1.1.6 (ma31p): 6. Der Streit um die Reichswehr und der Sturz des Kabinetts

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

6. Der Streit um die Reichswehr und der Sturz des Kabinetts

Am 8. Oktober 1926 wurde der langjährige Chef der Heeresleitung v. Seeckt auf Antrag des Reichswehrministers Geßler von Hindenburg verabschiedet86. Dieser Vorgang signalisierte in gewisser Hinsicht eine Kursänderung in der Reichswehrpolitik der Weimarer Zeit, denn mit dem Abgang Seeckts und der Ernennung des konzilianten Generals Heye zu seinem Nachfolger kamen diejenigen Kräfte in der Reichswehrführung zum Zuge, die im wohlverstandenen Eigeninteresse der Wehrmacht ein engeres, kooperatives Verhältnis zur zivilen Exekutive der Republik herzustellen wünschten. In der Bendlerstraße war man zu der Überzeugung gelangt, daß die geheimen Pläne für einen langfristigen Ausbau des 100 000-Mann-Heeres und für eine effektive Organisation des Grenz- und Landesschutzes unter den gegebenen Umständen nicht im Alleingang, sondern nur mit Zustimmung und aktiver Mitwirkung der Reichsregierung durchgeführt werden konnten. Ein aufschlußreiches Zeugnis für die veränderte Einstellung der militärischen zur zivilen Führung ist das Protokoll der Ministerbesprechung vom 29. November 1926, in der der Wehrminister sowie die Chefs der Heeres- und der Marineleitung erstmals das Gesamtkabinett über ihre Auffassungen und Ziele informierten. Geßler führte dabei aus, daß das Heer „stets in der Lage sein müsse, den Kern, gewissermaßen das Lehrbataillon, eines modernen Heeres abzugeben“ und daß insbesondere im Osten[XLIII] des Reiches „gewisse über den Friedensvertrag hinausgehende Sicherungsmaßnahmen“ unerläßlich seien. Da es bei der Durchführung der 1923 mit Severing vereinbarten Grenz- und Landesschutzvorbereitungen in Preußen zu ernsthaften Differenzen zwischen Militär- und Zivilbehörden gekommen war, kündigte Geßler, um für die Zukunft klare Verhältnisse zu schaffen, dem Kabinett die Vorlage eines neuen Programms mit den vordringlichen Grenzschutzmaßnahmen an. „Das Kabinett habe dann zu entscheiden, inwieweit es diese Maßnahmen politisch tragen wolle.“ Geßler versicherte, daß die Reichswehr sich strikt an das vom Kabinett zu beschließende Programm halten werde87.

86

Dok. Nr. 87, P. 1.

87

Dok. Nr. 130, P. 1.

Die bemerkenswerte Bereitwilligkeit der Reichswehrführung, auch gegen den Friedensvertrag verstoßende Rüstungsvorhaben wie die Organisation des Grenzschutzes künftig unter die politische Verantwortung der Reichsregierung zu stellen, entsprang nicht zuletzt dem Wunsch nach Absicherung gegen die Kritik, die in zunehmendem Maße von der Preußenregierung, der SPD und einem Teil der Presse an der unkontrollierten Eigenmacht der Reichswehr, ihrer zweifelhaften Republiktreue und ihrer illegalen Tätigkeit geübt wurde. Einer der ersten Vorstöße ging von dem sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Löbe aus. In einem Presseartikel schlug Löbe vor, die Einstellung von Freiwilligen in die Reichswehr durch zivile Parlamentskommissare überwachen zu lassen, um auf diese Weise den Einfluß rechtsgerichteter, republikfeindlicher Organisationen (Stahlhelm, Wehrwolf u. a.) auf die Rekrutierung auszuschalten und die Wehrmacht zu einem zuverlässigen Instrument der Republik umzuformen. Die Reichswehrführung lehnte diesen Vorschlag mit dem Argument ab, daß die vorgeschlagene Regelung zur Politisierung der Reichswehr führen und die Schlagkraft der Truppe untergraben würde. Nach der auch vom Kabinett gebilligten Auffassung des Wehrministeriums sollte die Rekrutierung wie bisher in der Hand der Truppenkommandeure bleiben. Der von Löbe monierte Einfluß der nationalistischen Verbände auf die Auswahl des Heeresersatzes wurde energisch bestritten. Man verwies auf die geltenden Gesetzesbestimmungen und Befehle, wonach jedes Zusammenwirken der Wehrmacht mit politischen Vereinigungen wie auch jede militärische Betätigung von Verbänden verboten waren88.

