1.30.1 (lut2p): [Unterzeichnung des Schlußprotokolls, Paraphierung des Sicherheitspakts und der Schiedsverträge]

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[Unterzeichnung des Schlußprotokolls, Paraphierung des Sicherheitspakts und der Schiedsverträge]

Ganz geheim!

Herr Chamberlain eröffnet um 6 Uhr 30 die unterbrochene Sitzung wieder und teilt mit, daß das Schlußprotokoll und die Paktentwürfe vorlägen. Die Unterschriften unter das Schlußprotokoll und die Paraphierung des Paktentwurfes werden in alphabetischer Reihenfolge vorzunehmen sein.

Herr Berthelot verliest den Wortlaut des Schlußprotokolls.

Das Schlußprotokoll wird unterzeichnet und die dazu als Anlage gehörigen Paktentwürfe werden paraphiert1.

1

Paraphiert wurden folgende Paktentwürfe: Anlage A: Vertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien (Sicherheitspakt); Anlage B: Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Belgien; Anlage C: Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Frankreich; Anlage D: Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Polen; Anlage E: Schiedsabkommen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei. Bestandteil des Vertragswerks ist ferner die gleichfalls paraphierte all. Erklärung zu Art. 16 der Völkerbundssatzung (Anlage F). Das Vertragswerk ist gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 26; RGBl. 1925 II, S. 977 ; Berber, Fritz: Locarno. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 12; Ursachen und Folgen, Bd. VI, Dok. Nr. 1344; Schultheß 1925, S. 436 ff.

[776] Herr Chamberlain stellt fest, daß sämtliche Exemplare von allen Delegierten unterschrieben bzw. paraphiert worden sind.

Herr Stresemann nimmt darauf das Wort zu folgenden Ausführungen: In dem Augenblick, in dem die Paraphierung der hier getätigten Verträge erfolgt ist, wollen Sie mir im Namen des Herrn Reichskanzlers und in meinem eigenen Namen gestatten, einige Worte zu Ihnen zu sprechen. Die deutschen Delegierten stimmen dem Text des Schlußprotokolls mit seinen sechs Anlagen zu und haben das durch die Paraphierung zum Ausdruck gebracht. Aufrichtig und freudig begrüßen wir die große Entwicklung des europäischen Friedensgedankens, die von dieser Zusammenkunft in Locarno ihren Ausgang nimmt und als der Vertrag von Locarno einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Weiterentwicklung der Staaten und Völker zueinander ausmachen soll. Wir begrüßen insbesondere die in dem Schlußprotokoll der Konferenz niedergelegte Anschauung der festen Überzeugung von jener Entspannung in den Beziehungen der Völker und jener Erleichterung der Lösung so vieler politischer und ökonomischer Fragen, die hierdurch abgeschlossen werden soll. Wir haben die Verantwortung für die Paraphierung der Verträge übernommen, weil wir des Glaubens sind, daß nur auf dem Wege friedlichen Nebeneinanderlebens jene Entwicklung der Staaten und Völker gesichert werden kann, die für keinen Erdteil so wichtig ist wie für das große europäische Kulturland, dessen Völker so unendlich durch die Jahre, die hinter uns liegen, gelitten haben. Wir haben sie insbesondere übernommen, weil wir zu dem Vertrauen berechtigt sind, daß politische Auswirkungen der geschlossenen Verträge insbesondere auch dem deutschen Volke in der Form der Erleichterung seiner Bedingungen des politischen Lebens zugute kommen werden. So wichtig die Abmachungen sind, die hier ihre Fassung erhalten haben, so werden die Verträge von Locarno doch nur dann ihre tiefe Bedeutung in der Entwicklung der Nationen behalten, wenn Locarno nicht das Ende, sondern der Anfang einer Periode vertrauensvollen Zusammenlebens der Nationen sein wird. Daß diese Möglichkeiten und daß die auf das Werk gesetzten Hoffnungen sich auswirken mögen, ist der aufrichtige Wunsch, dem die deutschen Delegierten in dieser bedeutungsvollen Stunde Ausdruck geben möchten.

