2.169 (ma31p): Nr. 169 Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 18. Januar 1927

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[498] Nr. 169
Aufzeichnung des Staatssekretärs Pünder über Verhandlungen zur Neubildung der Reichsregierung. 18. Januar 1927

Nachl. Pünder, Nr. 95, Bl. 91–82

Der Herr Reichskanzler hat heute die Besprechungen betreffend Regierungsbildung fortgesetzt. Er empfing in nachstehender Reihenfolge folgende Parteiführer:

a) 11 Uhr vorm. Grafen Westarp.

Der Herr Reichskanzler legte dem Grafen Westarp die Frage vor, wie sich die Deutschnationalen zu einer neugebildeten Regierung der Mitte stellen würden, insbesondere auch dann, wenn irgendeine Bindung nach links nicht vorgenommen würde. Graf Westarp erklärte, daß eine Duldung einer Regierung der Mitte, gleichviel in welcher Form, für die Deutschnationalen nicht in Frage käme. Auch die Bildung einer Regierung etwa in der Gestalt Luther I in umgekehrter Form (also einer bürgerlichen Mittelregierung mit à la suite-Stellung der Deutschnationalen unter Entsendung etwa eines Vertrauensmannes in das Kabinett) komme für die Deutschnationalen nicht in Frage. Die Deutschnationalen würden also einer Mittelregierung unter keinen Umständen darin beistehen, parteitaktische und demagogische weitgehende Anträge der Sozialdemokraten niederzustimmen. Die Deutschnationalen seien zu jeder Mitarbeit an der Regierung bereit, aber nur in der festen Form einer Rechtsmehrheitsregierung.

Die Unterhaltung erstreckte sich sodann auch auf die Sonntagsrede des Grafen Westarp, worauf er als den allein authentischen Auszug aus seiner Rede das anliegende Presse-Communiqué überreichte1. Er präzisierte sodann nochmals[499] genau die Einstellung der Deutschnationalen zur gegenwärtigen Staatsform:

1

Graf Westarp hatte am 16.1.27 auf der Reichsangestelltentagung der DNVP eine Rede gehalten. Nach einem Bericht der deutschnationalen Pressestelle führte Westarp u. a. aus: „Das Zentrum meine immer noch, sozialpolitische Gesetze müßten mit der Sozialdemokratie gemacht werden. Im Interesse des Landes sei eine solche Politik nicht mehr möglich. Darüber habe er auch den übrigen Parteien keinen Zweifel gelassen, daß die Deutschnationale Volkspartei sich auch in Zukunft nicht dazu mißbrauchen lassen werde, die Schaffung der sozialpolitischen Gesetze mit der Sozialdemokratie zu ermöglichen. Diese Dinge seien mit den Deutschnationalen zu regeln. Unter dem Druck der Dawesgesetze sei allerdings eine durchgreifende soziale Hilfe nicht möglich. Ein wirksamer sozialer Aufstieg werde auch nur dann möglich sein, wenn das, was im Lande verbraucht werde, auch dort produziert werde. Ein wirklich durchführbares soziales Wirtschaftsprogramm müsse die Grundlage aller sozialen Gesetzgebung bilden. Die Sozialdemokratie verstehe unter Sozialpolitik nur die Fürsorge für die Handarbeiter; sie denke antisozial, indem sie das Volk in zwei einander bekämpfende Klassen trenne. […] Besonders wichtig sei die ausgleichende Arbeit der Vertreter der einzelnen Stände und Berufe in der Deutschnationalen Volkspartei. Bei all den wirtschaftlichen Aufgaben, bei all den Kompromissen, die darüber gefunden werden müßten, liege der letzte Wert der Partei und ihrer Arbeit in dem einigenden Band der Ziele und Ideale, die in dem sozialen, christlichen und national-völkischen Dreiklang des deutschnationalen Parteiprogramms zusammengefaßt seien. Die Deutschnationalen wollten vor allen Dingen der Jugend und der Elternschaft den christlichen Charakter der Schule und Erziehung sichern. Hinsichtlich der nationalen Ziele der inneren und äußeren Politik unterschied Graf Westarp klar zwischen den augenblicklichen Staatsnotwendigkeiten einerseits und den letzten Grundsätzen und den ferneren Zukunftszielen der Partei andererseits. Hinsichtlich der letzteren wies er auf das Parteiprogramm und auf dasjenige hin, was auf dem Parteitag in Köln und seitdem wiederholt ausgesprochen worden ist. Auf die liebevolle Erinnerung an die großen Taten und Persönlichkeiten unserer Geschichte, wie sie durch den bevorstehenden Gedenktag der Errichtung des Deutschen Reiches wachgerufen wird, können wir ebensowenig verzichten wie auf die Überzeugung, daß wir letzten Endes, wenn auch vielleicht erst in fernerer Zukunft, die Befreiung von fremdem Wesen und fremder Herrschaft, die den Kernpunkt unseres Programms bildet, nur im Anschluß an die bewährte Überlieferung unserer Geschichte werden erreichen können.“ (Parlamentsdienst der Telegraphen-Union vom 17.1.27; Nachl. Pünder , Nr. 95, Bl. 95).