88

Dok. Nr. 96; siehe auch die diesbezüglichen Ausführungen des RWeM Geßler in Dok. Nr. 99, P. 3 und des Chefs der Heeresleitung Heye in Dok. Nr. 130, P. 1.

Die offiziell untersagten und dementierten, aber dennoch existierenden Beziehungen der bewaffneten Macht zu den paramilitärischen Organisationen der Rechten bildeten auch weiterhin einen Hauptansatzpunkt der sozialdemokratischen Kritik. Nachdem führende SPD-Vertreter in einer Unterredung mit Marx, Geßler und Stresemann den Komplex der illegalen Reichswehraktivitäten unter Betonung ihrer schädlichen Folgen für die Innen- und Außenpolitik zur Sprache gebracht hatten, übermittelte die SPD-Fraktion am 6. Dezember dem Wehrminister eine Sammlung ihres einschlägigen Beweismaterials89. Daraus ging hervor, daß die Reichswehr in den preußischen Ostprovinzen, aber auch in anderen Teilen des Reichs mit Hilfe des Potentials der rechten Wehrverbände seit Jahren auf die Schaffung einer getarnten Heeresreserve hinarbeitete, daß sie zu diesem Zweck die Wehrkreise mit[XLIV] einem Netz von Sonderbeauftragten (Kreisoffizieren) überzog, die militärische und wehrsportliche Ausbildung von Verbandsangehörigen organisierte, geheime Waffenlager unterhielt und bei der Wirtschaft außeretatmäßige Gelder beschaffte90. Außerdem enthielt das SPD-Material detaillierte Angaben über die geheime rüstungstechnische Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Sowjetarmee, soweit sie den Sozialdemokraten bekannt geworden war, insbesondere über die Erzeugung von Giftgas und die Errichtung einer Junkers-Flugzeugfabrik in der Sowjetunion91 sowie über die in letzter Zeit erfolgten russischen Munitionslieferungen an die Reichswehr. Die SPD-Führer forderten Geßler auf, die illegalen Reichswehrverbindungen umgehend offenzulegen und zu liquidieren, andernfalls würden sie das in ihren Händen befindliche Material „zur Verwendung bringen“.

89

Dok. Nr. 138.

90

Zur Zusammenarbeit der Reichswehr mit rechtsgerichteten Verbänden im Rahmen des Grenz- und Landesschutzes siehe auch das vom 6.11.1926 datierte Schreiben des PrIM Grzesinski an den PrMinPräs. Braun: Dok. Nr. 163, Anlage 2.

91

Zur Abwicklung der Beziehungen der Reichswehr und der Reichsregierung zu den Junkerswerken siehe Dok. Nr. 16, P. 6; 38, P. 3; 43, P. 2; 152, P. 6; 162, P. 6.