Herr Briand hielt darauf folgende Ansprache:

Als Vertreter Frankreichs lege ich Wert darauf, mich aus vollem Herzen zu den Empfindungen zu bekennen, denen der deutsche Delegierte Ausdruck gegeben hat. Es würde Unrecht von mir sein, wenn ich nicht die mutige Geste, welche den Ausgangspunkt zu dieser Konferenz bildete, wieder in die Erinnerung rufen und begrüßen würde. Ich vergesse nicht das Memorandum vom 9. Februar, das die Deutsche Regierung auf die Initiative des Herrn Stresemann an die Französische Regierung richtete. Das war der Ausgangspunkt unserer Arbeiten, und diese Tat, der ich meine Anerkennung zolle, hat zu dem Ergebnis geführt, das wir heute zu verzeichnen haben.

Ich habe soeben die Verträge und Abmachungen paraphiert, die in Locarno vorbereitet worden sind. Damit ist mein Mandat zu Ende. Ich spreche jetzt also nur für mich persönlich, aber mit der Gewißheit, nicht nur die Auffassung meiner Regierung, sondern auch die der großen Mehrheit meiner Landsleute auszudrücken.[777] Wenn wir hier nur über die Bestimmungen eines Vertrages verhandelt hätten, und wenn wir im Anschluß daran jeder in sein Land zurückkehren würden, indem wir es den glücklichen Zufällen überließen, die Versprechungen, die der Vertrag enthält, zu realisieren, hätten wir nur eine leere Geste gemacht. Wenn diese Geste nicht einem neuen Geiste entspricht, wenn sie nicht den Anfang einer Epoche des Vertrauens und der Zusammenarbeit bezeichnet, wird sie nicht die großen Folgen zeitigen, die wir von ihr erwarten. Von Locarno muß ein neues Europa anheben. Die Herren Luther und Stresemann, mit denen ich außerhalb dieser Konferenz offiziöse Besprechungen gehabt habe, worin wir uns offen ausgesprochen haben, haben mir gesagt, mit welchen Hoffnungen sie das Werk betrachteten, das hier vollzogen wurde, und ich habe ihnen mit vollständiger Loyalität erwidert.

Zwischen unseren beiden Ländern bleiben noch Reibungsflächen; es bestehen noch schmerzliche Punkte. Der hier unterzeichnete Pakt muß ein Balsam auf diese Wunden sein. Die noch bestehenden Schwierigkeiten müssen applaniert werden.

Herr Stresemann hat mit einer Diskretion, für die ich ihm dankbar bin, auf gewisse Gegenden seines Landes Bezug genommen, an denen sich zu desinteressieren, Sie nicht das Recht haben. Auch ich darf mich an ihnen nicht desinteressieren.

Ich bin sicher, daß Frankreich die ganze Tragweite dieses Paktes verstehen wird, und daß es gewillt sein wird, alles, was in seinen Kräften steht, zu tun, damit aus ihm ein Gefühl der Befriedung und der Entspannung zwischen uns hervorgeht. Den Vertretern Frankreichs wird es am Herzen liegen, sobald als möglich – soviel an ihnen liegt – dafür zu sorgen, daß zu unserem Teile die Bedingungen erfüllt werden, die zwischen unseren beiden Ländern eine Politik weitgehender Entspannung und, wie ich hoffe, auch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit ermöglichen werden.

Dann können wir, wenn erst die noch zu lösenden Fragen geregelt sind, gemeinsam auf allen Gebieten arbeiten, um unser Ideal eines Europa zu verwirklichen, das sein Schicksal erfüllt, indem es allem treu bleibt, was seine Vergangenheit an Zivilisation und Vornehmheit enthält. In diesem Geiste sind wir alle hierher gekommen.

Ich hoffe, daß unsere beiden Länder bald die Wohltaten dieser Politik erkennen werden und daß nicht lange Zeit vergehen wird, bis wir die glücklichen Wirkungen des Schriftstückes verzeichnen können, das wir soeben paraphiert haben.

Herr Chamberlain sagt, er wolle den Erklärungen von Herrn Briand, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hätten, seinerseits eine Erklärung hinzufügen: er trete den Wünschen, die die Vorredner für den Erfolg und die Wirkung der Konferenz ausgesprochen hätten, in vollem Umfange bei. Was die Delegierten hier heute unternommen hätten, das sei nicht das Ende, sondern der Anfang einer Entwicklung.

