2.210.1 (ma11p): [Lage der Ruhrindustrie.]

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[Lage der Ruhrindustrie.]

Geheimrat Klöckner berichtete über die Lage des Ruhrarbeiterstreiks1. Falls der Schiedsspruch am Donnerstag [29. 5.] für verbindlich erklärt werde und die Arbeit in der darauffolgenden Woche aufgenommen werden sollte2, würden für den Kohlenbergbau und die Eisenindustrie ca. 100 Millionen Mark zur Verfügung zu stellen sein, um die Betriebe in Gang zu bringen. Ohne eine Kredithilfe in dieser Höhe würden die Betriebe nicht in Gang gebracht werden können. Dabei seien die Eisenwerke in einer ganz besonders schlimmen Lage, da sie jede Tonne mit einem Verlust von ca. 30 GM verkaufen müßten. Die Lage der gesamten Eisenindustrie sei überhaupt kaum noch lange haltbar. Die Verteuerung der Produktionskosten ergäbe sich insbesondere aus vier Momenten:

1

Die folgenden Forderungen und Argumente Klöckners sind in ausführlicherer Form dargelegt in einer fünfseitigen Aufzeichnung zur Lage der Ruhrindustrie, die Klöckner bei dieser Besprechung dem RK übergibt (in der Anlage zum Protokoll).

2

Zur Beilegung des Arbeitskonflikts im Ruhrbergbau hatte der RArbM ein behördliches Schlichtungsverfahren eingeleitet und eine Schlichtungskommission unter Präs. Syrup eingesetzt, die am 27. 5. einen Schiedsspruch fällte. Hinsichtlich der Mehrarbeit übernimmt der Schiedsspruch die Bestimmungen des abgelehnten Schiedsspruches vom 16. 5. (vgl. Dok. Nr. 198, Anm. 6), sieht jedoch für Kokereiarbeiter gewisse Erleichterungen vor. Die Löhne werden ab 1. 5. um 15%, ab 1. 6. um weitere 5% erhöht. Diese Regelung soll bis zum 30.9.24 unkündbar gelten (Text des Schiedsspruchs in R 43 I /2122 , Bl. 147 f.; vgl. Schultheß 1924, S. 34). Die Unternehmer lehnen den Schiedsspruch vor allem wegen der Lohnerhöhungen ab, die Bergarbeiterverbände nehmen ihn mit Ausnahme des freigewerkschaftlichen Bergarbeiterverbandes an. Am 29. 5. erklärt der RArbM den Schiedsspruch für verbindlich. „Schiedsspruch entspricht der Billigkeit und zeigt einzig möglichen Weg, Produktion Ruhrkohlenbergbaus sofort wieder in Gang zu bringen, was im Interesse gesamten Wirtschaftslebens unbedingt notwendig ist.“ (Telegramm des RArbM vom 29. 5. an Zechenverband und Bergarbeiterverbände, R 43 I /2122 , Bl. 150). Die Unternehmer unterwerfen sich dem Schiedsspruch, nachdem ihnen vom Reich Überbrückungskredite zugesagt worden sind (vgl. unten Anm. 5). Auch der sozialistische Bergarbeiterverband spricht sich am 30. 5. wie die übrigen Verbände für die Wiederaufnahme der Arbeit aus. Damit ist der Arbeitskampf im Ruhrbergbau beendet.

1. Die Steuern seien zu hoch; Steuern und soziale Lasten machten zur Zeit mehr als 13% des gesamten Verkaufspreises aus.

2. Die Frachten seien zu hoch; bei Frachtsätzen, die das Vierfache des Friedens darstellten, könnte die Eisenindustrie nicht existieren.

3. Die Arbeitsleistung sei zu gering; bei achtstündiger Arbeitszeit und den langen[668] Unterbrechungen infolge Streiks sei es ganz unmöglich, rentabel zu arbeiten3.

3

Zu diesem Punkt heißt es in der anliegenden Aufzeichnung (s. Anm. 1): „Was die Ausstände in Deutschland dem Arbeiter und der Wirtschaft gekostet haben, weiß die Reichsregierung. Arbeiterausstände in allen Ecken des Dt. Reiches, überall 3, 4, selbst 10 bis 12 Wochen, dann wird wieder angefangen, entweder zu denselben Bedingungen oder zu Kleinigkeiten mehr. Die Verluste sind aber da für beide Teile. Es ist Aufgabe der Staatsregierung, diese Kämpfe zu beseitigen und endlich durch Gesetz festzulegen, wie die Arbeitszeit dauernd – wenigstens für die ersten 4 Jahre des Reparationsprogramms – sein muß. […] Das Gutachten der Sachverständigen darf nicht angenommen werden, wenn die Regierung nicht gleichzeitig festlegt, daß während der Dauer des Gutachtens, also während der Dauer dieser enormen Lasten, länger gearbeitet werden muß.“

4. Die Zinssätze seien zu hoch; ein ordentlicher Kaufmann könne es nicht verantworten, Gelder zu höheren Sätzen als vielleicht 12% hereinzunehmen. Zinssätze in Höhe von 60% und mehr, wie sie in letzter Zeit gefordert worden seien, seien ganz untragbar.

