1.167.1 (ma32p): Kriegsschädenschlußgesetz.

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Text

RTF

Kriegsschädenschlußgesetz.

Ministerialdirektor Dorn trug den Sachverhalt vor und berichtete insbesondere über die bei der Beratung des Kriegsschädenschlußgesetzes im Ausschuß des Reichstags von den Parteien geäußerten Abänderungswünsche1. Die Abänderungswünsche bewegen sich, wie er darlegte, nach verschiedenen Richtungen. Zunächst wird gefordert, daß für den Fall des Festhaltens an dem Charakter des Gesetzes als Schlußgesetz eine Erhöhung des Totalaufwandes für die zu leistenden Entschädigungen2 um rund 300 Millionen Mark vorgesehen wird.[1279] Diese Forderung entspricht im wesentlichen den Anregungen im Gutachten des Reichswirtschaftsrats3. Sodann wird weiter die Gewährung eines sogenannten kleinen Besserungsscheins gefordert. Hiernach soll in das Gesetz eine Bestimmung aufgenommen werden, derzufolge den Geschädigten ein der Höhe nach fest bestimmter Anspruch auf Gewährung einer weiteren Entschädigung gewährt wird. Der Anspruch soll jedoch erst dann in Kraft treten, wenn die Reparationsverpflichtungen Deutschlands endgültig geregelt sind. Die finanzielle Auswirkung einer derartigen Nachentschädigung hat das Reichsfinanzministerium überschläglich auf 2 Milliarden RM berechnet.

1

Der „Entwurf eines Gesetzes zur endgültigen Regelung der Liquidations- und Gewaltschäden (Kriegsschädenschlußgesetz)“ war vom RFM am 15.12.27 dem RT vorgelegt worden (RT-Bd. 420 , Drucks. Nr. 3830 ; Begründung dazu: RT-Bd. 421 , Drucks. Nr. 3855 ). Der RT hatte den GesEntw. am 17.12.27 dem 22. Ausschuß des RT (für Entschädigungsfragen) zur Beratung überwiesen. In den Ausschußberatungen forderten die Parteien, insbesondere auch die Regierungsparteien, eine Erhöhung der im Regierungsentwurf vorgesehenen Entschädigungssätze. Zum Verlauf der Ausschußberatungen über den Entwurf des Kriegsschädenschlußgesetzes siehe den Bericht des 22. RT-Ausschusses vom 19.3.28 (RT-Bd. 422 , Drucks. Nr. 4111 ; hierin auch die Abänderungsanträge der Parteien).

2

Der Gesamtaufwand für die sich aus dem Regierungsentwurf des Kriegsschädenschlußgesetzes (Anm. 1) ergebenden Entschädigungsleistungen wurde vom RFMin. auf ca. 1 Mrd. RM berechnet. Hiervon sollte ein Betrag von 160 Mio RM in den Nachtragshaushalt 1927 eingestellt und zur Abfindung derjenigen Geschädigten verwendet werden, die mit einem Schadensbetrag bis zu 20 000 M einen Anspruch auf Barentschädigung hatten. Die Geschädigten mit höheren Schadensbeträgen sollten ihre Entschädigungen in Form von verzinslichen Schuldbuchforderungen erhalten, für deren Tilgung ein Zeitraum von 19 Jahren vorgesehen war.

3

Gutachten des Vorl. RWiR zum Regierungsentwurf des Kriegsschädenschlußgesetzes: RT-Bd. 421 , Drucks. Nr. 3855 , S. 16 ff.

Schließlich ist von seiten der Parteien des Reichstags noch die Gewährung eines sogenannten großen Besserungsscheins an die Geschädigten angeregt worden. Danach soll den Geschädigten ein Anspruch auf Ersatz ihrer Schäden zugestanden werden, ohne Limitierung hinsichtlich der Höhe und ohne feste Bindung der Reichsregierung hinsichtlich des Zeitpunktes der Zahlung. Auf eine Festlegung dieses Anspruchs im Gesetz wollen die Parteien nötigenfalls Verzicht leisten. Die Parteien wollen sich gegebenenfalls auf eine Entschließung beschränken, derzufolge die Reichsregierung ersucht wird, in jeder möglichen Weise dazu beizutragen, daß den Geschädigten im Rahmen des finanziell irgendwie Möglichen voller Ersatz ihrer Schäden gewährt wird. Die Reichsregierung soll zu dieser Entschließung schon jetzt ihre Zustimmung erklären.