1.

Abänderung der gegenwärtigen Reichsverfassung nur auf streng gesetzlichem Wege.

2.

Anerkennung und loyale Durchführung der bestehenden Verfassung.

3.

Ein Unterschied gegenüber anderen bürgerlichen Parteien bestehe nur hinsichtlich des Tempos und des Ausmaßes etwaiger Abänderungswünsche bezüglich der Verfassung.

4.

In der praktischen Ausführung dieser Reformarbeit zu 3) sei aber über die Art des Vorgehens mit Leichtigkeit mit ihnen eine Einigung zu erreichen.

b) 12.30 Uhr mittags Abgeordneter Prälat Leicht:

Die Große Koalition sei für die Bayerische Volkspartei ausgeschlossen. Das erstrebenswerte Ziel sei für sie die Bürgerliche Mehrheitsregierung. Sie sei aber auch bereit zur Bildung einer Regierung der Mitte ohne Bindungen nach links.

c) Eine gleichfalls für den heutigen Tag vorgesehene Besprechung mit der Wirtschaftspartei war nicht möglich, da die beiden Vorsitzenden Abg. Drewitz und Professor Bredt nach meinen Feststellungen von Berlin abwesend sind.

Der Reichskanzler hatte zwischendurch eine orientierende Besprechung mit Herrn Reichsarbeitsminister Brauns und eine ebensolche telephonische mit Herrn Reichsaußenminister Dr. Stresemann. Gegen 3 Uhr nachm. orientierte der Herr Reichskanzler Herrn Abgeordneten Dr. Scholz von der negativen Einstellung der Deutschnationalen zu einer etwaigen Regierung der Mitte.

d) Auf Wunsch des Herrn Reichskanzlers hatte der Unterzeichnete in den Mittagsstunden eine erneute eingehende Aussprache mit Herrn Abgeordneten Hermann Müller. Der Unterzeichnete hat dabei ausgeführt, der Herr Reichskanzler lege vor der entscheidenden Vorstandssitzung der Sozialdemokratischen Fraktion größten Wert auf nochmalige Hervorhebung folgender Umstände:

