskommissionen anzugehören. Wenn man auch natürlich nicht fordern könne, daß Deutschland einer Kommission gegen Deutschland angehören dürfe, so sei es doch wohl vertretbar, für Deutschland einen Sitz in Kommissionen zu sichern, die in anderen Ländern Kontrollhandlungen vornehmen sollen.

Nach Einleitung der allgemeinen Aussprache über die Investigationen durch den Herrn Reichskanzler führte General von Seeckt aus: Das Wehrministerium stehe auf einem anderen Standpunkt als Geheimrat Nord. Das Protokoll sei insofern von größerer Bedeutung, als es für die Dauer des Versailler Vertrages eine Einrichtung treffen wolle, die in diesem nicht vorgesehen sei und deren Befugnisse über diejenigen der Interalliierten Militär- und Kontrollkommission hinausgingen. Das Netz der neuen Kommission sei viel engmaschiger als das der alten Kommission. Gegen den ganzen aus dem Protokoll hervorgehenden Geist müsse Protest erhoben werden, da er demjenigen widerspreche, dem wir im Versailler Vertrage zugestimmt hätten, da uns vor allem zugemutet werde, Nachträge hinzunehmen, die man versäumt habe, in den Vertrag mit aufzunehmen. Daher sei die Zustimmung deutscherseits außerordentlich bedenklich. Es sei widersinnig, jetzt nach Schluß der Entwaffnung eine strengere Kontrolle hinzunehmen als zuvor vorhanden war und die aus dem Vertrage nicht hergeleitet werden könne. Die durchsichtige Absicht sei die, eine dauernde Industriespionage bei uns einzurichten, namentlich hinsichtlich der chemischen Industrie. Erschwerend komme hinzu, daß in den Oberausschuß im Gegensatz zu früher Polen und Tschechen hineindelegiert werden könnten12. Es müsse eine Regelung verlangt werden etwa derart, daß uns mitgeteilt werde, bei irgendeiner Stelle seien Beschwerden über Verstöße gegen bestimmte Bestimmungen des Versailler Vertrages eingegangen. Wir würden uns dann bereit erklären können, die Richtigkeit der Beschwerden in einer Form nachprüfen zu lassen, über die noch zu verhandeln wäre. Uns müsse genau mitgeteilt werden, was, warum und zu welcher Zeit geprüft werden solle. Das ergäbe sich ohne weiteres aus Artikel 213.

12

Während nach Art. 208 des VV bisher lediglich die all. „Hauptmächte“ Vertreter in den „Interalliierten Hauptüberwachungsausschuß“ (IMKK) delegieren konnten, sieht Art. III des Investigationsprotokolls (s. Anm. 6) nun vor: „Jeder nicht dem Rate angehörende Nachbarstaat eines Staates, der sich auf Grund eines Friedensvertrages diesem Nachbarstaat gegenüber verpflichtet hat, sich der Untersuchung zu unterwerfen, wird für jede in diesem Plan vorgesehene Frage, die sich auf Untersuchungen in diesem Staate bezieht, im Ständigen Rüstungsausschuß vertreten sein. Der Ständige Rüstungsausschuß ist vom Rate beauftragt, die Organisierung der von letzterem beschlossenen Untersuchungen vorzubereiten.“

Der Reichskanzler wirft ein, daß man dann voraussichtlich zu einer Art Prüfungskommission kommen werde, wie sie in den Londoner Verhandlungen geschaffen worden sei13. Es könnte daran gedacht werden, daß die Gegenseite ein Organ schaffe, dem wir im Wehrministerium ein Gegenorgan gegenüberzustellen[662] hätten, das Auskunft zu geben hätte. Reiche diese nicht aus, dann würde durch Beschluß des Völkerbundsrats eine Untersuchung im konkreten Einzelfalle anzuordnen sein.

13

Luther bezieht sich offenbar auf die im Londoner Abkommen vom 16.8.24 vorgesehenen Schiedsgerichte für die Beilegung von Streitigkeiten über die Durchführung des Dawes-Plans (RGBl. II, S. 291 ).