Der Reichsminister der Finanzen führte sodann zur Sache weiter aus, daß er am 30. Januar eine Aussprache mit dem Reparationsagenten4 gehabt habe und daß dieser bei dieser Gelegenheit sich nach den Absichten der Reichsregierung gegenüber den in der Öffentlichkeit geäußerten Forderungen der Liquidationsgeschädigten5 erkundigt habe. Der Reparationsagent habe aus seinen Bedenken gegen die Mehrbelastung des Reichshaushalts keinen Hehl gemacht. Der Reichsminister der Finanzen bat dringend, gegenüber den Mehrforderungen der Parteien nach Möglichkeit an der Regierungsvorlage festzuhalten. Den sogenannten kleinen Besserungsschein erklärte er für unannehmbar. Ebenso hielt er die mit dem großen Besserungsschein verfolgten Ziele für verfehlt. Die Geschädigten seien der Ansicht, daß die Ausstellung des großen Besserungsscheins auch im Interesse der Regierung liege. Diese solle nämlich durch den Hinweis auf die sich daraus für die Reichsregierung ergebenden Verpflichtungen ein Druckmittel zur Erreichung der Reduktion der Reparationslasten in die Hand bekommen. Er meinte, daß mit einem derartigen Druckmittel nur dann operiert werden könnte, wenn man die von der Gegenseite geforderte Summe von 132 Milliarden Reparationslasten zum Ausgangspunkt der Verhandlungen[1280] nehme6. Er halte eine derartige Taktik für durchaus verfehlt. Man müsse, um zu einer erträglichen Reparationslast zu kommen, von einer ganz anderen Basis ausgehen und die Verhandlungen nur darauf aufbauen, was Deutschland wirtschaftspolitisch tragen könne.

4

Gilbert.

5

Siehe insbesondere die „Vorschläge der Arbeitsgemeinschaft für den Ersatz von Kriegs- und Verdrängungsschäden zu einer abschließenden gesetzlichen Regelung der Entschädigungsfrage“, Anschreiben vom 24.3.27 (R 43 I /797 , Bl. 336–346) sowie die „Bemerkungen der Arbeitsgemeinschaft für den Ersatz von Kriegs- und Verdrängungsschäden zu dem dem Reichstag zugegangenen Entwurf eines Kriegsschädenschlußgesetzes“, Anschreiben vom 23.1.28 (R 43 I /799 , Bl. 36–46).

6

Die Summe von 132 Mrd. GM war durch Beschluß der Repko vom 27.4.21 und durch das „Londoner Ultimatum“ der all. Regierungen vom 5.5.21 als Gesamtbetrag der dt. Reparationsverpflichtungen festgesetzt worden. Die Frage, ob diese all. Reparationsforderung noch gültig sei, spielte in der aktuellen, durch den Jahresbericht des Reparationsagenten vom 10.12.27 (siehe Dok. Nr. 381, Anm. 10) neu angefachten Diskussion über die Revision des Dawes-Plans und die Endregelung der dt. Reparationen eine Rolle. Der frz. MinPräs. Poincaré hatte in der Kammerdebatte vom 23.12.27 die Auffassung vertreten, daß die seinerzeit festgelegte Reparationsforderung von 132 Mrd. auch heute noch zu Recht bestehe. Siehe ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 241.

Der Reichswirtschaftsminister führte aus, daß die Bedenken des Reparationsagenten gegenüber der zur Erörterung stehenden Materie die Entschließung der Reichsregierung nicht maßgeblich beeinflussen dürfte, denn der Reparationsagent verfolge in der Sache vorwiegend die wirtschaftlichen Interessen des mit Deutschland konkurrierenden Auslandes. Die dem Reparationsagenten nahestehenden Länder hätten ein vitales wirtschaftliches Interesse daran, das Wiedererstarken des deutschen Außenhandels zu beschränken. Den Liquidationsgeschädigten stehe für ihre Entschädigungsansprüche ein besonders gearteter Rechtstitel zur Seite7. Man könne von einer Naturalobligation sprechen. Schon aus diesem Grunde müsse eine weitgehende Entschädigung Platz greifen. Darüber hinaus aber sei die Entschädigung des in Frage kommenden Personenkreises eine Frage von überaus hoher wirtschaftspolitischer Bedeutung. Die Reichsregierung müsse bis an die äußerste Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit gehen, um das deutsche Auslandsvermögen wiederherzustellen.