Herr Vandervelde gibt sodann folgende Erklärung ab: Als Vertreter Belgiens trete ich mit tiefer Bewegung den Worten bei, die wir soeben gehört haben. Jeder unter uns, die wir hier versammelt sind, ist glücklich und stolz, zu[778] seinem Teile – mag er auch noch so bescheiden sein – an dem bedeutenden Ereignis teilgenommen [zu] haben, das sich soeben vollzogen hat.

Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat jeder sein möglichstes getan, und man kann nicht nachdrücklich genug der klarsehenden Loyalität eines Chamberlain, dem nachdrücklichen Friedenswillen eines Briand, der juristischen Wissenschaft eines Scialoja und – ich möchte hierauf ganz besonders Gewicht legen – dem entschlossenen Mut Anerkennung zollen, mit dem die Herren Luther und Stresemann die wahren und dauernden Interessen Deutschlands gegenüber denjenigen ihrer Landsleute, die mehr auf die Vergangenheit als auf die Zukunft sehen, zu verteidigen gewußt haben. Aber der große Antrieb, der uns zu diesem Ziele geführt hat, das ist die ungeheure Sehnsucht der Völker, und zwar aller Völker, nach gegenseitiger Annäherung und nach Frieden.

Unter den Mitgliedern dieser Konferenz bin ich der einzige, der den Vertrag von Versailles gezeichnet hat. Ich habe ihn mit ruhigem Gewissen gezeichnet, weil er meinem Lande die wiedererworbene Unabhängigkeit und sein Recht auf legitime Reparationen sicherte. Obwohl es schon sechs Jahre her sind, steht mir noch die Szene vor Augen, wo Männer, die dasselbe soziale Ideal haben wie ich, die Zustimmung Deutschlands unter den Zwang der Notwendigkeit brachten. Heute dagegen ist es ein Gefühl der Freiwilligkeit und Gemeinsamkeit, mit dem wir diesen Vertrag abschließen. Er bringt Opfer für niemanden mit sich. Allen sichert er Vorteile, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln werden.

Aber von heute ab ist es ein Ereignis von unberechenbarer moralischer Tragweite, daß die Völker, die die Geißel des Krieges erduldet haben, die geheiligte Verpflichtung auf sich nehmen, nicht mehr zur Gewalt zu greifen und ihre gegenseitige Garantie unter die souveräne Garantie des Völkerbundes zu stellen, wo es keine Feinde gibt, wo es keine Besiegten und Sieger gibt, sondern Völker, die sich unter dem Zeichen der Gleichheit vereint haben. Die künftigen Beziehungen dieser von jetzt ab vereinten Völker werden durch den natürlichen Lauf der Dinge in Zukunft wesentlich verschieden sein von dem Zustand der Vergangenheit. Bisher herrschte unter ihnen Mißtrauen, gegenseitige Furcht, die die Ursachen waren für Härten und Schikanen. Von morgen ab, des bin ich fest überzeugt, wird eine Entspannung, wird Zutrauen und moralische Entwaffnung eintreten. – Bedingungen, die notwendig und hinreichend sind für die tatsächliche Entwaffnung.

Herr Stresemann hatte, indem er diese Tatsache feststellte, uns von seinen Hoffnungen gesprochen. Ich schließe mich den Herren Briand und Chamberlain an, um auch meinerseits das Pfand unseres guten Willens darzubringen.

Herr Mussolini gibt seiner Freude Ausdruck, daß er sich an dem Werke, das heute vollendet worden sei, beteiligen könne. Die Arbeiten der Konferenz seien fruchtbar gewesen und auch die Methode der Geheimhaltung, die sie gewählt habe, habe sich als vorteilhaft und als nützlich für die Herstellung persönlicher Fühlungnahme erwiesen. Der Vertrag werde Wirklichkeit werden, und eine neue Epoche werde anbrechen.

Herr Chamberlain schlägt vor, den Wortlaut eines Telegramms an die Schweizer Regierung festzusetzen.

[779] Herr Berthelot verliest den Wortlaut eines Telegrammentwurfes.

Der vorgeschlagene Entwurf wird angenommen.

Herr Briand spricht im Namen seiner Kollegen Herrn Chamberlain den Dank aus für den Takt und die Liebenswürdigkeit, mit denen er die Verhandlungen geführt habe.

Herr Chamberlain erwidert, es wäre ihm eine große Freude gewesen, dieser Konferenz vorsitzen zu dürfen.

Schluß der Sitzung 7 Uhr 30.

gez. von Dirksen

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