Geheimrat Klöckner ging schließlich auf die Micum-Verträge ein und brachte zum Ausdruck, daß die Werke nicht in der Lage seien, nach dem 15. Juni ohne Bezahlung weitere Reparationsleistungen zu tätigen4. Die Micumlasten müßten von der Regierung übernommen und von ihr auf alle tragfähigen Schultern verteilt werden. Der Kohlenbergbau werde dann auch in der Lage sein, die Kohlenpreise herabzusetzen.

4

Am 15. 6. läuft das am 15. 4. verlängerte Abkommen zwischen der Micum und dem Ruhrkohlenbergbau ab (vgl. Dok. Nr. 173, Anm. 3 letzter Absatz).

Der Reichskanzler brachte zum Ausdruck, daß die augenblickliche parlamentarische Lage es sehr erschwere, zu den gestellten Fragen Stellung zu nehmen. Immerhin werde auch die gegenwärtige geschäftsführende Regierung den Fragen ihre größte Aufmerksamkeit zuwenden, und es sei sicherlich notwendig, daß die einzelnen Fragen erwogen und soweit als möglich einer endgültigen Lösung zugeführt würden.

Dr. Silverberg wünschte, daß diesmal die Verhandlungen mit Frankreich über die Handhabung der Micumverträge rechtzeitig aufgenommen würden. Die Verhandlungen könnten nicht wieder so überstürzt geführt werden wie im April. Die in Paris erforderlichen Vorstellungen sollten diesmal nicht durch den Botschafter mündlich erfolgen, sondern durch eine schriftliche Note.

Was die innere wirtschaftliche Lage anlange, so sei vor allen Dingen notwendig, daß die Verordnung über die Geschäftsaufsicht sobald als möglich aufgehoben werde.

Fritz Thyssen betonte vor allem, daß es notwendig sei, in Deutschland mehr zu arbeiten. Ohne eine Mehrarbeit wäre die Durchführung des Sachverständigen-Gutachtens unmöglich. Die Forderung auf Annahme des Sachverständigen-Gutachtens und ein gleichzeitiges Festhalten am Achtstundentage stelle in sich einen Widerspruch dar.

Es wurde beschlossen, die Frage der Finanzierung der gewünschten Kredite für den Kohlenbergbau und die Eisenindustrie in einer sofort anschließenden Besprechung zwischen den Vertretern der Ruhrindustrie, der Reichsbank und[669] den zuständigen Reichsressorts zu behandeln5. Die Frage der Micumverträge soll Freitag, den 30. Mai, vormittags 11 Uhr, in der Reichskanzlei in einer Vorbesprechung erörtert werden6.

5

Über diese Besprechung vermerkt Grävell am 29. 5., daß in der Frage der Finanzierung der Ruhrindustrie zwecks Wiederaufnahme der Arbeit grundsätzliches Einverständnis erzielt worden sei. Für den Kohlenbergbau würden ca. 45 Mio GM benötigt. Die RP habe sich bereit erklärt, 15 Mio GM in bar und 10 Mio GM in Reichsschatzwechseln als Darlehn zu geben. Die Reichsversicherungsanstalt (für Angestellte) habe 10 Mio GM Kredit in Aussicht gestellt; es solle geprüft werden, ob sie nicht einen größeren Betrag geben könne. Den von der Eisenindustrie benötigten Kredit von 5 Mio Dollar werde die Golddiskontbank übernehmen, sofern die Werke in der Lage seien, rediskontfähige Wechsel vorzulegen (R 43 I /2122 , Bl. 160.).

6

In dieser Besprechung am 30. 5. fordern die Vertreter des Ruhrbergbaus, die RReg. müsse die bevorstehenden Verhandlungen über eine Verlängerung des Micum-Abkommens selbst führen und dem Ruhrbergbau die Anweisung geben, daß er von sich aus mit der Micum nicht mehr verhandeln solle. Jarres erklärt dazu namens der RReg., das gegenwärtige geschäftsführende Kabinett könne eine solche Anweisung nicht erteilen. Vögler könne aber dem Micum-Präs. Frantzen gegenüber erklären, daß der Bergbau nicht mehr in der Lage sei, die Micum-Lasten zu tragen und ein Abkommen über den 15. 6. hinaus abzuschließen. Auf diese Weise würde Zeit gewonnen, um mit der neuen frz. Reg. in direkte Verhandlungen einzutreten (Protokoll in R 43 I /454 , Bl. 210-212).

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