7

Vgl. Dok. Nr. 193, Anm. 5.

Der Reichsarbeitsminister widersprach der Auffassung, daß die Reichsregierung die Rechtsansprüche der Liquidationsgeschädigten höher zu werten habe wie die Ansprüche der übrigen Kriegs- und Inflationsgeschädigten. Die Reichsregierung müsse alle diese Kategorien im wesentlichen gleichmäßig behandeln. Sie könne den Anregungen der Interessenten-Vertreter daher nur insoweit folgen, als sie in den Rahmen der Gesamtverpflichtungen Deutschlands hineinpaßten und erfüllbar wären.

Der Reichsminister der Justiz erklärte, daß die Reichsregierung gegenüber den Forderungen der Geschädigten auf Erhöhung der vorgesehenen Entschädigungssumme nicht absolut negativ sich verhalten könne. Es müsse ein Weg gesucht werden, um zu einem Kompromiß zu kommen. Nach seinen Informationen sei bei den Parteien soviel Einsicht vorhanden, daß sie sich auf eine Regelung, die auf eine Mehrbelastung des Haushalts mit Barleistungen hinausliefe, keine besonderen Hoffnungen machten. Auch bei den Parteien denke man in erster Linie wohl nur daran, die Gesamtentschädigungssumme zu erhöhen und die verfügbaren Barmittel in anderer Weise wie vorgesehen zu Teilzahlungen und Amortisationen zu verwenden. Nach seiner Meinung könne die Reichsregierung zu abschließenden Entscheidungen erst dann kommen, wenn sie nach Abschluß der Etatsberatung ein Gesamtbild über die finanzielle Belastung des[1281] Reichshaushalts habe. Den auf die Gewährung des kleinen Besserungsscheins abzielenden Bestrebungen werde die Reichsregierung wohl nicht entsprechen können.

Reichsminister Dr. Stresemann führte aus, daß er dem Reichswirtschaftsminister in der Betonung der hervorragenden wirtschaftspolitischen Bedeutung des Wiederaufbaus des deutschen Handels im Ausland durchaus beipflichte. Hinsichtlich des Rechtscharakters der Ansprüche der Liquidationsgeschädigten teile er aber mehr die Auffassung des Reichsarbeitsministers. Den kleinen Besserungsschein halte er für unmöglich. Bezüglich des großen Besserungsscheins könne die Reichsregierung sich wohl mit der Billigung einer Entschließung des Reichstags, die auf die Zukunft vertröste, abfinden. Im übrigen sei er der Meinung, daß man den Parteien des Reichstags irgendwie entgegenkommen müsse, und daß man zu diesem Zwecke erwägen müsse, ob und inwieweit man sich den Gedankengängen in dem Gutachten des Reichswirtschaftsrats anpassen könne. Er stimme dem Reichsjustizminister darin zu, daß man die Parteien davon überzeugen müsse, daß die Reichsregierung sich über das Maß des möglichen Entgegenkommens erst nach Abschluß der Etatsberatungen schlüssig werden könne.

Der Reichskanzler stellte als Ergebnis der Aussprache fest, daß im Reichskabinett eine Mehrheit für den kleinen Besserungsschein nicht vorhanden sei, daß man sich mit dem großen Besserungsschein jedoch abfinden könne, wenn die Regierungsparteien sich diesbezüglich auf die Annahme einer Entschließung der vom Reichsfinanzministerium bereits vorläufig formulierten Art beschränken wollen. Der Reichsfinanzminister wurde gebeten, tunlichst sofort in eine nähere Prüfung darüber einzutreten, ob und gegebenenfalls inwieweit die Gedankengänge des Reichswirtschaftsrats im Rahmen der finanziellen Gesamtverpflichtungen des Reichs in tatsächliche Leistungen umgesetzt werden könnten. Die Weiterberatung wurde darauf auf Mittwoch, den 1. Februar vertagt8.

8

Siehe Dok. Nr. 410.

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