Geßler hatte die Prüfung der ihm mitgeteilten Beschwerden zugesagt, doch hegte die SPD offenbar Zweifel an der Bereitschaft des Ministers, mit der militärischen Geheimpolitik reinen Tisch zu machen und die sozialdemokratischen Forderungen, die auf eine wirksamere parlamentarische Kontrolle der Wehrmacht abzielten, zu erfüllen. Hinzu kam, daß die SPD-Fraktion zu diesem Zeitpunkt auf eine prinzipielle Klärung des Verhältnisses zwischen Koalition und Opposition drängte. Das Zusammengehen der Regierungsparteien mit den Deutschnationalen bei der Verabschiedung des „Schund- und Schmutzgesetzes“ und die rhetorischen Ausfälle des DVP-Fraktionschefs Scholz gegen die SPD und den Plan einer Großen Koalition nahm die SPD-Fraktion zum Anlaß, um am 9. Dezember die vor einem Monat mit dem Kanzler getroffene Kooperationsvereinbarung aufzukündigen und zu erklären, daß sie demnächst bei der dritten Lesung des Nachtragsetats im Reichstag eine grundsätzliche „Entscheidung über die künftige Gestaltung der Reichsregierung“ herbeiführen wolle. Das Kabinett suchte nun nach Möglichkeiten, wie die Gefahr einer Regierungskrise abgewendet und wie eine außen- und militärpolitische Plenardebatte vermieden werden könne, die den Ministern wegen der schwebenden internationalen Verhandlungen über die Beendigung der alliierten Militärkontrolle ganz unerwünscht sein mußte. Um die SPD zum Einlenken zu bewegen, erklärten sich auf Drängen des Reichskanzlers sämtliche Regierungsparteien einschließlich der zögernden DVP zu Verhandlungen mit der Sozialdemokratie über die Bildung der Großen Koalition bereit92. In einer Besprechung zwischen Regierungsmitgliedern und der SPD-Fraktionsführung am Spätnachmittag des 15. Dezember schien sich auch eine Verständigung anzubahnen. Doch am Abend des gleichen Tages faßte die sozialdemokratische Fraktionsmehrheit einen Beschluß, der als Vorbedingung für Verhandlungen über die Große Koalition den freiwilligen Rücktritt der gesamten Reichsregierung forderte. Dieses Verlangen wurde vom Kabinett und den Koalitionsparteien einhellig abgelehnt. Der Vorschlag der Fraktionsvorsitzenden der DVP und der BVP, dem möglichen Sturz der Regierung durch sofortige Verhandlungen mit den Deutschnationalen zuvorzukommen, stieß auf den Widerspruch[XLV] des Kanzlers. Die Entscheidung über das Schicksal des Minderheitskabinetts mußte nun im Parlament fallen. In der Reichstagssitzung vom 16. Dezember – wenige Tage, nachdem Stresemann die Genfer Vereinbarung über das Auslaufen der alliierten Entwaffnungskontrolle ausgehandelt hatte – hielt Scheidemann im Auftrag der SPD-Fraktion eine scharfe Rede gegen die vertragswidrigen Beziehungen der Reichswehr zu republikfeindlichen Organisationen und zur Roten Armee, forderte eine „Reform der Reichswehr an Haupt und Gliedern“ und kündigte einen Mißtrauensantrag seiner Fraktion gegen die Reichsregierung an. Die Rechtsparteien warfen Scheidemann Landesverrat vor. Aber auch die Abgeordneten der Mitte, namentlich des Zentrums und der Demokraten, die sich zuvor für die Große Koalition ausgesprochen und auch eine engere Bindung der Reichswehr an die Republik befürwortet hatten, tadelten die Scheidemannrede und die ultimative Taktik der SPD als eine schwer begreifliche politische Torheit. Am 17. Dezember wurde der sozialdemokratische Mißtrauensantrag von einer heterogenen Oppositionsmehrheit aus SPD, Deutschnationalen, Kommunisten und Völkischen angenommen. Das Kabinett Marx III demissionierte und wurde von Hindenburg mit der einstweiligen Fortführung der Geschäfte beauftragt93. Der Sturz der Regierung leitete die dritte „Weihnachtskrise“ in ununterbrochener Folge ein.

92

Dok. Nr. 141, P. 4 und 5142; 152, P. 2; 153; 155; 156, P. 2; 157.

93

Dok. Nr. 158161. Zu den Vorgängen, die zum Sturz des Kabinetts Marx III führten, vgl. Stürmer, S. 162 ff.; Haungs, Reichspräsident u. parlamentarische Kabinettsregierung, S. 116 ff.; Winkler, Der Schein der Normalität, S. 295 ff.; v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 389 ff.

Extras (Fußzeile):