Er erstrebe ernstlich eine Regierung der Mitte. Alle Nachrichten über einen vollzogenen Umschwung der Verhältnisse innerhalb des Zentrums nach rechts seien völlig falsch. Allerdings erscheine es nach Lage der Sache ausgeschlossen, irgendwelche Bindungen mit der Sozialdemokratie bei Schaffung der Regierung der Mitte einzugehen. Die Sozialdemokratie stünde eben vor der Frage, ob sie auch ohne solche bereit sei, die Regierung der Mitte zu stützen. Jedenfalls stünde völlig fest, daß die Regierung der Mitte an ihrem alten Kurse[500] des Ausgleichs und [der] Beachtung der sozialen Notwendigkeiten sowie namentlich auch hinsichtlich der Reichswehrpolitik festhalte. Bezüglich des letzteren Punktes sei zunächst erneut auf die zweite Erklärung des Herrn Reichskanzlers in der letzten Reichstagssitzung bezüglich der programmatischen Punkte der Reichswehrpolitik2 hinzuweisen. Diese 4 Punkte würden mit voller Übereinstimmung des Herrn Reichspräsidenten unter allen Umständen die Richtlinien zur künftigen Reichswehrpolitik sein. Ferner sei hinzuweisen auf die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten vom 31. Dezember über die ungesetzlichen Einstellungen3 sowie den entsprechenden Runderlaß des Reichsministers des Innern4. Hinzu kämen verschiedene Personalveränderungen in den hohen Kommandostellen5. Zu beachten sei ferner die zweifellose Verschlechterung unserer außenpolitischen Lage. Angesichts aller dieser Umstände müsse die Sozialdemokratie anerkennen, daß gegenüber der Zeit des Regierungssturzes sich die Verhältnisse durchaus geändert hätten. Nicht zuletzt sei auch zu beachten, daß damals seitens der Sozialdemokratie um die Große Koalition, heute aber um Verhinderung einer Rechtsregierung gekämpft werde.

2

Erklärung des RK in der Sitzung des RT vom 16.12.26: RT-Bd. 391, S. 8586  f.; vgl. auch Dok. Nr. 160, Anm. 4.

3

Die „Verordnung des Reichspräsidenten über ungesetzliche Einstellungen“ vom 31.12.26 verbot „a) jede Aufnahme junger Leute, die nicht gesetzmäßig eingestellt sind, in die Kasernen, Ausbildungslager und in die Truppenteile, sei es auf Probe oder für frei werdende Stellen, sei es für einen Ausbildungslehrgang oder zur zeitweiligen Erhöhung der Mannschaftsbestände, b) die Vorbereitung und Ausbildung von Reservestämmen im allgemeinen sowie von Reserveoffizieren im besonderen.“ (RGBl. 1927 II, S. 11 ).

4

Gemeint ist anscheinend ein Rundschreiben des RIM an die Landesregierungen, in dem diese aufgefordert wurden, dafür zu sorgen, daß die gesetzlichen Bestimmungen über das Verbot jeder militärischen Betätigung von Vereinen und Verbänden strikt eingehalten werden. Dieses Rundschreiben des RIM wurde in der Presse veröffentlicht, so in DAZ Nr. 21/22 vom 15.1.27.

5

Nach einem Bericht der „Täglichen Rundschau“ vom 16.1.27 über „Personalveränderungen im Reichsheer“ sollten zum 1.2.27 aus dem Heeresdienst ausscheiden: Gen. v. Loßberg, Oberbefehlshaber der Gruppe 1; GenLt. Ernst Hasse, Befehlshaber im Wehrkreis V; GenLt. Edelbüttel, Inspekteur der Infanterie. Zum 1. 2. sollten ernannt werden: GenLt. v. Tschischwitz zum Oberbefehlshaber der Gruppe 1; GenLt. Reinicke zum Befehlshaber im Wehrkreis V; GenMaj. v. Amsberg zum Befehlshaber im Wehrkreis II; Oberst v. Stülpnagel zum Chef des Heerespersonalamts; Oberst Ritter v. Prager zum Inspekteur der Infanterie.

Herr Abgeordneter Hermann Müller versprach, alle diese Gesichtspunkte in den Kreis der Erörterungen seiner Vorstandssitzung zu bringen und dem Herrn Reichskanzler von dem Ergebnis alsbald Mitteilung zu machen6.

6

Siehe Dok. Nr. 171.

Pünder

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