1.158.1 (ma32p): Notlage der Landwirtschaft.

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 7). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

RTF

Notlage der Landwirtschaft1.

1

In einer Interpellation der RT-Fraktionen der Regierungsparteien (DNVP, Zentrum, DVP, BVP) vom 17.1.28 heißt es: „Die deutsche Landwirtschaft ist in höchster Not und am Ende ihrer Kraft. Der Reichsregierung ist dies, wie aus zahlreichen Äußerungen ihrer verantwortlichen Vertreter hervorgeht, bekannt. […] Wir fragen an: Bis wann wird sich die Reichsregierung darüber schlüssig sein, welche sofort wirkenden und welche für die Dauer wirksamen Maßnahmen sie zu treffen gedenkt, um den Untergang der deutschen Landwirtschaft zu verhüten und das deutsche Volk vor dauernder Nahrungsunfreiheit zu bewahren?“ (RT-Bd. 421 , Drucks. Nr. 3869 ).

Der Reichskanzler begrüßte zunächst den Reichswehrminister Groener als neues Mitglied des Reichskabinetts2.

2

Groener war am 19.1.28 zum RWeM ernannt worden; siehe dazu Dok. Nr. 389, Anm. 7.

Sodann machte der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft eingehende Ausführungen über die außerordentliche Notlage der Landwirtschaft im ganzen Reiche, insbesondere in den nördlichen Teilen. Die Gesamtverschuldung bezifferte er auf 7 Milliarden, die jährliche Zinsenlast auf 8–900 Millionen Reichsmark. Der Verlust der Landwirtschaft betrage 1–1¼ Milliarden RM im Jahr3.

3

Angaben über Schulden, Lasten und Verluste der Landwirtschaft enthält die Aufzeichnung „Maßnahmen zur Erleichterung der Kreditnotlage der deutschen Landwirtschaft“, die REM Schiele am 17.12.27 dem StSRkei übersandt hatte (R 43 I /2538 , Bl. 278–301; vgl. Dok. Nr. 326, Anm. 2). Darin wird u. a. ausgeführt: „Die Wurzel dieser gewaltigen Nachkriegsverschuldung (Realschuld 2,67 Milliarden, Personalschuld […] 4,27 Milliarden) liegt in den Jahren 1923 und 1924, wo die in der Zwangswirtschaft im Inventar verarmten, unter dem Schleier der Inflation mit Unterbilanz arbeitenden, durch den Niederbruch der Währung von Betriebskapital entblößten landwirtschaftlichen Betriebe schlagartig die in Gold zu entrichtenden Steuern und die laufenden Betriebsausgaben aufzubringen hatten, wozu die Mittel bei der allgemeinen Kapitalarmut nur zu gewaltigen Zinssätzen und mit großen Disagioverlusten zu beschaffen waren. Die durch ungünstige Ernten und ungünstige Preisverhältnisse geminderten Erträge der folgenden Jahre reichten nicht aus, um neben den hohen Abgaben und Lasten die hohen Zinsen aufzubringen, so daß die Schuld durch nicht bezahlte Zinsen, nicht entlohnte Intensivierungsausgaben und im Kreditweg beschaffte Steuern ständig wuchs, besonders bei den fern von den großen Absatzzentren belegenen Betrieben. […] Ein außerordentlich großer Teil der Nachkriegsschuld ist kurzfristig fällig, ohne daß die Möglichkeit besteht, die Fälligkeiten aus laufenden Erträgnissen zurückzuzahlen oder sie in langfristigen (Real-) Kredit umzuwandeln. […] Noch ernster ist die Gefahr, die sich aus der Höhe der […] Zinslast ergibt. Während der Nominalbetrag der Nachkriegsschuld hinter der Vorkriegsschuld regelmäßig noch zurückbleibt, ist die Zinsenlast höher als in der Vorkriegszeit, denn die Kapitalknappheit hat zu Zinssätzen geführt, die das Doppelte der Vorkriegshöhe betragen und zum Teil noch darüber hinausgehen.“

In dieser schwierigen Lage könne nur durch eine große Auslandsanleihe geholfen werden. Das Reich könne sie wegen Artikel 248 des Versailler Vertrages4[1258] nicht aufnehmen; die provinziellen Verbände würden hierzu berufen sein. Sobald Bindungen in dieser Richtung vorlägen, müsse das Reich mit Zwischenkrediten helfen. Der Reichsbankpräsident halte eine Auslandsanleihe von einer halben Milliarde für die Landwirtschaft für möglich.

4

Siehe Dok. Nr. 399, Anm. 20.

Er verlas den Entwurf einer Erklärung, die er bei den Beratungen seines Etats im Haushaltsausschuß am 21. Januar abgeben wolle5.

5

Der Entwurf dieser Erklärung konnte nicht ermittelt werden.

Staatssekretär Dr. Popitz sprach sich dahin aus, daß die Übernahme der Rentenbankgrundschuldzinsen auf das Reich in der Erklärung nicht erwähnt werden möchte. Das Reich sei nicht in der Lage, die erforderlichen Mittel in den Etat einzustellen6. Die Rückwirkung auf die Industrieobligationen sei bedenklich.

