2.209.1 (ma31p): 1. Italienisch-südslawischer Streitfall.

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1. Italienisch-südslawischer Streitfall1.

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Die ital. Reg. hatte am 19.3.27 die Regierungen in London, Paris und Berlin darauf hingewiesen, daß Jugoslawien neuerdings umfangreiche militärische Vorbereitungen treffe, die gegen Albanien gerichtet seien. Die jugoslaw. Reg. hatte diesen Vorwurf entschieden zurückgewiesen und ihrerseits den Vorschlag gemacht, die Angelegenheit durch eine internationale Militärkommission untersuchen zu lassen. Siehe dazu: ADAP, Serie B, Bd. V, Dok. Nr. 7, 11, 12 und 14; Schultheß 1927, S. 321 ff., 419 ff.; Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 124 ff.

Außerhalb der Tagesordnung teilte der Reichsminister des Auswärtigen mit, daß am Vormittage der englische Botschafter im Auftrage des britischen Außenministers Chamberlain bei ihm vorgesprochen habe2, um anzufragen, ob Deutschland bereit sei, in dem italienisch-albanischen Streitfall zusammen mit England und Frankreich zu vermitteln. Die Jugoslawische Regierung habe in ihrem Parlament erklärt, daß Jugoslawien bereit sei, von einer aus Vertretern neutraler Großmächte gebildeten Kommission eine Untersuchung des militärischen Rüstungsstandes des Landes vornehmen zu lassen. Von dieser Tatsache ausgehend, habe Chamberlain die Initiative ergriffen und durch die britischen Botschafter in Paris und Rom gleichzeitig denselben Schritt unternehmen lassen, wie ihn heute der britische Botschafter Deutschland gegenüber getan habe. Über die Stellungnahme Italiens und Frankreichs sei noch nichts bekannt. Der britische Botschafter habe aber in Aussicht gestellt, daß er darüber im Laufe des Nachmittags höchstwahrscheinlich nähere Mitteilungen werde machen können.

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Siehe die Aufzeichnung Schuberts über eine Besprechung mit dem brit. Botschafter Sir Ronald Lindsay am 24.3.27, in: ADAP, Serie B, Bd. V, Dok. Nr. 26.

Der Reichsminister des Auswärtigen erbat eine Aussprache des Kabinetts über die von ihm gegenüber der britischen Anregung zweckmäßig zu beachtende Einstellung. Er selbst glaubte anraten zu können, auf die Anregung grundsätzlich einzugehen. Das Anerbieten bedeute eine Verbeugung vor der Unparteilichkeit Deutschlands und bringe einen beachtlichen Prestigezuwachs mit sich. Eine ablehnende Haltung werde ohne Verursachung von Verstimmungen schwer zu begründen sein. Voraussetzung für eine deutsche Beteiligung sei allerdings, daß Italien mit der vorgeschlagenen Lösung einverstanden sei und daß auch Frankreich die Anregung günstig aufnehme.

Staatssekretär Meissner erklärte, daß der Herr Reichspräsident nach der ersten flüchtigen Unterrichtung über die Angelegenheit von einer etwaigen Beteiligung Deutschlands nicht sehr erbaut sei. Er befürchte, daß Deutschland sich in unnötiger und unerwünschter Weise die Unzufriedenheit der bei dem Streitfall[655] unterliegenden Partei zuziehen werde. Indessen habe der Herr Reichspräsident zur Sache noch nicht endgültig Stellung genommen3.

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Zur Stellungnahme des RPräs. siehe ADAP, Serie B, Bd. V, Dok. Nr. 29, Anm. 2.

Der Reichskanzler zeigte sich geneigt, der britischen Anregung entgegenzukommen, wobei er von ähnlichen Erwägungen, wie der Reichsminister des Auswärtigen sie vorgetragen hatte, ausging. Ob man allerdings deutsche Offiziere mit der Aufgabe betrauen könne, werde ausschlaggebend von der Haltung der anderen Mächte abhängen.

Der VizekanzlerHergt äußerte starke Befürchtungen, daß der Streitfall sich möglicherweise zu einem ernsten Konflikt auswachsen könne und meinte annehmen zu müssen, daß auch in Frankreich und England mit einem solchen Ausgang gerechnet werde, und daß man Deutschland nur deshalb beteilige, damit es in die befürchtete Verwicklung hineingezogen werde. Er empfinde bei der ersten Prüfung der Angelegenheit erhebliche gefühlsmäßige Hemmungen. Die Verhältnisse in Deutschland lägen nun einmal so, daß der außenpolitische Kurs stark von innerpolitischen Rücksichten abhängig sei. Innenpolitisch werde eine Beteiligung Deutschlands nicht gut aufgenommen werden.

Der Reichswehrminister schloß sich der Stellungnahme des Vizekanzlers an. Auch bei ihm herrsche das Gefühl vor, daß größte Zurückhaltung geboten sei. Es komme hinzu, daß das Heer eine Kontrolle durch aktive deutsche Offiziere nur sehr ungern übernehmen werde, solange eine französische und englische Besatzung auf deutschem Boden stehe. Man müsse daher schon an inaktive Offiziere denken.

Der Reichsarbeitsminister stellte an den Reichsminister des Auswärtigen die Frage, wie Rußland sich voraussichtlich zur Sache stellen werde. Jedenfalls riet er dringend ab, daß das Kabinett schon jetzt in der Sache Stellung nehme.

Der Reichsminister des Auswärtigen meinte, daß man sich in der vorliegenden Frage von der Innenpolitik unabhängig machen müsse. Er glaube auch die aus einer Beteiligung Deutschlands an der Untersuchungsaktion etwa drohende Gefahr berechtigter Unzufriedenheit der streitenden Parteien nicht allzu hoch veranschlagen zu müssen, da ja nicht Deutschland, sondern Chamberlain die Initiative ergriffen habe. Dadurch, daß er als derzeitiger Vorsitzender den Völkerbundsrat nicht einberufen habe, habe Deutschland mit genügender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, daß es sich von sich aus in den Streit der Parteien nicht einmischen wolle. Jugoslawien werde eine Beteiligung Deutschlands wahrscheinlich gern sehen, weil wir sachlich nicht interessiert seien, und man werde von uns daher ein neutrales Urteil erwarten können. Rußland sei an dem Streit kaum interessiert, so daß von dieser Seite Schwierigkeiten für die Beziehungen Deutschlands kaum befürchtet werden könnten.

Die Aussprache wurde abgebrochen, ohne eine bestimmte Stellungnahme des Kabinetts ergeben zu haben. Sie wurde einer späteren Beratung vorbehalten, die stattfinden soll, sobald die Haltung Italiens und Frankreichs bekannt ist4.

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Zu den weiteren Verhandlungen über die Beilegung des ital.-jugoslaw. Konflikts siehe: ADAP, Serie B, Bd. V, Dok. Nr. 27, 29, 30, 36 und 47. Die nächste Kabinettsberatung über diese Frage fand am 2.4.27 statt; siehe Dok. Nr. 217.

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