Der Reichswehrminister hält für zweifelhaft, ob ein derartiger Vorschlag von unserer Seite gemacht werden solle. Die Entente habe neben dem offiziellen ein großes geheimes Spionagenetz. Von dem Ergebnis der Ermittlungen des letzteren mache sie zwar keinen Gebrauch, weil dadurch leicht die Organisation klargelegt werden könnte. Derartige Geheimorganisationen würden aber wesentlich gefördert, wenn ein Organ der vom Reichskanzler vorgeschlagenen Art sich konstituieren könnte. Es würde auch auf eine Erneuerung und Fortsetzung der Militär- und Kontrollkommission hinauslaufen. Man müsse auf den Wortlaut des Artikel 213 zurückgehen, d. h. eine Untersuchung nur gestatten, wenn ein konkreter Anlaß bestehe. Nicht der Reichskanzler solle Vorschläge irgendwelcher Art machen, sondern sie von einer Kommission von Sachverständigen beider Seiten überlegen und ausarbeiten lassen. Auf das Überraschungsmoment brauche kein entscheidendes Gewicht mehr gelegt zu werden. Besonders sei auf die Verhütung der Industriespionage zu achten; Spezialsachverständige bestimmter Industrien würden der Reihe nach in Offiziersstellungen und -uniformen als Beauftragte der Kontrollkommission die Industrie ausspionieren. Es müsse eine Formel etwa des Inhalts gefunden werden, daß erst wenn irgendein konkreter Anlaß oder begründeter Verdacht gegeben und bewiesen sei, eine Kontrolle gestattet werde.

General von Seeckt: Es sei ein Unterschied, ob die Kontrolle auf alle Fälle je zwei Monate des Jahres lang durchgeführt werde, ohne Rücksicht auf bestimmten Anlaß, oder ob erreicht werden könne, daß sie nur bei bestimmtem Anlaß tätig werde. Eine Kontrolle könne uns nur auf Grund des Artikel 213 auferlegt werden und bedürfe daher unserer Zustimmung. Wir können nicht anerkennen, daß jede Auslegung des Art. 213 von uns hingenommen werden müsse. Träten wir in den Völkerbund ein, so würden wir damit restlos und widerspruchslos das Investigationsprotokoll akzeptieren.

Geheimrat Nord legt unter Verlesung der Formulierung des Auswärtigen Amtes dar, daß dessen Standpunkt sich von dem des Reichswehrministeriums gar nicht wesentlich unterscheide.

Der Reichskanzler weist darauf hin, daß in jedem Falle aber der Wortlaut des Investigationsbeschlusses bestehen bleibe, der freilich durch seine Einleitungsworte „Lorsque le Conseil le décidera“14 gemildert werde.

14

Aus dem einleitenden Satz des Investigationsprotokolls, der in dt. Übersetzung wie folgt lautet: „Die in den Artikeln 213 des Vertrages von Versailles, 159 des Vertrages von St. Germain, 143 des Vertrages von Trianon und 104 des Vertrages von Neuilly vorgesehenen Untersuchungen müssen sich, wenn der Rat es beschließt, auf die in den genannten Verträgen etwa vorgesehene Entmilitarisierung von Gebieten, ferner auf alle Bestimmungen dieser Verträge, die das Militärwesen zu Lande, zu Wasser und in der Luft betreffen, […] beziehen können.“

General von Seeckt leitet aus dem Schreiben aus Genf vom 19.3.192515 her, daß ein Beschluß des Völkerbunds voraussichtlich nicht notwendig sein werde.

15

S. Anm. 10.

[663] Der Reichswehrminister mahnt zu größter Vorsicht, da wiederholt die Erfahrung gemacht worden sei, daß Dinge, die dem Wortlaut nach harmlos ausgesehen hätten, hernach gegen uns ausgelegt worden seien.

Geheimrat Nord regt an, den Versuch zu machen, den General Desticker, der für die Kommission in Aussicht genommen sei, auszuschalten.

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