6

Die Verpflichtung der Landwirtschaft zur Zahlung der Rentenbankgrundschuldzinsen war durch das „Gesetz über die Liquidierung des Umlaufs an Rentenbankscheinen“ vom 30.8.24 (RGBl. II, S. 252 ) neu festgelegt worden, das einen Bestandteil der Gesetzgebung zur Durchführung des Dawes-Plans bildete. Die Befreiung der Landwirtschaft von den als besonders drückend empfundenen Rentenbankgrundschuldzinsen gehörte zu den Hauptforderungen der landwirtschaftlichen Organisationen. Auch in der Aufzeichnung des REM vom 17.12.27 über „Maßnahmen zur Erleichterung der Kreditnotlage der deutschen Landwirtschaft“ (siehe oben Anm. 3) wurde vorgeschlagen, die Rentenbankgrundschuldzinsen (insgesamt 100 Mio RM jährlich) den Landwirten „unter geeigneten Voraussetzungen“ zu erlassen und sie auf den Reichsetat zu übernehmen.

Das Reichsfinanzministerium sei bereit, zur Erlangung einer Auslandsanleihe für die Landwirtschaft mitzuwirken und trotz der schwierigen Kassenverhältnisse des Reichs Zwischenkredite zur Verfügung zu stellen, sobald der Eingang der Auslandsgelder in Aussicht stehe.

Der Reichsarbeitsminister sprach sich dagegen aus, daß Abordnungen von Versammlungen empfangen würden, die im Gegensatz zu den bestehenden Organisationen einberufen worden seien. Die Reichsregierung könne nur mit den Spitzenverbänden, gegebenenfalls unter Zuziehung von Vertretern örtlicher Organisationen, verhandeln.

Die Auslandsanleihe müsse für sämtliche Zwecke aufgenommen werden, für die Mittel aus dem Auslande erforderlich seien. Die Reichsregierung müsse schnell und umfassend für die gesamte Wirtschaft handeln.

Der Stellvertreter des Reichskanzlers hielt es für dringend geboten, durch die Erklärung des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft eine Beruhigung, insbesondere der bäuerlichen Besitzer, anzustreben. Die Bewegung unter diesen sei in so raschem Fortschreiten, daß sie möglicherweise in 8 bis 10 Tagen nicht mehr eingedämmt werden könne.

Auf Vorschlag des Reichswirtschaftsministers wurde beschlossen, daß die Erklärung, die der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft am 21. Januar 1928 im Haushaltsausschuß abgeben soll, von diesem, dem Reichsminister der Finanzen und dem Reichswirtschaftsminister formuliert wird.

Das Reichskabinett erklärte sich mit der Erklärung einverstanden, wenn über die Formulierung zwischen diesen 3 Ministerien Einigung erzielt sei7.

7

In einer anschließenden Besprechung, an der Vizekanzler Hergt, RWiM Curtius, REM Schiele und RFM Köhler teilnahmen, wurde der Text der Erklärung des REM vor dem Haushaltsausschuß des RT festgelegt. Sie lautete: „Die Reichsregierung sieht es als ihre Aufgabe an, auf eine Ordnung der landwirtschaftlichen Schuldverhältnisse hinzuwirken, die für die in der rationellen Fortführung bedrohten Betriebe eine Überführung der schwebenden Schulden in langfristigen Kredit herbeiführt und gleichzeitig eine Absenkung der Zinslasten mit sich bringt. Um erststelligen Kredit zu beschaffen, ist für eine pflegliche Behandlung des Pfandbriefabsatzes zu sorgen. Zur Beschaffung und Gewährung von zweitstellig zu sichernden Krediten an bedrängte landwirtschaftliche Schuldner zwecks Umschuldung drückender schwebender Schulden bedarf es erheblicher Mittel, die, wie die Verhältnisse zur Zeit liegen, nur durch Aufnahme von Auslandsanleihen beschafft werden können und die zweckmäßig von territorialen Stellen ausgegeben werden. Die Kredite sind an Betriebe zu gewähren, die zu ihrer rationellen Fortführung dieses Kredites bedürfen und deren rationelle Fortführung bei Gewährung des Kredits zu erwarten ist. Bei der Vergebung der Kredite soll eine Mitwirkung von Gutachtern, die von Selbstverwaltungskörpern bestellt sind, vorgesehen werden. Die Reichsregierung ist bereit, die Erlangung und Ausgabe derartiger Leihgelder seitens öffentlicher Stellen zu unterstützen. Bis diese Gelder flüssig gemacht werden können und so weit auf ihren Eingang gerechnet werden kann, ist die Reichsregierung bereit, im Rahmen des Möglichen Vorschüsse zu gewähren. Sie erwartet, daß bei diesen Maßnahmen auch die Länder eine entsprechende Hilfe eintreten lassen.“ (Besprechungsniederschrift Feßlers und Text der Erklärung in R 43 I /2539 , Bl. 24–25). Siehe dazu die Niederschrift über die 301. Sitzung des Haushaltsausschusses des RT vom 21.1.28.

Extras (Fußzeile):